Sonntag, 14. November 2021

Der Traum vom Postwachstum

 Wehe denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken,
bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitzt!

Jesaja 5,8


Es steht außer Frage: Das globale ökonomische Weiterso wird langfristig zu gravierenden Veränderungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen bis hin zu deren Vernichtung führen. Der Earth Overshoot Day, der Erdüberlastungstag, der Tag eines Jahres also, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen in diesem Jahr übersteigt, rückt von Jahr zu Jahr im Kalender weiter nach vorn. Laut Wikipedia fiel er 1970 auf den 29. Dezember und war 2019 beim 29. Juli angekommen. Pandemiebedingt war 2020 eine leichte Erholung zu verzeichnen, die aber 2021 umgehend wieder wettgemacht wurde. Man schätzt, dass die Menschheit bereits 2050 doppelt so viele Ressourcen verbrauchen wird, wie die Erde dann bereitzustellen imstande ist. Bei der Bewertung der Schädlichkeit des Ressourcenverbrauchs sind zwei maßgeblich verantwortliche Phänomene zu unterscheiden: Da wir in einer Angebotsökonomie leben, in der sich erst am Markt entscheidet, ob eine Ware einen Käufer findet, herrscht objektiv, außer in Krisenzeiten, eine permanente Überproduktion und damit auch Unterkonsumtion. Es wird mehr produziert, als wir verbrauchen, und ein Teil der überschüssigen Waren kann (aus technischen wie aus wirtschaftlichen Gründen) nicht recycelt und in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden, wird also zu Müll. Aus unserer subjektiven Sicht haben wir es andererseits, im globalen Norden jedenfalls, mit einer Überkonsumtion zu tun: Wir verbrauchen mehr als wir benötigen und, darauf macht der Earth Overshoot Day aufmerksam, mehr als der Bio- und der Atmosphäre des Planeten zuträglich ist. Auch das eine Konsequenz der Angebotsökonomie.

Die Verantwortung für diese Entwicklung wird der dem Kapitalismus inhärenten wirtschaftlichen Wachstumsdynamik zugeschrieben. Häufig wird dabei von einer Wachstumsideologie gesprochen, so als ob es lediglich dem Willen der wirtschaftlichen Akteure zu verdanken sei, dass der Kapitalismus Wirtschaftswachstum und, damit einhergehend, extensiven Ressourcenverbrauch generiert. Als Gegenmittel gegen diese Ideologie wird seit einigen Jahren Postwachstum (Degroth) in Stellung gebracht. In Deutschland wird die Postwachstumsidee prominent von Nico Paech vertreten sowie zuletzt auch von Klaus Dörre und Hartmut Rosa mit ihrem 2019 abgeschlossenen Postwachstumskolleg an der Universität Jena. Hinter dem griffigen Namen verbirgt sich die Idee einer statischen bzw. stationären, sich im Gleichgewicht befindenden Volkswirtschaft, in der alle gesamtwirtschaftlichen Faktoren in einem langfristigen Gleichgewicht sind und sich nur noch selbst reproduzieren. In einer idealen Postwachstumsgesellschaft gäbe es weder Über- noch Unterkonsumtion. In ihr würde für eine konstante Bevölkerung mit konstantem Ressourcenverbrauch eine konstante Warenmenge erzeugt. Erreicht werden müsste dies zunächst durch erhebliche Schrumpfung, denn wie das diesjährige Datum des Erdüberlastungstags, 29. Juli, zeigt, müsste der globale Ressourcenverbrauch um ca. 43 % gesenkt werden, denn eine stationäre Wirtschaft auf dem aktuellen Level würde uns bei der Lösung der anstehenden Probleme ja keinen Deut weiterbringen. Selbst wenn kommenden Winter in Davos beschlossen würde, dass die Weltwirtschaft wie einst der kleine Blechtrommler Oskar Matzerath von jetzt auf gleich das Wachstum einstellt, brächte uns das im Kampf gegen Klimakrise, Artensterben, Bodenvernutzung und Ozeanvermüllung rein gar nichts. Es müsste weiter so lange geschrumpft werden, bis Bio- und Atmosphäre sich vom Anthropozän einigermaßen erholt haben, und der Verzicht, den die Menschen im globalen Norden, aber auch in den Schwellenländern zu leisten hätten, wäre enorm. Dennoch ist der Gedanke einer Befreiung vom Wachstumszwang gerade aus Sicht des einzelnen attraktiv, verbindet er doch damit auch die Hoffnung auf mehr Lebensqualität etwa durch radikal kürzere Arbeitszeit, weniger Konkurrenzdruck, fehlenden Konsumterror, gesündere Lebensweise etc. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche Postwachstumsgesellschaft realistischerweise überhaupt möglich ist. Nach meinem Dafürhalten gibt es gewichtige Argumente, die dagegen sprechen und die ich im Folgenden auszubuchstabieren versuche.

