Dienstag, 25. März 2014

Allen Falken und Scharfmachern

angesichts der Krim-Krise

Große Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg (mit Opferzahl)

Diese Liste enthält die zivilen Toten durch Infektionskrankheiten, Hungersnöte, Kriegsverbrechen, Völkermord usw. sowie die in Schlachten getöteten Soldaten, also die gesamte Anzahl der Kriegsopfer.
    55.000.000–60.000.000: Zweiter Weltkrieg (1939–1945)
    20.000.000: Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg (1937–1945)
    3.800.000–5.400.000: Zweiter Kongokrieg (1998–2003)
    2.500.000–3.500.000: Koreakrieg (1950–1953)
    2.300.000–3.800.000: Vietnamkrieg (gesamt 1955–1975)
    300.000–3.000.000: Bangladesch-Krieg (1971)
    1.500.000–2.000.000: Afghanischer Bürgerkrieg und sowjetische Intervention (1979–1989)
    1.300.000–6.100.000: Chinesischer Bürgerkrieg (1928–1949)
    1.000.000: Erster Golfkrieg, Iran-Irak (1980–1988)
    1.000.000: Zweiter Sudanesischer Bürgerkrieg (1983–2005)
    1.000.000: Biafra-Krieg, Nigeria (1967–1970)
    900.000–1.000.000: Mosambiks Bürgerkrieg (1976–1993)
    800.000–1.000.000: Bürgerkrieg in Ruanda (1990–1994)
    800.000: Bürgerkrieg der Republik Kongo (1991–1997)
    570.000: Eritreas Unabhängigkeitskrieg (1961–1991)
    550.000: Somalischer Bürgerkrieg (seit 1988)
    500.000: Bürgerkrieg in Angola (1975–2002)
    500.000: Bürgerkrieg in Uganda (1979–1986)
    200.000-240.000: Jugoslawienkrieg (1991-1999)
    393.000–942.000: Irakkrieg (2003-2011)
Es sind weltweit mindestens 25 Millionen Menschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch Kriege gestorben. Im 20. Jahrhundert starben circa 100–185 Millionen Menschen durch Kriege.

***

Mit der zeitlichen Entfernung vom Krieg sinkt für die Menschen wohl der Wert des Friedens. Es ist gleichsam wie das Abflauen des Verliebtseins nach zwei, drei Jahren – am Beginn war alles eine große Euphorie: Endlich Frieden! Doch nach Jahren des ruhigen Zusammenlebens verblasst die Erinnerung und Unruhe macht sich breit: Sehnsucht nach Veränderung kommt auf. Und der Mensch geht wieder ins Risiko, wohl ahnend, was ihm schlimmstenfalls widerfahren könnte, und doch tut er es. Er geht wieder auf die Jagd. Und damit in die Unfreiheit, denn Frieden schafft die Möglichkeit von Freiheit, Krieg hingegen das Gegenteil.
Die einzige Freiheit, die der Krieg zu bieten hat, ist die Freiheit zum Töten.
Was mich wirklich stört und in gewisser Weise zugleich zornig und traurig macht, ist die allgemein verbreitete Geschichtsvergessenheit, ja Geschichtsignoranz eines großen Teils unserer politischen Klasse, die spätestens mit dem Gespann Schröder/Fischer erst salonfähig, dann Mainstream wurde und nun mit den hysterischen Äußerungen des Unheilsgeschwaders Merkel/Steinmeier/Gauck/von der Leyen ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Ich meine damit die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich und das eigene politische Handeln auch aus der Perspektive des oder der Anderen zu sehen und zu bewerten. Und die Anderen sind die, deren Länder einst besetzt waren und auf deren Boden im Namen des deutschen Volkes die wohl schwersten systematischen Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen wurden.
Es mag an meiner ganz persönlichen Lebensgeschichte und auch der meiner Familie liegen, dass ich in diesen Angelegenheiten wohl besonders sensibel bin.


