Sonntag, 14. November 2021

Der Traum vom Postwachstum

 Wehe denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken,
bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitzt!

Jesaja 5,8


Es steht außer Frage: Das globale ökonomische Weiterso wird langfristig zu gravierenden Veränderungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen bis hin zu deren Vernichtung führen. Der Earth Overshoot Day, der Erdüberlastungstag, der Tag eines Jahres also, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen in diesem Jahr übersteigt, rückt von Jahr zu Jahr im Kalender weiter nach vorn. Laut Wikipedia fiel er 1970 auf den 29. Dezember und war 2019 beim 29. Juli angekommen. Pandemiebedingt war 2020 eine leichte Erholung zu verzeichnen, die aber 2021 umgehend wieder wettgemacht wurde. Man schätzt, dass die Menschheit bereits 2050 doppelt so viele Ressourcen verbrauchen wird, wie die Erde dann bereitzustellen imstande ist. Bei der Bewertung der Schädlichkeit des Ressourcenverbrauchs sind zwei maßgeblich verantwortliche Phänomene zu unterscheiden: Da wir in einer Angebotsökonomie leben, in der sich erst am Markt entscheidet, ob eine Ware einen Käufer findet, herrscht objektiv, außer in Krisenzeiten, eine permanente Überproduktion und damit auch Unterkonsumtion. Es wird mehr produziert, als wir verbrauchen, und ein Teil der überschüssigen Waren kann (aus technischen wie aus wirtschaftlichen Gründen) nicht recycelt und in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden, wird also zu Müll. Aus unserer subjektiven Sicht haben wir es andererseits, im globalen Norden jedenfalls, mit einer Überkonsumtion zu tun: Wir verbrauchen mehr als wir benötigen und, darauf macht der Earth Overshoot Day aufmerksam, mehr als der Bio- und der Atmosphäre des Planeten zuträglich ist. Auch das eine Konsequenz der Angebotsökonomie.

Die Verantwortung für diese Entwicklung wird der dem Kapitalismus inhärenten wirtschaftlichen Wachstumsdynamik zugeschrieben. Häufig wird dabei von einer Wachstumsideologie gesprochen, so als ob es lediglich dem Willen der wirtschaftlichen Akteure zu verdanken sei, dass der Kapitalismus Wirtschaftswachstum und, damit einhergehend, extensiven Ressourcenverbrauch generiert. Als Gegenmittel gegen diese Ideologie wird seit einigen Jahren Postwachstum (Degroth) in Stellung gebracht. In Deutschland wird die Postwachstumsidee prominent von Nico Paech vertreten sowie zuletzt auch von Klaus Dörre und Hartmut Rosa mit ihrem 2019 abgeschlossenen Postwachstumskolleg an der Universität Jena. Hinter dem griffigen Namen verbirgt sich die Idee einer statischen bzw. stationären, sich im Gleichgewicht befindenden Volkswirtschaft, in der alle gesamtwirtschaftlichen Faktoren in einem langfristigen Gleichgewicht sind und sich nur noch selbst reproduzieren. In einer idealen Postwachstumsgesellschaft gäbe es weder Über- noch Unterkonsumtion. In ihr würde für eine konstante Bevölkerung mit konstantem Ressourcenverbrauch eine konstante Warenmenge erzeugt. Erreicht werden müsste dies zunächst durch erhebliche Schrumpfung, denn wie das diesjährige Datum des Erdüberlastungstags, 29. Juli, zeigt, müsste der globale Ressourcenverbrauch um ca. 43 % gesenkt werden, denn eine stationäre Wirtschaft auf dem aktuellen Level würde uns bei der Lösung der anstehenden Probleme ja keinen Deut weiterbringen. Selbst wenn kommenden Winter in Davos beschlossen würde, dass die Weltwirtschaft wie einst der kleine Blechtrommler Oskar Matzerath von jetzt auf gleich das Wachstum einstellt, brächte uns das im Kampf gegen Klimakrise, Artensterben, Bodenvernutzung und Ozeanvermüllung rein gar nichts. Es müsste weiter so lange geschrumpft werden, bis Bio- und Atmosphäre sich vom Anthropozän einigermaßen erholt haben, und der Verzicht, den die Menschen im globalen Norden, aber auch in den Schwellenländern zu leisten hätten, wäre enorm. Dennoch ist der Gedanke einer Befreiung vom Wachstumszwang gerade aus Sicht des einzelnen attraktiv, verbindet er doch damit auch die Hoffnung auf mehr Lebensqualität etwa durch radikal kürzere Arbeitszeit, weniger Konkurrenzdruck, fehlenden Konsumterror, gesündere Lebensweise etc. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche Postwachstumsgesellschaft realistischerweise überhaupt möglich ist. Nach meinem Dafürhalten gibt es gewichtige Argumente, die dagegen sprechen und die ich im Folgenden auszubuchstabieren versuche.

