Montag, 6. Februar 2017

Gut gemeint

Georg Diez und Emanuel Heisenberg wollen die Demokratie retten

Eine Polemik
Der Wahlsieg Donald Trumps und die Erfolge der europäischen Rechtspopulisten haben die nach der jüngsten Finanzkrise von 2007 einsetzende weltweite Diskussion über die Zukunft des Kapitalismus zusätzlich befördert. Unlängst etwa veröffentlichten die Autoren Georg Diez, bis 2016 als Der Kritiker Kolumnist beim Spiegel, und Emanuel Heisenberg auf Spiegel Online einen Debattenbeitrag unter dem Titel Demokratie ist nicht Kapitalismus. Nach eigenem Bekunden arbeiten die Autoren „mit einer Gruppe von internationalen Co-Autoren an programmatischen Ideen für Demokratie im 21. Jahrhundert“ und lancieren gerade die Diskurs-Plattform Disrupt Democracy.
Georg Diez ist als Journalist und Publizist leidlich bekannt. Seit August 2016 weilt er als Fellow an der Harvard University. Vom anderen Autor Emanuel Heisenberg kann man immerhin ergoogeln, dass er der Enkel des Physik-Nobelpreisträgers Werner Heisenberg, Energieunternehmer in Sachen Kraft-Wärme-Kopplung und mit der österreichischen Schauspielerin Monica Reyes verheiratet ist.
Was qualifiziert nun den Journalisten Diez und den Technikunternehmer Heisenberg dazu, sich auf solch öffentlichkeitswirksame Art und Weise, schließlich gehört SPON zu den hiesigen Leitmedien, zur Programmatik einer Demokratie für das 21. Jahrhundert zu äußern? Schon beim Überfliegen des kurzen Textes kommt man selbst als wohlmeinender Leser zu dem Schluss: Nichts. Er strotzt nur so von Allgemeinplätzen, Fehlinterpretationen und leider auch Unkenntnissen. Gleichwohl lohnt es sich, den Text sorgfältig zu lesen, weil er zeigt, auf welch dünnem gesellschafts- und politiktheoretischen Eis sich eine angeblich linksliberale Meinungselite bewegt und wie sie dadurch dem inzwischen gängigen Elitenbashing zusätzlich Nahrung gibt.
Der Text beginnt schon mit einer grundfalschen Diagnose: „Der taumelnde Kapitalismus droht die Demokratie mit in den Abgrund zu reißen - so eng sind die beiden Konzepte miteinander verwoben.“ Weder ist der Kapitalismus ein Konzept, noch ist er mit der Demokratie verwoben. Dass der Kapitalismus nur in einer Demokratie gedeihen kann, ist ein Mythos und historisch nicht zu belegen. Richtig ist sicher, dass die westeuropäisch-amerikanische Spielart des Kapitalismus, wie sie am Ende des 18. Jahrhunderts in England und in den USA entstand, sich mit der parlamentarischen Demokratie eine für sie passende Staatsform geschaffen hatte, nachzulesen übrigens in The Great Transformation von Karl Polanyi, und diese sich vor allem nach dem 2. Weltkrieg überall dort, wo Amerikaner und Briten als Siegermächte auftraten, ausbreiten konnte. Die von Diez und Heisenberg als mit dem Kapitalismus verwoben deklarierte Demokratie ist gleichsam ein britisch- amerikanischer Exportartikel des 20. Jahrhunderts und keineswegs paradigmatisch für den aktuellen globalen Kapitalismus. Mehr noch, das Gegenteil ist richtig: Der Kapitalismus konnte in seinen Mutterländern zunächst entstehen und sich dann weltweit ausbreiten, gerade weil er an keine Staatsform gebunden ist, gerade weil er sich als Marktwirtschaft von der jeweils herrschenden politischen Ordnung gelöst hatte und allenfalls die Entwicklung der gesellschaftlichen Institutionen beförderte, die er in der jeweiligen historischen Situation als nützlich erachtete. Gerade der globale Erfolg des kapitalistischen Wirtschaftsmodells zeigt, dass der marktkonforme Staat vielerlei Gestalt annehmen kann, er muss nicht demokratisch verfasst sein oder republikanisch. Inzwischen haben wir es ja mit einer Vielfalt von prinzipiell marktkonformen kapitalistischen Staatsordnungen zu tun: Anglo-amerikanisches Modell (USA, Großbritannien, ehem. Commonwealth), soziale Marktwirtschaft (EU, Japan), Partei- oder Personenautokratien mit und (zumeist) ohne demokratische Strukturen (China, Russland und einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion, neuerdings auch die Türkei), dynastische und halbdynastische Systeme (Golfstaaten, Naher Osten, Zentral- und Ostasien), Theokratie (Iran), politischer Sozialismus (Bolivien, Venezuela, künftig Kuba).