Dieses Bild stammt vom Google-Service Street View. Es zeigt das Blockadedenkmal in St. Petersburg, das die Form eines stilisierten, aufgebrochenen Ringes hat und damit, sowie mit einem unterirdisch eingelassenen Museum an die fast 900 Tage und Nächte dauernde und über eine Millionen Menschenleben kostende Blockade der Stadt durch die Wehrmacht zwischen September 1941 und Januar 1944 erinnert.
Acht Jahre lang habe ich in dieser Stadt, die damals noch Leningrad hieß, gelebt. Eher ungewollt und zufällig ging ich am Nachmittag meines 19. Geburtstages zum Blockadedenkmal und verbrachte dort fast zwei Stunden damit, über Geschichte, Gegenwart und Zukunft nachzudenken. In den folgenden Jahren wurde der Besuch des Blockadedenkmals am Geburtstag wie auch das sinnierende Verweilen dort zu einem persönlichen Ritual, das neben der von sowjetischen Kommilitonen und anderen Gesprächspartnern erzwungenen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte entscheidend dazu beitragen sollte, mich selbst als Deutschen auch in der Mitverantwortung für die jüngere deutsche Geschichte zu sehen. Das mag etwas pathetisch klingen, entspricht aber den Tatsachen. 
Mein Großvater war NSDAP-Funktionär und, wie seine Hinterlassenschaft aus dem Ersten Weltkrieg zeigt, ein strammer Nationalkonservativer, einer, auch an dessen Wesen wohl die Welt genesen sollte. Er beendete sein Leben im Herbst 1945 in einem sowjetischen Straflager an der Elbe.
Ich halte nichts von der so genannten Kollektivschuld, die wir ewig mit uns herum zu schleppen hätten. Ich glaube aber, dass es kollektive Dispositionen und Intentionen geben kann, und dass solche tief in der Sozialpsychologie einer Nation angelegt sein können. Bei uns Deutschen zählen m.E. dazu: Rechthaberei, Besserwisserei, Verdrängung und Hochmut. Und solche Dispositionen und Intentionen können zu kollektiver Irrationalität und präanimalischem Verhalten führen, wie man in Elias Canettis „Masse und Macht“1 vortrefflich nachlesen kann. Dies eben ist meine Befürchtung, dass unsere Geschichtsvergessenheit im Verbund mit Wirtschaftsmacht, Medienhysterie und Hochmut uns wieder in die kollektive Ir­rationalität treiben könnte.