1. Unter sonst gleichen Bedingungen generieren Warenökonomien Wachstum.

Die kapitalistische Wirtschaft ist ganz offensichtlich eine Warenwirtschaft. Eine Ware ist ein Gut, das gegen andere Güter getauscht werden kann, dazu gehören auch Dienstleistungen. Die Warenförmigkeit der Güter ist eine Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Der Wert (= Tauschwert) einer Ware realisiert sich im Tauschvorgang, der im Kapitalismus auf dem Markt bzw. den Märkten stattfindet. Die universelle Tauschware, die Ware also, gegen die alle anderen Waren getauscht werden können und die somit als universeller Wertmaßstab am Markt auftritt, ist das Geld. Der (Geld-)Wert einer Ware bemisst sich nach dem Wert der zu ihrer Herstellung benötigten Ressourcen. In einer entwickelten, arbeitsteiligen Ökonomie sind diese Ressourcen ebenfalls Waren. Somit lässt sich der Geldwert einer Ware daran bemessen, wie viel Geld zu ihrer Herstellung eingesetzt wurde.

Man muss kein Anhänger der marxschen Arbeits- und Mehrwerttheorie sein, um einzusehen, dass die Kurzform der Waren- und Geldbewegung G – W – G´, wobei G´ > G, in einer Warenökonomie universelle Geltung hat. In der Politischen Ökonomie des Kapitalismus heißt die Differenz M = G´ - G Mehrwert, in der vor langer Zeit verschiedenen Politischen Ökonomie des Sozialismus, die offiziell keinen Markt kennen wollte, Mehrprodukt. Substanziell bezeichnen beide Begriffe das Gleiche. Mehrwert resp. Mehrprodukt entstehen in einer Warenökonomie gesamtgesellschaftlich allein schon deshalb, weil kein Warenproduzent, erst recht kein staatlicher Gesamtkapitalist, dauerhaft für Null- oder negativen Gewinn resp. Ertrag produzieren kann, und das aus einsichtigen Gründen. Zum einen sind Produzenten gezwungen zu (re-)investieren, um ihre Produktion dauerhaft aufrechterhalten zu können, und dafür benötigen sie Geld. Zum anderen geht, wer seine Ware zum Markt bringt, um sie dort zu verkaufen, das Risiko ein, auf ihr sitzen zu bleiben, weil dem Gebrauchswert der Ware gerade kein Bedarf gegenüber steht, und für diesen Fall muss vorgesorgt, sprich, es müssen Rücklagen gebildet werden.

Das auf dem Markt benötigte Mehrgeld bereitzustellen, ist Aufgabe der Banken. Um Wachstumszwang zu erzeugen, bedarf es also gar nicht des Drucks durch den Kreditzins, wie manche geltend machen. Auch eine Null-Zins-Ökonomie wächst, wie wir seit einigen Jahren in der Eurozone beobachten können. Vielmehr ist es doch so, dass die EZB ihre aktuelle Null-Zins-Politik gerade zur Beförderung von Investitionen, also Wachstum, verfolgt.