1. Unter sonst gleichen Bedingungen generieren Warenökonomien Wachstum.

Die kapitalistische Wirtschaft ist ganz offensichtlich eine Warenwirtschaft. Eine Ware ist ein Gut, das gegen andere Güter getauscht werden kann, dazu gehören auch Dienstleistungen. Die Warenförmigkeit der Güter ist eine Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Der Wert (= Tauschwert) einer Ware realisiert sich im Tauschvorgang, der im Kapitalismus auf dem Markt bzw. den Märkten stattfindet. Die universelle Tauschware, die Ware also, gegen die alle anderen Waren getauscht werden können und die somit als universeller Wertmaßstab am Markt auftritt, ist das Geld. Der (Geld-)Wert einer Ware bemisst sich nach dem Wert der zu ihrer Herstellung benötigten Ressourcen. In einer entwickelten, arbeitsteiligen Ökonomie sind diese Ressourcen ebenfalls Waren. Somit lässt sich der Geldwert einer Ware daran bemessen, wie viel Geld zu ihrer Herstellung eingesetzt wurde.

Man muss kein Anhänger der marxschen Arbeits- und Mehrwerttheorie sein, um einzusehen, dass die Kurzform der Waren- und Geldbewegung G – W – G´, wobei G´ > G, in einer Warenökonomie universelle Geltung hat. In der Politischen Ökonomie des Kapitalismus heißt die Differenz M = G´ - G Mehrwert, in der vor langer Zeit verschiedenen Politischen Ökonomie des Sozialismus, die offiziell keinen Markt kennen wollte, Mehrprodukt. Substanziell bezeichnen beide Begriffe das Gleiche. Mehrwert resp. Mehrprodukt entstehen in einer Warenökonomie gesamtgesellschaftlich allein schon deshalb, weil kein Warenproduzent, erst recht kein staatlicher Gesamtkapitalist, dauerhaft für Null- oder negativen Gewinn resp. Ertrag produzieren kann, und das aus einsichtigen Gründen. Zum einen sind Produzenten gezwungen zu (re-)investieren, um ihre Produktion dauerhaft aufrechterhalten zu können, und dafür benötigen sie Geld. Zum anderen geht, wer seine Ware zum Markt bringt, um sie dort zu verkaufen, das Risiko ein, auf ihr sitzen zu bleiben, weil dem Gebrauchswert der Ware gerade kein Bedarf gegenüber steht, und für diesen Fall muss vorgesorgt, sprich, es müssen Rücklagen gebildet werden.

Das auf dem Markt benötigte Mehrgeld bereitzustellen, ist Aufgabe der Banken. Um Wachstumszwang zu erzeugen, bedarf es also gar nicht des Drucks durch den Kreditzins, wie manche geltend machen. Auch eine Null-Zins-Ökonomie wächst, wie wir seit einigen Jahren in der Eurozone beobachten können. Vielmehr ist es doch so, dass die EZB ihre aktuelle Null-Zins-Politik gerade zur Beförderung von Investitionen, also Wachstum, verfolgt.