1 Elias Canetti. Masse und Macht. Fischer TB, 2011

Samstag, 8. März 2014

Brücke, Fluss und Fährmann

Vor einiger Zeit bekam ich Hermann Hesses Erzählung „Siddhartha. Eine indische Dichtung“ geschenkt, verbunden mit der, mittels markierter Textpassagen ausge­drückten dringenden Bitte der oder des Schenkenden, das Buch auch zu lesen.
Nun fehlte mir zugegebenermaßen bislang der Zugang zu Hesse, nicht wegen seines Stils, sondern eher wohl wegen der Attitüde. „Steppenwolf“ und „Glasperlenspiel“ hatte ich vor vielen Jahren gelesen, fand aber keinen rechten Bezug dazu. Die Außenseiterattitüde hatte mir irgendwie missfallen, und das hing wohl zusammen mit meinem damaligen Selbstverständnis. Diese Zeiten sind lange vor­bei. Mit dem Lesen von „Siddhartha“ hat sich die Distanz zu Hesse jedenfalls verringert, und vielleicht sollte ich „Steppenwolf“ wieder und „Unterm Rad“ überhaupt mal lesen.
Ich habe nicht vor, „Siddhartha“ hier in Gänze zu besprechen, eine kurze Inhaltsan­gabe scheint mir zum Verständnis des Folgenden dennoch angebracht. Die Erzählung beginnt in Anlehnung an die überlieferte Geschichte vom historischen Buddha Siddhartha Gautama. Auf der Suche nach der Wahrheit schließt sich der Brahma­nensohn Siddhartha zusammen mit seinem Freund Govinda zunächst einer Gruppe asketischer Wandermönche, den Samanas, an, trifft dann auf den legendenumwobenen ersten Buddha Gota­ma, erkennt aber bei dieser Begegnung, dass dessen Weg nicht der seinige werden kann. Siddhartha trennt sich vom Freund Govinda und geht in die Stadt. Dort lehrt ihn die Edelkurtisane Kamala die Kunst der körperlichen Liebe. Er bleibt bei Kamala und ar­beitet, zunächst um sich ihre Liebesdienste auch leisten zu können, erfolgreich für einen Kaufmann, was ihn sehr wohlhabend, aber auch hochmütig werden lässt. Nach Jah­ren geht ihm auf, dass auch dieses Leben nicht zum angestrebten Ziel führt. So begibt er sich wieder auf asketische Wan­derschaft und trifft am Fluss auf den Fährmann Vasude­va, der ihm, wie es scheint, zu der Wahrheit verhelfen kann und mit dem er bis zu dessen Tod zusammen lebt und arbeitet. Zum Ende der Geschichte, da Siddhartha seine Erlösung gefunden hat, kommt es zu einem Wiedersehen zwischen den eins­tigen Freunden Govinda und Siddhartha, die nun, inzwischen alt geworden, ihre ge­wonnenen Weisheiten austauschen.
Nun ist „Siddhartha“ mitnichten eine indi­sche Dichtung. Nicht nur weil hier ein Europäer gedichtet hat, sondern auch und ge­rade weil in der Erzählung eine westlich geprägte kosmopolitische und gleichsam ökumenische Grundhaltung zum Ausdruck kommt, ähnlich der Botschaft des Ro­mans „Life of Pi“ des Kanadiers Yann Martell, die ein genuines Produkt der euro­päischen Aufklärung ist. Jedenfalls lassen sich bei der Lektüre verschiedenste Bezüge zu traditionell westlichem Denken und zu traditionell westlicher Erzählweise entde­cken, was in meinem Fall auch daran liegen mag, dass ich mich in den östlichen Philosophie- und Glaubenstraditionen nicht besonders auskenne - Platon und die Bibel sind mir halt vertrauter. Anders gesagt, ich habe zwar vor langer Zeit einiges gelesen – die Ve­den, buddhistische Texte, Laotse und Konfuzius, mich allerdings damit nicht intensiv auseinander gesetzt, so dass mir etwaige Bezüge fehlen.
So aber kam mir zum Ende der Lektüre von „Siddhartha“ die bekannte Passage aus dem Brief an die Hebräer in den Sinn: „Darum musste er in allem seinen Brüdern gleich sein, um ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu sühnen. Denn da er selbst in Versuchung geführt wurde und gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden.“ (Hebr. 2,17) Die Rede ist natürlich von Jesus Christus, und sie besagt, wie auch die Erzählung Hesses, dass nur ein Mensch, der das ganze Menschsein in allen seinen guten und schlechten Facetten am eigenen Leib erlebt hat, zur Wahr­heit gelangen kann.
Durch die Auftrennung der historischen Person des Siddhartha Gautama Buddha in zwei literarische Gestalten -Siddhartha und Gotama - stellt Hesse in gewisser Weise den Buddhis­mus auf christliche Füße, um mit der Schilderung von Siddharthas Lebensgeschichte beide Religionen zu konterkarieren. Aus meiner beschränkten Sicht unterscheiden sich nämlich Christentum und Buddhismus in einem wesentlichen Punkt: Sicher wollen beide den Menschen einen Weg zur Erlösung zeigen. Während aber der Buddhismus die Entgeistigung des Körpers als Weg zur Er­lösung ansieht, lehrt das Christentum die Entkörperli­chung des Geistes. Hesse konterkariert diese Erlösungsstrategien mit der Geschichte vom Fluss, die mit Heraklits „panta rhei“ am Beginn zumindest der europäi­schen Philosophie steht, sowie mit Vasudevas ruhigen Meditatio­nen über die Zeit:
»Ja Siddhartha«, sprach er. »Es ist doch dieses, was du meinst: daß der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und daß es für ihn nur Gegen­wart gibt, nicht den Schatten Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft?«1