Nun könnte man einwenden, das dem Warentausch intrinsische Geldwachstum müsse nicht notwendigerweise zu einem Wachstum des Ressourcenverbrauchs, um den es ja den Anhängern der Postwachstumsidee geht, führen. Fraglich ist allerdings, wie anders als in Investitionen, die ganz sicher Ressourcen benötigen, das Mehrgeld eingesetzt wird. Die Frage stellt sich gleichermaßen, wenn Schrumpfgeld-Theorien eingebracht werden, deren Umsetzung erst recht zu mehr Konsum mit entsprechendem Ressourcenverbrauch führen würde.

Post-, will heißen Null- oder Negativ-Wachstum wird in einer arbeitsteiligen, Waren tauschenden, marktbasierten Ökonomie unter normalen, also nicht krisenhaften Bedingungen, nicht erreichbar sein, es sei denn durch bewusste und andauernde Zerstörung von Werten.

2. Technischer Fortschritt bewirkt Wachstum.

Der Kapitalismus beginnt im England des 18. Jahrhunderts mit technischen Innovationen – mechanischer Webstuhl und Dampfmaschine werden erfunden, die Industrielle Revolution wird eingeläutet. Die Gründe dafür, dass dies gerade in England passierte, hat Ulrike Herrmann in ihrem lesenswerten Buch Der Sieg des Kapitals1 überzeugend dargelegt. Die Industrielle Revolution führte zu einem bis dahin nie gekannten ökonomischen Wachstum, das wesentlich auf der Nutzung neuartiger Maschinen basierte, die produktiver waren als der Mensch mit seinen traditionellen Werkzeugen. Seither hat noch jede bedeutsame technische Innovation als Wachstumsmotor gewirkt. Um nur die wichtigsten zu nennen: Elektrizität, Verbrennungsmotor, Stickstoffsynthese, Photozelle, Kernspaltung, Raketenantrieb, Halbleiter, Laser, Gentechnik, Internet. Dass diesen technischen Innovationen, abgesehen vom Internet, jeweils fundamentale naturwissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen, ist hinlänglich bekannt und sei hier nur am Rande erwähnt.2

Mit dem technischen Fortschritt wachsen auch die Bedürfnisse, oder, besser gesagt, durch innovative Produkte werden neue Bedürfnisse geweckt. Elektrizität ist die Voraussetzung für Beleuchtung, Kühlschränke, Fernseher, Computer usw. usf. Photoempfindliche Halbleiter sind die Basis von Digitalkameras. Laser tasten CD, DVD und Blue Ray ab oder erzeugen Hologramme auf Konzertbühnen. Hier ließe sich einwenden, dass die neuen Produkte alte, überholte verdrängen und so zumindest die Ressourcen, die zur Herstellung der alten Produkte benötigt wurden, nun eingespart werden. In den allermeisten Fällen jedoch sind die neuen Produkte technisch komplexer und benötigen mehr und vor allen Dingen andere Ressourcen als die alten. Bislang benötigten sie meist auch mehr Energie, sei es zu ihrer Herstellung, sei es zu ihrer Nutzung.3

Führen Innovationen zu einer Erhöhung der Produktivität, stellt sich die Sache noch deutlicher dar. Steigerung der Produktivität bedeutet, dass in der gleichen Zeit mehr produziert werden kann; das gilt auch für Dienstleistungen. Um zu vermeiden, dass durch eine höhere Produktivität mehr Güter produziert werden, könnte die Arbeitszeit gesenkt werden. Nur, in einer zunehmend automatisierten Produktion spielt die individuelle Arbeitszeit der Beschäftigten für den Produktionsausstoß eine immer geringere Rolle. Verkürzte Arbeitszeit bedingt einen adäquaten Lohnausgleich, sonst würde sie von den Beschäftigten nicht akzeptiert. Dass sich der Konsum dann verringern würde, ist schwer vorstellbar. Eher ist das Gegenteil wahrscheinlich: Mehr freie Zeit würde bei den meisten vielleicht nicht den Konsum materieller Güter erhöhen, gleichwohl aber den immaterieller wie Kultur, Reisen, Sport, deren Bereitstellung jedoch ebenfalls (materielle) Ressourcen benötigt.