Nun könnte man einwenden, das dem Warentausch intrinsische Geldwachstum müsse nicht notwendigerweise zu einem Wachstum des Ressourcenverbrauchs, um den es ja den Anhängern der Postwachstumsidee geht, führen. Fraglich ist allerdings, wie anders als in Investitionen, die ganz sicher Ressourcen benötigen, das Mehrgeld eingesetzt wird. Die Frage stellt sich gleichermaßen, wenn Schrumpfgeld-Theorien eingebracht werden, deren Umsetzung erst recht zu mehr Konsum mit entsprechendem Ressourcenverbrauch führen würde.

Post-, will heißen Null- oder Negativ-Wachstum wird in einer arbeitsteiligen, Waren tauschenden, marktbasierten Ökonomie unter normalen, also nicht krisenhaften Bedingungen, nicht erreichbar sein, es sei denn durch bewusste und andauernde Zerstörung von Werten.

2. Technischer Fortschritt bewirkt Wachstum.

Der Kapitalismus beginnt im England des 18. Jahrhunderts mit technischen Innovationen – mechanischer Webstuhl und Dampfmaschine werden erfunden, die Industrielle Revolution wird eingeläutet. Die Gründe dafür, dass dies gerade in England passierte, hat Ulrike Herrmann in ihrem lesenswerten Buch Der Sieg des Kapitals1 überzeugend dargelegt. Die Industrielle Revolution führte zu einem bis dahin nie gekannten ökonomischen Wachstum, das wesentlich auf der Nutzung neuartiger Maschinen basierte, die produktiver waren als der Mensch mit seinen traditionellen Werkzeugen. Seither hat noch jede bedeutsame technische Innovation als Wachstumsmotor gewirkt. Um nur die wichtigsten zu nennen: Elektrizität, Verbrennungsmotor, Stickstoffsynthese, Photozelle, Kernspaltung, Raketenantrieb, Halbleiter, Laser, Gentechnik, Internet. Dass diesen technischen Innovationen, abgesehen vom Internet, jeweils fundamentale naturwissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen, ist hinlänglich bekannt und sei hier nur am Rande erwähnt.2

Mit dem technischen Fortschritt wachsen auch die Bedürfnisse, oder, besser gesagt, durch innovative Produkte werden neue Bedürfnisse geweckt. Elektrizität ist die Voraussetzung für Beleuchtung, Kühlschränke, Fernseher, Computer usw. usf. Photoempfindliche Halbleiter sind die Basis von Digitalkameras. Laser tasten CD, DVD und Blue Ray ab oder erzeugen Hologramme auf Konzertbühnen. Hier ließe sich einwenden, dass die neuen Produkte alte, überholte verdrängen und so zumindest die Ressourcen, die zur Herstellung der alten Produkte benötigt wurden, nun eingespart werden. In den allermeisten Fällen jedoch sind die neuen Produkte technisch komplexer und benötigen mehr und vor allen Dingen andere Ressourcen als die alten. Bislang benötigten sie meist auch mehr Energie, sei es zu ihrer Herstellung, sei es zu ihrer Nutzung.3

Führen Innovationen zu einer Erhöhung der Produktivität, stellt sich die Sache noch deutlicher dar. Steigerung der Produktivität bedeutet, dass in der gleichen Zeit mehr produziert werden kann; das gilt auch für Dienstleistungen. Um zu vermeiden, dass durch eine höhere Produktivität mehr Güter produziert werden, könnte die Arbeitszeit gesenkt werden. Nur, in einer zunehmend automatisierten Produktion spielt die individuelle Arbeitszeit der Beschäftigten für den Produktionsausstoß eine immer geringere Rolle. Verkürzte Arbeitszeit bedingt einen adäquaten Lohnausgleich, sonst würde sie von den Beschäftigten nicht akzeptiert. Dass sich der Konsum dann verringern würde, ist schwer vorstellbar. Eher ist das Gegenteil wahrscheinlich: Mehr freie Zeit würde bei den meisten vielleicht nicht den Konsum materieller Güter erhöhen, gleichwohl aber den immaterieller wie Kultur, Reisen, Sport, deren Bereitstellung jedoch ebenfalls (materielle) Ressourcen benötigt.