»...nie ist der Mensch ganz heilig oder ganz sündig. Es scheint ja so, weil wir der Täuschung unterworfen sind, daß Zeit etwas Wirkliches sei. Zeit ist nicht wirklich...Und wenn Zeit nicht wirklich ist, so ist die Spanne, die zwischen Welt und Ewigkeit, zwischen Leid und Seligkeit, zwischen Böse und Gut zu liegen scheint, auch eine Täuschung.«2
Buddhismus und Christentum lehren auf ihre je eigene Weise, dass die Erlösung nur durch Verlassen des Zeitstroms erreicht werden kann. Der Mensch scheint ja gleich­sam gefangen im und genötigt vom linearen, irreversiblen Fluss der Zeit, ihn ängstigt aber auch die Aussicht auf zyklische Wiederkehr des immer Gleichen. 40 Jahre vor Hesse spricht Nietz­sche in der „Fröhlichen Wissenschaft“ von der Wiederkehr des immer Gleichen gar als von dem größtem Übel:
– Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so rede­te? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermal­men; die Frage bei Allem und Jedem »willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?« würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlan­gen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? – 3
Wie wohltuend gelassen und weise wirkt dagegen die Einsicht oder vielleicht auch nur Anerkennung dessen, dass Zeit nur ein Hilfskonstrukt unseres Verstandes ist, um dem Paradox der permanenten Veränderung der eigentlich dauerhaften Dinge einen Begriff und einen Sinn zu geben. Es scheint, als schließe Hesse mit Vasudevas Meditationen an an Hegels radikales Prozessdenken, nach dem wirklich nur der Prozess als solcher ist: „Der Prozeß der wirklichen Dinge selbst macht also die Zeit.“4 Und wie der Fluss ist der Prozess natürlich überall zugleich, weil er das Ganze ist. Wobei aber die Pointe von Nietzsches Schreckensbild ja darin besteht, dass er uns dazu auffordert, uns dem größten Übel zu stellen, es zu akzeptieren und unser Leben im vollen Bewusstsein dessen zu leben, dass es so ist.
Man kann nämlich in und mit der Zeit leben, wie Vasudeva und, ihm folgend, Siddhartha es tun, indem sie sich dem Fluss gleichsam ergeben. So un­terliegen sie in ihrer Wahrnehmung keinem Diktat, weder dem Diktat der schreckenden Wiederkehr des immer Gleichen, weil ja nichts wiederkehrt, sondern alles, wie der Fluss als Ganzes, immer schon da ist, noch dem der Ausrichtung auf das unvermeidli­che Ende, der wir Menschen wohl unsere letztlich zerstörerische Umtriebigkeit zu­schreiben können, da in jedem Moment das Ende und der Anfang, so wie Quelle und Mündung, ja schon präsent sind. So zielgerichtet, strukturiert und zeitlich geordnet unser Leben auch erscheinen mag, sollte es doch nicht die eine Akkordzeit im „Weltinnenraum des Kapitals“ (Sloterdijk) sein, von der wir uns beherrschen lassen, vielmehr sind es zwei Zeiten, denen man sich ganz bewusst aussetzen kann: Zum einen die zyklische Zeit der täglichen, wöchentlichen, monatlichen, jährlichen Wiederkehr der immer glei­chen Verrichtungen und Rituale, die uns das Gefühl von Identität gibt - die zykli­sche Zeit gleichsam als Vertrauensanker der Selbstgewissheit. Zum anderen die linea­re, die messbare Weltzeit, die immer schon da ist, egal, was wir tun und was mit uns geschieht, die im oben erwähnten Hegelschen Sinne vom Prozess der Dinge selbst gemacht wird, und die man so gesehen nur sein lassen kann.
Die Rede vom Fluss weckt nicht nur Zeitassoziationen - mit der Figur des Fährmanns kommt unweigerlich die Frage nach der Überquerung des Flusses ins Spiel. Diesem Zweck könnte auch eine Brücke dienen, doch Hesse bedient sich dieser Option nicht, obwohl die Brücke als literarische und philosophische Metapher eine lange Tradition hat. Ein Grund dafür mag in der Abgegriffenheit der Brückenmetapher selbst liegen, ein anderer in der Verfestigtheit und Statik des Bildes. Wichtiger scheint mir: Eine Brücke kann man auch allein überqueren, und es spielt auch keine Rolle, wer sie ge­baut hat und wie lange sie schon die Ufer des Flusses miteinander verbindet. Der Fährmann hingegen begleitet den Reisenden bei der Überfahrt, ohne ihn kann diese gar nicht geschehen, es sei denn der Reisende machte sich selbst zum Fähr­mann, was jedoch mit dem Risiko verbunden wäre, die Fähre nicht zu beherrschen und zu scheitern. Der Reisende muss dem Fährmann also notgedrungen vertrauen, im Gegenzug hilft der Fährmann dem Reisenden, in dem er ihn nicht nur zum ande­ren Ufer bringt, sondern eben auch bei ihm ist. So ist der Reisende auch bei seiner vielleicht schwersten Überfahrt nicht allein, der Fährmann ist bei ihm, wie Charon bei den Toten auf ihrer letzten Reise über den Fluss Acheron. Die Brücke steht somit gleichsam für den abstrakten, unsichtbaren Gott, den Gott des Regenbogens5, der Morgen und Abend verbindet, und, in ihrer Starre und Festigkeit, auch für das unverrückbare Schicksal. Der Fährmann hingegen steht für den konkreten, personellen Gott, der unsere Fahrt über den Fluss des Le­bens ermöglicht, lenkt und begleitet, uns aber auch die Freiheit lässt, über den Ort unseres Anlegens am anderen Ufer mit zu entscheiden.
1 Hermann Hesse. Siddhartha. Suhrkamp 1974, S. 87
2 Ebd. S. 114
3 Friedrich Nietzsche . Die fröhliche Wissenschaft. Insel 2000. Aphorismus 341
4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke Band 9. Suhrkamp 1986. § 258
5 Genesis 9,13