Der folgende Exkurs in die Literatur soll das zweite Argument gegen Postwachstum illustrieren. In Der Gottkaiser des Wüstenplaneten, dem 1981 im englischen Original erschienenen vierten Band seiner Dune-Reihe, hat Frank Herbert versucht, eine statische Welt ohne Entwicklung zu beschreiben. Leto II., der sich im dritten Band auf dem Planeten Arrakis, dem Wüstenplaneten, mit dem Wurm vereinigt hatte, regiert als nahezu allmächtiges und nahezu allwissendes hybrides Wesen über eine auf unzähligen Planeten verstreute Menschheit. Seine, vom Vater Paul übernommene Mission besteht in nichts weniger als der Rettung jener Menschheit vor dem selbst verursachten Untergang.

















Leto II. Entwurf von HR. Giger für die gescheiterte Verfilmung durch A. Jodorowsky. Quelle: HR Giger

Wodurch der Untergang bewirkt werden könnte, wird nicht explizit thematisiert. Es wird allerdings angedeutet, dass die Menschheit vor tausenden von Jahren schon einmal kurz vor ihrer Selbstabschaffung stand und sich nur dadurch retten konnte, dass sie einen Krieg gegen die denkenden Maschinen führte, die dabei waren, die Herrschaft über die Menschen zu übernehmen, und nachfolgend Entwicklung und Nutzung denkender Maschinen unter Strafe stellte. Seither hat sie ihre Kreativität zuvörderst in die Entwicklung und Erweiterung der eigenen, menschlichen Fähigkeiten investiert, sei es durch Training, durch Einnahme von bewusstseinsverändernden Drogen oder durch gezielte Züchtung.

Letos II. verfolgt den Goldenen Pfad.4 Unter seiner Herrschaft kommt die Entwicklung der Menschheit für drei Jahrtausende zum Stillstand. Leto verfügt über hellseherische Fähigkeiten, mit denen er jedes Ereignis in seinem galaktischen Imperium wahrnehmen kann, über die Langlebigkeit des Wurms, mit dem er sich vereinigt hatte, und über eine loyale, nur aus Frauen bestehende Armee, die Fischredner. Er ist der Herr, sie sind seine Heerscharen. Auf Arrakis hat Leto die alleinige Verfügung über das Spice, die Substanz, ohne die es keine interstellare Raumfahrt gibt. So kommt die Raumfahrt nahezu komplett zum Erliegen, und damit verschwindet auch die vormals bestehende Einheit der Menschheit. Lediglich die Fischredner können sich ihrer auf Geheiß des Gottkaisers bedienen, wenn es gilt, auf irgendeinem Planeten eine Revolte niederzuschlagen. Technologische Entwicklungen sind bei Strafe verboten, und, wenn sie, wie auf dem Planeten IX, doch stattfinden, dann nur, wenn sie keine Bedrohung der Herrschaft Letos und von deren Zweck darstellen.

Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Menschen ein solches Regime auf Dauer nicht aushalten können. "Eine Wirklichkeit, die den Menschen entmündigt, führt zur Rebellion - ohne dass der Mensch es selbst will und merkt.", meint Alexander Kluge.5 Im Verlauf der Handlung wird auf vielerlei Weise versucht, den verhassten Herrscher zu töten, nicht nur seiner erdrückenden, die Freiheit beschränkenden Allmacht wegen, sondern auch wegen der verordneten Stagnation, dank der das Wort Zukunft seinen eigentlichen Sinn verloren hat. Denn was bedeutet schon Zukunft, wenn sie sich durch nichts von der Vergangenheit unterscheidet, wenn es nichts gibt, worauf man hoffen kann, weil alles so bleibt wie es ist? Der Mensch ist ein zukunftsorientiertes Wesen. Das Gehirn, sagt der in Ottawa lehrende Neurophilosoph Georg Northoff, ist ein Prognoseorgan. Leerstellen unserer Gegenwart füllt es mit Erwartungen. An einer Stelle des Buches heißt es, eine Bevölkerung ließe sich am besten kontrollieren, wenn sie sich nur auf dem Boden bewegt. Am Ende gelingt es Letos Nachkommen im Verein mit seinem hunderte mal geklonten besten Vertrauten, den Despoten zu töten.

Der Weg der erzwungenen Stagnation hat die Menschheit zwar erhalten, sie aber nicht auf den Goldenen Pfad gebracht. Dies wird sich in den zwei Folgebänden des Romans zeigen, die u. a. den Kampf um Technologien und um Ressourcen thematisieren. Die Menschheit ist verstreuter als je zuvor, die 3000 Jahre lang unterdrückten Konflikte sind in anderer Form und an anderer Stelle wieder aufgebrochen. Schlussendlich bleibt dem Leser ein letzter Funke Hoffnung, wenn nämlich zwei Nachfahren der einstigen Tyrannenmörder ins Ungewisse aufbrechen, um womöglich eine neue, vielleicht sogar bessere Menschheit zu begründen.

3. Degroth ist nur bei Akzeptanz der Abscheulichen Schlussfolgerung erreichbar.

Abschließend möchte ich ein ethisches Argument anführen, das an Überlegungen des britischen Moralphilosophen Derek Parfit anknüpft. Dieses Argument setzt allerdings voraus, dass man das Grundprinzip des Utilitarismus akzeptiert. Das mag im Land der Kant-Jünger als eine zu starke Voraussetzung erscheinen, realistischerweise jedoch muss man den Utilitarismus als global vorherrschende Metaethik ansehen, die auch vielen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen internationaler Organisationen, Gremien und Konferenzen zu Grunde liegt. Die ursprüngliche Formulierung des utilitaristischen Grundprinzips findet sich bereits 1725 im Inquiry into the Original of Our Ideas of Virtue or moral Good des schottischen Aufklä­rers Francis Hutcheson. Sie lautet: „Diejenige Haltung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ Parfit formuliert das utilitaristische Grundprinzip folgendermaßen um: „Unter gleichen Rahmenbedingungen ist es besser, wenn es eine größere Gesamtsumme an Glück gibt.“6 und nennt dies das Hedonistische Gesamtnutzenprinzip. Unter Glück ist dabei im einfachsten Fall das Maß an Lebensqualität, ausgedrückt in messbaren Größen, wie etwa Pro-Kopf-Einkommen, medizinischer Versorgungsgrad o. ä., zu verstehen.

Nach Prognosen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung bis 2100 auf über 10 Milliarden Menschen anwachsen. Ob danach, wie von vielen Forschern erwartet, die Zahl wieder sinkt, ist m. E. seriös nicht vorhersehbar, weil abhängig von zu vielen schwer abschätzbaren Faktoren. Das ist für meine Argumentation auch nicht von Belang; entscheidend ist, dass die Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten weiter wächst. 2017 lag das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf weltweit bei 10.366 US$. Der aktuelle Wert liegt sicher etwas höher. Würde eine Postwachstumsökonomie bei diesem Stand einsetzen, Ressourcenverbrauch und Güterproduktion also auf diesem Niveau stagnieren, bedeutete dies bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum bis 2100 eine Verringerung des Pro-Kopf-BNE um etwa ein Viertel. Angesichts der höchst ungleichen und sicher ungerechten Verteilung des Reichtums auf der Welt, die man der verlinkten BNE-Tabelle entnehmen kann, wäre dies in einem hypothetischen Szenario der andauernden Umverteilung unproblematisch.