Der folgende Exkurs in die Literatur soll das zweite Argument gegen Postwachstum illustrieren. In Der Gottkaiser des Wüstenplaneten, dem 1981 im englischen Original erschienenen vierten Band seiner Dune-Reihe, hat Frank Herbert versucht, eine statische Welt ohne Entwicklung zu beschreiben. Leto II., der sich im dritten Band auf dem Planeten Arrakis, dem Wüstenplaneten, mit dem Wurm vereinigt hatte, regiert als nahezu allmächtiges und nahezu allwissendes hybrides Wesen über eine auf unzähligen Planeten verstreute Menschheit. Seine, vom Vater Paul übernommene Mission besteht in nichts weniger als der Rettung jener Menschheit vor dem selbst verursachten Untergang.

















Leto II. Entwurf von HR. Giger für die gescheiterte Verfilmung durch A. Jodorowsky. Quelle: HR Giger

Wodurch der Untergang bewirkt werden könnte, wird nicht explizit thematisiert. Es wird allerdings angedeutet, dass die Menschheit vor tausenden von Jahren schon einmal kurz vor ihrer Selbstabschaffung stand und sich nur dadurch retten konnte, dass sie einen Krieg gegen die denkenden Maschinen führte, die dabei waren, die Herrschaft über die Menschen zu übernehmen, und nachfolgend Entwicklung und Nutzung denkender Maschinen unter Strafe stellte. Seither hat sie ihre Kreativität zuvörderst in die Entwicklung und Erweiterung der eigenen, menschlichen Fähigkeiten investiert, sei es durch Training, durch Einnahme von bewusstseinsverändernden Drogen oder durch gezielte Züchtung.

Letos II. verfolgt den Goldenen Pfad.4 Unter seiner Herrschaft kommt die Entwicklung der Menschheit für drei Jahrtausende zum Stillstand. Leto verfügt über hellseherische Fähigkeiten, mit denen er jedes Ereignis in seinem galaktischen Imperium wahrnehmen kann, über die Langlebigkeit des Wurms, mit dem er sich vereinigt hatte, und über eine loyale, nur aus Frauen bestehende Armee, die Fischredner. Er ist der Herr, sie sind seine Heerscharen. Auf Arrakis hat Leto die alleinige Verfügung über das Spice, die Substanz, ohne die es keine interstellare Raumfahrt gibt. So kommt die Raumfahrt nahezu komplett zum Erliegen, und damit verschwindet auch die vormals bestehende Einheit der Menschheit. Lediglich die Fischredner können sich ihrer auf Geheiß des Gottkaisers bedienen, wenn es gilt, auf irgendeinem Planeten eine Revolte niederzuschlagen. Technologische Entwicklungen sind bei Strafe verboten, und, wenn sie, wie auf dem Planeten IX, doch stattfinden, dann nur, wenn sie keine Bedrohung der Herrschaft Letos und von deren Zweck darstellen.

Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Menschen ein solches Regime auf Dauer nicht aushalten können. "Eine Wirklichkeit, die den Menschen entmündigt, führt zur Rebellion - ohne dass der Mensch es selbst will und merkt.", meint Alexander Kluge.5 Im Verlauf der Handlung wird auf vielerlei Weise versucht, den verhassten Herrscher zu töten, nicht nur seiner erdrückenden, die Freiheit beschränkenden Allmacht wegen, sondern auch wegen der verordneten Stagnation, dank der das Wort Zukunft seinen eigentlichen Sinn verloren hat. Denn was bedeutet schon Zukunft, wenn sie sich durch nichts von der Vergangenheit unterscheidet, wenn es nichts gibt, worauf man hoffen kann, weil alles so bleibt wie es ist? Der Mensch ist ein zukunftsorientiertes Wesen. Das Gehirn, sagt der in Ottawa lehrende Neurophilosoph Georg Northoff, ist ein Prognoseorgan. Leerstellen unserer Gegenwart füllt es mit Erwartungen. An einer Stelle des Buches heißt es, eine Bevölkerung ließe sich am besten kontrollieren, wenn sie sich nur auf dem Boden bewegt. Am Ende gelingt es Letos Nachkommen im Verein mit seinem hunderte mal geklonten besten Vertrauten, den Despoten zu töten.