Dass der Kapitalismus taumele, wie die Autoren apodiktisch erklären, halte ich für Wunschdenken. Er ist sicher nicht ganz gesund, aber gewiss nicht todsterbenskrank. Es stimmt wohl, er erzeugt nicht mehr die exorbitanten Wachstumsraten wie noch bis in die 1970er Jahre hinein. Paul Mason (Postkapitalismus), Sahra Wagenknecht (Reichtum ohne Gier) und andere marxistische Autoren haben erst kürzlich darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus seither sowohl seine Wachstums- als auch seine Innovationskräfte verloren zu haben scheint und sich damit gewisse marxsche Prophezeiungen aus dem Kapital bestätigen würden (tendenzieller Fall der Profitrate). Angesichts dessen von Taumel zu sprechen, angesichts seiner systemimmanenten Krisenhaftigkeit schon apokalyptisch das Ende des globalen Erfolgsmodells auszurufen, ist ganz sicher verfrüht und zeugt lediglich von mangelnden historischen Kenntnissen der Autoren Diez und Heisenberg. So führen sie die von ihnen konstatierte Krise der Demokratie auf die Krise des Kapitalismus zurück. Der Kapitalismus jedoch ist nicht in der Krise, sondern lediglich in einer Krise, und es ist auch nicht der Kapitalismus, sondern ein Kapitalismus, nämlich der Finanzkapitalismus britisch-amerikanischer Prägung. Wirklich krank hingegen sind die Instutionen, die jahrzehntelang für die Einhegung des Kapitalismus zuständig waren.
Die Autoren verweisen weiter auf eine Oxford-Studie, nach der in den nächsten 15 Jahren 47% der Arbeitsplätze in den USA und gar 59% in Deutschland durch Automatisierung bedroht seien. Aus solchen Prognosen würden sich akute Verunsicherungen der Menschen speisen, ob sie in Zukunft als Arbeitskräfte noch gebraucht würden. Abgesehen davon, dass es sich bei den Prognosen der Oxforder Wissenschaftler um theoretische Vorhersagen handelt, die von bestimmten Annahmen über die Entwicklung von Technologien und die Art des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen ausgehen und deshalb mit gebotener Vorsicht zu genießen sind und sicher der unabhängigen Verifikation bedürfen, zeigt doch die Vergangenheit, dass gerade technologiebezogene Prognosen meist gehörig falsch lagen. Noch jeder bedeutende Technologieschub war begleitet von apokalyptischen Visionen vom Ende der Arbeit, weil eine Folge natürlich war, dass bestimmte, meist einfache Qualifikationen nicht mehr benötigt wurden. Zudem ist es auch in Fachkreisen umstritten, ob das Tempo des technischen Fortschritts in der Gesamtwirtschaft in der Vergangenheit tatsächlich langsamer war als heute. Mir jedenfalls scheint, dass die so genannten Gründerjahre zwischen 1870 und 1914 um einiges innovativer und für die Betroffenen auch stressiger waren als unsere Zeit.
Der Kapitalismus, so die Autoren, koppele Sinn an Arbeit. Welch ein Euphemismus! Und weiter: „Schon der heutige Kapitalismus ist emotional tot...“ Emotional, im hier gemeint positiven Sinne, war und ist der Kapitalismus offensichtlich nur für jene, die von ihm profitieren, für die Kapitalisten, oder sagen wir wertneutraler, die Kapitaleigentümer. (Nicht jeder Aktionär oder Kleinunternehmer fühlt sich ja gleich als Kapitalist, selbst wenn er es objektiv ist.) Angesichts solcher Behauptungen fragt man sich, in welcher Lebenswirklichkeit (neudeutsch: Filterblase) sich Diez und Heisenberg bewegen. Sicher nicht in der gegenwärtigen Arbeitswelt. Es stimmt ja, dass das Selbstwertgefühl vieler, vielleicht gar der meisten Menschen von ihrer Stellung im und zum Arbeitsprozess abhängt, dass jedoch Sinn an Arbeit gekoppelt sei, kann nur behaupten, wer seine Arbeit nicht um des Gelderwerbs sondern um ihrer selbst willen verrichtet, wer in seiner Arbeit die, gerade von der eingangs angesprochenen linksliberalen Meinungselite, von den neuen Kreativen, den Startup-Möchtegerns, den Selbstausbeutern als so lebenswichtig empfundene Selbstverwirklichung findet. Der Soziologe Richard Sennet (u.a. Der flexible Mensch) hätte für solchen Selbstbetrug wohl nur ein altersmildes Lächeln übrig. Für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten, erst recht in den Entwicklungs- und Schwellenländern, ist die Realität der Arbeitswelt definitiv eine andere. Kennzeichnend für den Kapitalismus ist hingegen eine zunehmende Entfremdung (Marx) der Arbeitenden von den Produkten und Ergebnissen ihrer Tätigkeit sowie ein Mangel an Anerkennung (Honneth) und Wertschätzung (Sennet) für sie als den eigentlich wertschöpfenden Produzenten des Reichtums. Für sie ist der Kapitalismus so emotional wie noch jedes notwendige Übel.