Was hat das nun aber mit der Abstoßenden Schlussfolgerung zu tun? Die Abstoßende Schlussfolgerung besagt, dass es bei Zugrundelegung des Hedonistischen Gesamtnutzenprinzips unter sonst gleichen Bedingungen besser sein könnte, dass mehr Menschen ein Leben führen, das weniger lebenswert ist und vielleicht gerade noch so lebenswert wäre.7 Mit der Idee des Postwachstums wird ja das Ziel verfolgt, unsere materiellen Lebensgrundlagen dauerhaft zu erhalten. Wird dieses Ziel dem individuellen Einzelinteresse nach einem lebenswerten Leben übergeordnet, muss bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum auch die Abstoßende Schlussfolgerung akzeptiert werden. Damit soll nicht gesagt sein, dass Postwachstum unmoralisch wäre; ich möchte lediglich auf die Konsequenzen hinweisen, die in der aktuellen Lage der Menschheit damit verbunden wären; auch für seine Befürworter.

Weitere Probleme ergeben sich aus der Notwendigkeit, die pro Kopf knapper werdenden Ressourcen bzw. Güter zu verteilen. Es müsste wohl eine internationale Institution mit entsprechenden Vollmachten installiert werden, die aber, anders als der Gottkaiser Leto II., nicht dem gleichermaßen abstoßenden Hydraulischen Despotismus verfallen sollte. Die Zuteilung knapper Güter ist stets mit moralischen Dilemmata verbunden, erinnert sei nur an die Transplantationsmedizin oder das anfängliche Chaos bei der Corona-Impfkampagne. Eine Postwachstumsökonomie kann eben auch aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit keine Warenökonomie sein.

1 Ulrike Herrmann. Der Sieg des Kapitals. Westend Verlag 2013

2 Die Aufzählung endet bezeichnenderweise mit dem Internet, das aus dem in den 1960er Jahren zu militärischen Forschungszwecken entwickelten ARPANET hervorging. Das Internet, wie wir es heute kennen, ist ein Kind der 1980er Jahre und keineswegs gleichrangig mit den anderen aufgezählten Innovationen einzustufen. Allerdings hat es die Welt mindestens in gleichem Maße verändert wie diese. Mithin muss wohl ARPANET als die bislang letzte tiefgreifende technische Innovation angesehen werden. Bedenkt man, dass seither über 50 Jahre vergangen sind, gewinnt die vor einiger Zeit von Sahra Wagenknecht geäußerte These, dass der moderne, neoliberale, ausschließlich profitorientierte Kapitalismus innovationsfeindlich ist, eine gewisse Plausibilität. Mit der seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Wachstumsschwäche des Kapitalismus geht anscheinend auch eine Innovationsschwäche einher. Womöglich ist es sogar genau andersherum: Die Innovationsschwäche bewirkt die Wachstumsschwäche. Es bleibt abzuwarten, ob und wie bspw. CRISPR/Cas, KI oder Quantencomputer daran etwas ändern.

3 Alle politischen Vorgaben zur Senkung des Energieverbrauchs betrafen stets nur den Verbrauch bei Nutzung und nie den bei der Herstellung. Das zeigt sich exemplarisch an der andauernden Diskussion zur CO2-Gesamtbilanz von Elektroautos.

4 Der Autor und Deutschlandfunk-Moderator Benedikt Schulz hat sich Ende 2020 in einem hörens- (und lesenswerten Radio-Essay unter dem Titel Denken über tausend Generationen mit der Gedankenwelt von Frank Herberts Dune-Romanen im Kontext der Klimakrise beschäftigt.

5 Philosophie Magazin, 6/2021, S. 96

6 Derek Parfit. Personen, Normativität, Moral. Suhrkamp 2017, S. 380

7 Ebenda, S. 384, insbesondere Fußnote 8.

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