Der Weg der erzwungenen Stagnation hat die Menschheit zwar erhalten, sie aber nicht auf den Goldenen Pfad gebracht. Dies wird sich in den zwei Folgebänden des Romans zeigen, die u. a. den Kampf um Technologien und um Ressourcen thematisieren. Die Menschheit ist verstreuter als je zuvor, die 3000 Jahre lang unterdrückten Konflikte sind in anderer Form und an anderer Stelle wieder aufgebrochen. Schlussendlich bleibt dem Leser ein letzter Funke Hoffnung, wenn nämlich zwei Nachfahren der einstigen Tyrannenmörder ins Ungewisse aufbrechen, um womöglich eine neue, vielleicht sogar bessere Menschheit zu begründen.

3. Degroth ist nur bei Akzeptanz der Abscheulichen Schlussfolgerung erreichbar.

Abschließend möchte ich ein ethisches Argument anführen, das an Überlegungen des britischen Moralphilosophen Derek Parfit anknüpft. Dieses Argument setzt allerdings voraus, dass man das Grundprinzip des Utilitarismus akzeptiert. Das mag im Land der Kant-Jünger als eine zu starke Voraussetzung erscheinen, realistischerweise jedoch muss man den Utilitarismus als global vorherrschende Metaethik ansehen, die auch vielen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen internationaler Organisationen, Gremien und Konferenzen zu Grunde liegt. Die ursprüngliche Formulierung des utilitaristischen Grundprinzips findet sich bereits 1725 im Inquiry into the Original of Our Ideas of Virtue or moral Good des schottischen Aufklä­rers Francis Hutcheson. Sie lautet: „Diejenige Haltung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ Parfit formuliert das utilitaristische Grundprinzip folgendermaßen um: „Unter gleichen Rahmenbedingungen ist es besser, wenn es eine größere Gesamtsumme an Glück gibt.“6 und nennt dies das Hedonistische Gesamtnutzenprinzip. Unter Glück ist dabei im einfachsten Fall das Maß an Lebensqualität, ausgedrückt in messbaren Größen, wie etwa Pro-Kopf-Einkommen, medizinischer Versorgungsgrad o. ä., zu verstehen.

Nach Prognosen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung bis 2100 auf über 10 Milliarden Menschen anwachsen. Ob danach, wie von vielen Forschern erwartet, die Zahl wieder sinkt, ist m. E. seriös nicht vorhersehbar, weil abhängig von zu vielen schwer abschätzbaren Faktoren. Das ist für meine Argumentation auch nicht von Belang; entscheidend ist, dass die Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten weiter wächst. 2017 lag das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf weltweit bei 10.366 US$. Der aktuelle Wert liegt sicher etwas höher. Würde eine Postwachstumsökonomie bei diesem Stand einsetzen, Ressourcenverbrauch und Güterproduktion also auf diesem Niveau stagnieren, bedeutete dies bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum bis 2100 eine Verringerung des Pro-Kopf-BNE um etwa ein Viertel. Angesichts der höchst ungleichen und sicher ungerechten Verteilung des Reichtums auf der Welt, die man der verlinkten BNE-Tabelle entnehmen kann, wäre dies in einem hypothetischen Szenario der andauernden Umverteilung unproblematisch.

Was hat das nun aber mit der Abstoßenden Schlussfolgerung zu tun? Die Abstoßende Schlussfolgerung besagt, dass es bei Zugrundelegung des Hedonistischen Gesamtnutzenprinzips unter sonst gleichen Bedingungen besser sein könnte, dass mehr Menschen ein Leben führen, das weniger lebenswert ist und vielleicht gerade noch so lebenswert wäre.7 Mit der Idee des Postwachstums wird ja das Ziel verfolgt, unsere materiellen Lebensgrundlagen dauerhaft zu erhalten. Wird dieses Ziel dem individuellen Einzelinteresse nach einem lebenswerten Leben übergeordnet, muss bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum auch die Abstoßende Schlussfolgerung akzeptiert werden. Damit soll nicht gesagt sein, dass Postwachstum unmoralisch wäre; ich möchte lediglich auf die Konsequenzen hinweisen, die in der aktuellen Lage der Menschheit damit verbunden wären; auch für seine Befürworter.