Sonntag, 19. Januar 2014

The King's Speech

Howgh! Der Häuptling hat gesprochen. Der König der „amtierenden Theokratie“, wie Peter Sloterdijk das politische System der  Vereinigten Staaten von Amerika einst einzuordnen versuchte. Obama also hat zur NSA-Affäre gesprochen, und damit kann sie nun wirklich als beendet angesehen werden. Bei allem Unmut und allem Unbehagen darüber, dass die Affäre, wie von Anfang an zu erwarten war, ausging wie das Hornberger Schießen, sollte man sich doch darüber freuen, dass endlich Klartext gesprochen wurde und das unsägliche Schmierentheater der vergangenen Monate, das vor allem auf der hiesigen politischen Bühne aufgeführt wurde, ein Ende gefunden hat.
Ich habe Obamas Rede weder gehört noch gelesen, auch nicht das Interview, das ZDF-Anchorman Claus Kleber mit ihm geführt hat. Muss man wohl auch nicht, denn, wie gesagt, der Ausgang der ganzen Angelegenheit stand lange vorher fest: Alles bleibt im Wesentlichen so, wie es ist. Man wird einige Exzesse der NSA und anderer Dienste zu zügeln versuchen, also ein paar kosmetische Eingriffe vornehmen, um die Verbündeten nicht zu sehr zu vergrätzen. Die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der etablierten und mit den Snowden Papers offen gelegten Praktiken jedoch wird ausdrücklich bestätigt. Und nun fragt man sich wie so oft im Leben: Warum ist das so?
Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte. Das US-Imperium, so wie wir es kennen, entstand im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und des Zusammenbruchs zunächst des britischen Kolonialreichs und später des Sowjetreichs. Es basiert, oder sollte man besser sagen basierte auf drei Pfeilern. Da sind zum einen die Militärstützpunkte. Nach dem Krieg begannen die USA, die Welt mit einem Netz dieser Stützpunkte zu überziehen, wobei die meisten in Europa, Asien und im Pazifikraum angesiedelt wurden. Später dann wurden, wo es sich anbot, die postkoloniale Hinterlassenschaft der Briten, wie etwa Pakistan oder Ägypten, und zuletzt die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in das globale Stützpunktnetz eingewoben. Der zweite Pfeiler ist das Bündnissystem mit NATO, Rio-Pakt, ANZUS usf. Ein dritter Pfeiler des Imperiums war bekanntlich das Währungssystem von Bretton Woods, das die kapitalistische Weltwirtschaft in die faktische Abhängigkeit vom Dollar brachte. Die Weltmachtposition der USA basierte und basiert darauf, dass sie völlig legitim in der Lage waren, zu jedem Zeitpunkt und an jedem beliebigen Ort dieser Welt militärisch oder wirtschaftlich einzugreifen oder zumindest Druck auszuüben. Jedenfalls war das bis zum Ende des Kalten Krieges der Fall.
Die Ironie der Geschichte ist wohl, dass der Zusammenbruch des Sowjetimperiums gerade nicht den endgültigen Sieg des amerikanischen Imperiums bedeutete. Gesiegt haben nicht die Amerikaner, gesiegt hat das System. Und dieses kapitalistische System setzt eben nicht nur ökonomische Kräfte frei, sondern auch emanzipatorische, wie wir zuletzt am Arabischen Frühling oder an den Revolten in der Ukraine beobachten konnten. Zur emanzipatorischen Bewegung der postsowjetischen Ära gehört auch die Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft von einer rein wirtschaftlichen in eine politische und Währungsunion in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren, die in erster Linie von Frankreich, dem traditionellen politischen Gegenspieler der USA[2] vorangetrieben wurde. Eine zweite Ironie der Geschichte besteht wohl darin, dass die Anschläge von 9/11 mitten im  laufenden europäische Emanzipationsprozess verübt und zu allem Ärger noch maßgeblich in Europa vorbereitet wurden.