Da die Autoren sich nun einmal auf die falsche Prämisse von der wechselseitigen Koppelung von Kapitalismus und Demokratie eingelassen haben, bewegen sie sich mit ihren anschließenden Vorschlägen zur Rettung der Demokratie auch weiterhin im argumentativen Niemandsland: „Die Herausforderung für eine progressive Politik ist es, einen Weg zu finden, Demokratie und Kapitalismus zu trennen, praktisch und theoretisch zu entkoppeln und beides zu reformieren – sonst wird beides scheitern…“ Noch einmal, weder hat eine demokratische Gesellschaft das Privateigentum an Produktionsmitteln, freie, deregulierte Märkte oder das Recht auf Mehrwertproduktion durch Arbeitskraftausbeutung zu ihrer Voraussetzung, noch benötigt der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung freie und gleiche Wahlen, Versammlungsfreiheit, Streikrecht, Meinungs- und Gesinnungsfreiheit oder Minderheitenschutz. Was er ganz im Gegenteil benötigt und auch einfordert, ist die weitestgehende Trennung von Staat und Markt. Und so ist denn auch die seit längerem erhobene Forderung nach marktkonformer Demokratie (Merkel) im Kern nur der rhetorisch bemäntelte Ruf nach weiterer Vertiefung dieser Trennung. Diez und Heisenberg verwechseln hier wohl den ihnen geläufigen bürgerlichen Rechtsstaat, dessen Zweck die Sicherung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten im, mit und zuweilen auch gegen den Kapitalismus ist, mit der Demokratie schlechthin.
Aber sei´s drum, versuchen wir einmal zu verstehen, was die Autoren da vorschlagen. Was könnte mit der Trennung von Demokratie und Kapitalismus gemeint sein und wie könnte das funktionieren? Da der Kapitalismus in einigen Teilen der Welt gerade dabei ist, sich von den Fesseln der Demokratie und des Rechtsstaates zu befreien, indem er Autokraten zur politischen Macht verhilft (Keiner kann mir weißmachen, dass die Putins, Erdogans, Orbans, Dutertes oder auch Trumps ihre politischen Ämter ohne Unterstützung interessierter und hinreichend finanzkräftiger Kapitalfraktionen erobert hätten, und überhaupt sind alle politischen Konflikte, wenn sie denn nicht Ausdruck des Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit sind, nichts anderes als auf politischer Bühne ausgetragene Interessenkonflikte zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen.), und die Autoren dies auch berechtigterweise kritisieren, können sie diese Art der Entkoppelung wohl nicht meinen. Eher scheint es aus ihrer (und auch meiner) Sicht geboten, die Demokratie vom Kapitalismus zu befreien.
Wenn Diez und Heisenberg schreiben, dass „das 21. Jahrhundert…neue Parteien“ erfordert, dann müssten das in dieser Logik demokratische und antikapitalistische Parteien sein. Ja, warum schreiben sie das dann nicht? Nach meiner Beobachtung wird Antikapitalismus hierzulande als grundgesetzwidrig angesehen. Selbst Die Linke lässt sich schwerlich noch als antikapitalistisch einstufen. Sie hält es inzwischen eher mit der auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise von Yanis Varoufakis eingeschlagenen Taktik, dass es um der Menschen willen vorerst besser ist, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. Auch Sahra Wagenknecht, die ehemalige Anführerin der kommunistischen Plattform innerhalb der Linken, scheint mit ihren letzten Veröffentlichungen (s.o.) und Verlautbarungen auf diesen Kurs umgeschwenkt zu sein. Statt von Antikapitalismus ist hingegen viel die Rede von Postkapitalismus (Paul Mason) oder Postwachstumsökonomie (u.a. Harald Welzer).