Weitere Probleme ergeben sich aus der Notwendigkeit, die pro Kopf knapper werdenden Ressourcen bzw. Güter zu verteilen. Es müsste wohl eine internationale Institution mit entsprechenden Vollmachten installiert werden, die aber, anders als der Gottkaiser Leto II., nicht dem gleichermaßen abstoßenden Hydraulischen Despotismus verfallen sollte. Die Zuteilung knapper Güter ist stets mit moralischen Dilemmata verbunden, erinnert sei nur an die Transplantationsmedizin oder das anfängliche Chaos bei der Corona-Impfkampagne. Eine Postwachstumsökonomie kann eben auch aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit keine Warenökonomie sein.

1 Ulrike Herrmann. Der Sieg des Kapitals. Westend Verlag 2013

2 Die Aufzählung endet bezeichnenderweise mit dem Internet, das aus dem in den 1960er Jahren zu militärischen Forschungszwecken entwickelten ARPANET hervorging. Das Internet, wie wir es heute kennen, ist ein Kind der 1980er Jahre und keineswegs gleichrangig mit den anderen aufgezählten Innovationen einzustufen. Allerdings hat es die Welt mindestens in gleichem Maße verändert wie diese. Mithin muss wohl ARPANET als die bislang letzte tiefgreifende technische Innovation angesehen werden. Bedenkt man, dass seither über 50 Jahre vergangen sind, gewinnt die vor einiger Zeit von Sahra Wagenknecht geäußerte These, dass der moderne, neoliberale, ausschließlich profitorientierte Kapitalismus innovationsfeindlich ist, eine gewisse Plausibilität. Mit der seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Wachstumsschwäche des Kapitalismus geht anscheinend auch eine Innovationsschwäche einher. Womöglich ist es sogar genau andersherum: Die Innovationsschwäche bewirkt die Wachstumsschwäche. Es bleibt abzuwarten, ob und wie bspw. CRISPR/Cas, KI oder Quantencomputer daran etwas ändern.

3 Alle politischen Vorgaben zur Senkung des Energieverbrauchs betrafen stets nur den Verbrauch bei Nutzung und nie den bei der Herstellung. Das zeigt sich exemplarisch an der andauernden Diskussion zur CO2-Gesamtbilanz von Elektroautos.

4 Der Autor und Deutschlandfunk-Moderator Benedikt Schulz hat sich Ende 2020 in einem hörens- (und lesenswerten Radio-Essay unter dem Titel Denken über tausend Generationen mit der Gedankenwelt von Frank Herberts Dune-Romanen im Kontext der Klimakrise beschäftigt.

5 Philosophie Magazin, 6/2021, S. 96

6 Derek Parfit. Personen, Normativität, Moral. Suhrkamp 2017, S. 380

7 Ebenda, S. 384, insbesondere Fußnote 8.

Freitag, 6. August 2021

Die kommende Gemeinschaft. Teil 2

Drei weiße Flecken marxistischer Theorie


Ich weiß nichts von der kommenden Welt,
ein Schleier verwehrt mir die Blicke.
Ich wuchs, eine Blume im zerschossenen Feld,
mein Frühling geriet unter bleischwere Tritte.
Stirbt die Erde oder muß sie qualvoll gebären?
Ich fiel, ein glühender Stein.
Und ich bin glücklich: welch ein Bewähren,
welch Auserwähltsein.