Versucht man, sich in die Gedankenwelt amerikanischer Strategen hinein zu versetzen, die einerseits den ersten massiven Angriff von Nichtamerikanern auf amerikanisches Territorium konstatieren und andererseits die fortschreitende Erosion des nach dem Krieg mühsam aufgebauten und teuer unterhaltenen imperialen Systems beobachten mussten, dann erscheint das Vorgehen der NSA nur allzu schlüssig, zumal die neuen Möglichkeiten des Internets spätestens seit den späten 1990er Jahren geradezu dazu einluden, die im physikalischen Raum  erprobten Vorgehensweisen auch im virtuellen Raum anzuwenden. Die NSA ist kein gewöhnlicher Geheimdienst, sie ist Teil des Militärapparats der USA, sie ist ein globales Waffensystem, wie Christian Stöcker auf Spiegel-Online richtig feststellte. Aber sie ist noch mehr, und das zeigt die Rede des Königs, sie ist ein politisches Instrument zur Aufrechterhaltung der globalen Kontrolle über alles und jeden angesichts des konstatierten Verfalls der vormaligen, auf physischer Präsenz, politischer Dominanz und wirtschaftlicher Stärke basierenden Vorherrschaft.
Was die NSA im Netz eingerichtet hat, ähnelt in verblüffender Art dem oben dargestellten dreipfeiligren System aus Stützpunkten, Bündnissen und Finanzkontrolle. Da sind zum einen die Rechner und Router, die schon vor Inbetriebnahme infiltriert werden, und die vielen anderen mittels Viren, Trojanern und Bots eingerichteten Anzapfstellen, zum anderen gibt es da das Five-Eyes-Abkommen der größten englischsprachigen Nationen, und zum dritten erlaubt das Sammeln aller Daten auch die Kontrolle über die globalen Finanzströme, die für das Überleben des amerikanischen Staates, des größten Schuldners aller Zeiten, natürlich von enormer Bedeutung ist.
Und ganz nebenbei kann man damit noch den Anti-Terror-Kampf führen, obwohl, wie mir scheint, genau der eine eher untergeordnete Rolle spielen dürfte. Die Leute in der NSA dürften intelligent genug sein, zu wissen, dass dieser War on Terror, genauso wie der reale, ein asymmetrischer ist, dass also die schiere Massivität der Netzüberwachung angesichts der üblichen Guerillataktiken keinen Erfolg garantiert. Bei allen berechtigten Vorbehalten gegenüber Carl Schmitt als „Kronjurist der Nazis“, hat er doch ein wirklich empfehlenswertes Buch geschrieben, „Theorie des Partisanen“.[3] Die folgende, daraus  entnommene Textpassage illustriert gleichsam in einer Vorausschau, was die NSA und der amerikanische Staat in Gänze aktuell exekutieren: „Die Feindschaft wird so furchtbar werden, dass man vielleicht nicht einmal mehr von Feind oder Feindschaft sprechen darf und beides sogar in aller Form vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann. Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.“
Für uns Otto-Normaluser hingegen ändert sich absehbar nichts. Uns bleiben nur die alten paulinischen Werte Glaube und Hoffnung, von Liebe kann hier wohl eh keine Rede sein. Glaube und Hoffnung beruhen auf Vertrauen, und Vertrauen ist nach der Definition von Jan Philipp Reemtsma die Erwartung darin, dass der andere etwas nicht tut. So bleiben uns nur der Glaube daran, dass die USA eine gute Nation sind, und die Hoffnung darauf, dass die NSA ihre Möglichkeiten nicht dazu ausnutzt, etwas für uns Unerwartetes zu tun. Ganz im Sinne von Churchills gern zitiertem Bonmot „Man kann sich immer darauf verlassen, dass die Amerikaner das Richtige tun - nachdem sie alles andere ausprobiert haben.“




[2] Zur Illustration dieser These schaue man sich auf einer Weltkarte einmal die „natürlichen Flugzeugträger“, wie Guadeloupe oder Martinique in der Karibik an. Auch Kourou in Französisch Guyana, von wo die Ariane-Raketen abgeschossen werden, ist nicht so weit weg von Miami.

[3] Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Duncker  & Humblodt. 1963

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...