Eine
der merkwürdigsten und zugleich legendärsten Gestalten des Alten Testaments ist Kain. Kain, der
Ackerbauer, wird in Gen 4,1 als Adams und Evas Erstgeborener
eingeführt. Weil der HERR Kains Opfer von den Früchten des Feldes
nicht annahm und statt dessen das Lammopfer von Kains Bruder Abel
bevorzugte, erschlug Kain seinen Bruder. Zur Strafe vertrieb der HERR
den Kain von seinem Acker und verurteilte ihn zur unsteten
Existenz eines Vogelfreien. Zugleich zeichnete ihn der HERR mit
dem berühmten Kainsmal, das ihn vor gewaltsamem Tod bewahren
sollte. Kain zog gen Osten in das Land Nod, das Land des Wanderns, wo
er heiratete, Kinder zeugte und eine Stadt mit dem Namen seines
ersten Sohns Henoch gründete. Am Ende der Kain-Dynastie stehen
dann Lamech und einige Stammväter diverser archaischer
Berufsgruppen. Damit endet die biblische Geschichte von Kain und
seinen Nachkommen ziemlich abrupt, denn im folgenden Gen 5 wird der
Stammbaum von Adam an noch einmal aufgebaut. Nach dem Fiasko mit Kain
und Abel wird ausgehend von Set der zweite Versuch unternommen, eine
anständige Menschheit zu etablieren.
Diesen
Kain nun hat Jose Saramago zum Titelhelden seines letzten Romans
gemacht, um mit ihm und durch ihn furios mit Gott abzurechnen. Bei
Saramago ist Kain der große Gegenspieler Gottes, der
selbstbestimmte, emanzipierte Mensch. Kain kennt seinen HERRN und
lernt ihn im Verlauf der Handlung immer besser kennen. Schon der Brudermord an Abel ist Vergeltung für die Gefall-
und Eifersucht des HERRN. Da er Gott nicht töten kann, tötet Kain
Gottes Liebling. Das Kalkül ist durchaus perfide: Außer Kain hat
Gott nun keinen Enkel mehr, denn Set ist noch nicht geboren, zu mal
der in diesem Erzählstrang der Genesis gar nicht vorkommt. Gott
kann Kain also nicht umbringen, ohne sein Projekt in Frage zu
stellen. Gottes Strafe ist Kains Ausschluss aus Gottes Volk. Kain
wird zum ersten Homo Sacer, allerdings sichert ihm das so schlecht
beleumundete Kainsmal den Schutz seines Großvaters.
Es
folgt eine Wanderung durch Zeit und Raum. Station gemacht wird bei
Lilith, Verstoßene wie Kain selbst. Lilith, traditionell die
Verkörperung des Dämonischen im Weibe, ist bei Saramago das
Urweib schlechthin, die Männerfresserin, die Femme fatale, die Sexgöttin. Sie
findet in Kain, dem Brudermörder, ihre wahre Bestimmung. Ihr
Mann Noah bleibt eine fast bedauernswerte Randfigur der
Weltgeschichte und zeichnet sich lediglich dadurch aus, dass er
vergeblich versucht, Kain umbringen zu lassen, später aber die Größe
besitzt, seine Stadt nach Liliths und Kains Sohn Henoch zu benennen.
Noah stirbt eines natürlichen Todes. Am anderen Noah, dem
Nachkommen seines Bruders Set, den er nie kennengelernt hat, wird
Kain am Ende der Geschichte seine Rache an Gott zu Ende bringen.
Dazwischen
wird Kain Augenzeuge und auch Protagonist der schändlichsten Untaten
des HERRN an seinen Geschöpfen, die da wären: die angeordnete und
glücklicherweise nicht vollzogene Tötung des eigenen Sohnes durch
Abraham, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha samt der
unschuldigen Kinder, die allgemeine Sprachverwirrung wegen des Turmbaus zu Babel, das göttlich sanktionierte üble Spiel des
Satan mit Ijob, die Eroberung Kanaans unter Josua und die damit
einhergehende Ausrottung der einheimischen Stämme, die
Ermordung der 3000 Israeliten, die in Moses Abwesenheit den Baal
angebetet hatten, schlussendlich die Sintflut. Dabei gelingen dem
großen Erzähler Saramago eindringliche Schilderungen und
bedenkenswerte anthropologische Exkurse. Zweifellos herausragend die
Streitgespräche zwischen Kain und dem HERRN, die letzteren in
der Regel als Verlierer sehen, bis auf das allerletzte, das bis heute
anhält.
Der
Kain Saramagos ist der ewige Rationalist und Aufklärer. Kain ist
ungläubig, weil er weiß, Gott straft die, die ihn anbeten, und
tötet die, die ihn nicht anbeten, bis auf den einen, den er nicht
töten kann, weil der ihn kennt. Kain hat seinen Bruder Abel
getötet, weil er Gott nicht töten konnte. Er tötet danach nie
wieder, bis der HERR selbst ihm die Gelegenheit gibt, die
letzten Menschen zu beseitigen, die naiv genug sind, Gottes Wort
Vertrauen zu schenken. Am Ende der Geschichte sind Gott und Kain
unter sich und tun das, was der HERR wohl von Anfang an am liebsten
getan hätte (kleiner Seitenhieb in Richtung Benedikt XVI.):
philosophische Streitgespräche führen, denn, das will Saramago wohl versöhnlich sagen, Gott braucht den Menschen als sein Ebenbild, nicht
umgekehrt.