Diez und Heisenberg reden weder von Postkapitalismus noch von Postwachstum, sondern vom digitalen Kapitalismus und behaupten, jeder technologische Sprung habe seine politische Entsprechung, deren Antwort auf die Herausforderungen der Digitalisierung ein „dritter Weg“ sein solle, „die Technologie des 21. Jahrhunderts zu humanisieren und für alle Menschen gerecht und nutzbar zu machen.“ Im Zentrum ihrer rudimentären Überlegungen zu besagtem dritten Weg steht der Gerechtigkeitsbegriff. Gerechtigkeit, behaupten die Autoren, sei an die Stelle der Gleichheit getreten, weil diese nur im Rahmen eines Landes (gemeint ist sicher der moderne Nationalstaat) gefordert und realisiert werden könne und so den Fremden ausschließen würde. Nun ist Gerechtigkeit einer jener schillernden Begriffe, die die Menschheit seit frühester Zeit beschäftigen und die auch heute eine Reihe unterschiedlichster Interpretationen zulassen, je nach dem, welche Ziele mit dem Wortgebrauch verfolgt werden. Ob die Autoren bspw. soziale Gerechtigkeit, materielle Verteilungsgerechtigkeit, juristische Gerechtigkeit (Gleichheit vor dem Gesetz) oder, wie zu vermuten ist, Gerechtigkeit als Fairness (John Rawls) meinen, bleibt offen.
Vielleicht wissen sie es ja selbst nicht so genau, denn im Folgenden binden sie ihre Vorstellung von Gerechtigkeit an Empathie, noch so einen in inflationärem Gebrauch befindlichen Terminus. Sie schreiben: „Sie [die Gerechtigkeit] ist an Empathie gebunden, also an die Fähigkeit des Menschen, sich in andere einzufühlen. An diesem Begriff entscheidet sich, was menschliche Politik im 21. Jahrhundert ist, was eine demokratische Praxis und was nicht.“ Abgesehen davon, dass die verwendete Erklärung des Begriffs Empathie sehr verkürzt und m.E.n. sogar falsch ist, ist Empathie als Ausgangspunkt praktischer Politik nachgewiesenermaßen völlig untauglich. Selbst bei moralischen Urteilen sollte man sich nicht auf Empathie stützen, wie Immanuel Kant in seiner Diskussion der Goldenen Regel des Konfuzius (Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.) in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten überzeugend argumentiert hat, vielmehr muss es darum gehen, bei moralischen Werturteilen einen neutralen, unparteiischen Standpunkt einzunehmen und nicht mich an die Stelle des anderen zu setzen, denn das würde konsequenterweise dazu führen, dass ich bspw. die Wünsche eines jeden Migranten mir zu eigen machen sollte, auch seine kulturellen oder religiösen Dispositionen, oder die eines Finanzspekulanten wie George Soros. Erst aus einer neutralen, unparteiischen, überindividuellen Perspektive lassen sich gerechte Urteile rational fällen sowie kluge, gerechtfertigte und dann möglicherweise auch altruistische Entscheidungen auf dem Feld der Politik treffen. Geht es den Autoren nicht genau darum? Um eine Art altruistischer Politik, die nicht die partikulären Interessen des Individuums in den Mittelpunkt stellt, sondern das global verstandene Gemeinwohl. Nur, dafür die Gerechtigkeit über Freiheit und Individualismus zu stellen, weil, wie Diez und Heisenberg meinen, „Gerechtigkeit beides bedingt“, ist ein untauglicher, ja, wie ich meine, gefährlicher Ansatz. Nicht nur, dass er verdächtig nach Kommunismus stalinistischer Prägung riecht, er fällt auch hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück, die doch Recht und Gerechtigkeit gerade im freien Gebrauch der individuellen Vernunft begründet sieht, in dem zuweilen schwer verständlichen Sinn, dass meine Freiheit mich nachgerade dazu verpflichtet, vernünftig zu handeln.

So gut gemeint die Absichten auch sind, die Diez und Heisenberg mit ihrem Debattenbeitrag verfolgen, so wenig hilfreich ist ihr Text. Weder treffen ihre Diagnosen zu, noch präsentieren sie eine geeignete Programmatik für den Umgang mit den Krisenphänomenen. Wer nach schlüssigen Ideen für eine gerechtere, zukunftsorientierte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sucht, sollte sich auf der Homepage des Kollegs Postwachstumgsgesellschaften an der Universität Jena umschauen. Insbesondere die bereits 2012 verfassten Thesenpapiere von Stephan Lessenich, Klaus Dörre und Hartmut Rosa sind m.E. ein geeigneter Einstieg in den Alternativendiskurs.

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...