Ilja Ehrenburg 


In seinen frühen, der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel, Feuerbach und den Junghegelianern gewidmeten Texten hatte Marx im Verein mit Engels damit begonnen, eine Art des Philosophierens jenseits aller traditionellen Denksysteme zu entwickeln, deren Kern eine radikale Ausrichtung an der menschlichen Tätigkeit als immer schon gesellschaftlicher Praxis ausmacht. Seinen prägnantesten Ausdruck findet dieser Ansatz in den berühmten „Thesen über Feuerbach“, deren achte lautet:

Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.

Die deutsche Ideologie“ von 1845/46 entwickelte das materialistische, praxisphilosophische Konzept fort, blieb aber bekanntlich Fragment und wurde, wie auch die „Thesen“, erst posthum veröffentlicht. Zu einer weiteren expliziten Ausgestaltung kam es anschließend nicht mehr. Marx widmete sich vornehmlich der politischen Ökonomie, Engels hingegen später der Naturphilosophie. So blieben diese „Gründungsdokumente“ des historischen Materialismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ohne nennenswerten Einfluss auf die marxistische Theoriebildung, und als sie schließlich u. a. von der Kritischen Theorie für einen Gegenentwurf zum historischen Materialismus leninistischer resp. stalinistischer Prägung in Anspruch genommen wurden, führte dies zu teils erbitterten publizistischen Auseinandersetzungen, dokumentiert u. a. in der Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie“, die zwischen 1971 und 1984 im Akademie Verlag Berlin erschien.

Es ist, wie ich glaube, ein müßiges Unterfangen, Vermutungen darüber anzustellen, wie sich marxistische Theorie nach Marx entwickelt hätte, wären die Texte bekannt gewesen, zumal der faktische Theoriestillstand zwischen 1917 und 1960 (ausgenommen Gramsci und Lukács) ja eine eminent politische Ursache hatte. Dass also marxistische Philosophie und Gesellschaftstheorie klassischer, d. h. sowjetideologischer Provenienz drei große weiße Flecken aufweist, nämlich das Individuum, die Ethik und die Demokratie, kann eben nicht mit Unkenntnis dieser Texte begründet werden.

Marx´ frühe Schriften verfolgten nicht das Ziel, im Anschluss an Hegel und Feuerbach eine neue, systematische Philosophie zu entwickeln, vielmehr sind sie als Kritik und Therapie einer vom realen Menschen in seinen realen Verhältnissen entfremdeten Theoriebildung zu verstehen und bedeuten, wie verschiedentlich festgestellt, eine Abkehr von der Philosophie. Gerald Hubmann, Mitherausgeber der MEGA, drückt dies gegenüber dem Deutschlandfunk folgendermaßen aus:

Bezogen auf die deutsche Ideologie kann man sagen, Marx und Engels üben Kritik an der Philosophie und sie verlassen die Philosophie – das ist die Aussage der Deutschen Ideologie! Sie verlassen die Philosophie zugunsten einerseits in Richtung – wie sie immer wieder sagen – empirischer positiver Wissenschaft, und andererseits in Richtung Politik.

Gänzlich ohne Philosophie kommt der historische Materialismus dann aber doch nicht aus. Das stellte sich bereits zu Lebzeiten der beiden Gründerväter heraus, denn zum einen sah er sich natürlich dort, wo er nicht schlichtweg ignoriert wurde, den Anfechtungen der Vertreter der traditionellen, bürgerlichen Ideologie ausgesetzt, zum anderen mussten auch Miss- und Unverständnisse in den eigenen Reihen ausgeräumt werden. Marx schrieb 1847 „Das Elend der Philosophie“, Engels 1877 den „Anti-Dühring“. Von einer systematischen Entwicklung einer marxschen oder engelsschen Philosophie kann hingegen keine Rede sein. So blieb es den i. d. R. minderbegabten Nachfolgern überlassen, den Rohbau zu vervollständigen, und das hieß zunächst einmal, ein brauchbares Fundament unter ihn zu legen, das man in Hegels Logik gefunden zu haben glaubte. Die oben benannten weißen Flecken marxistischer Theorie jedoch blieben.

Demokratie

Im Zuge der russischen Revolution 1917 erklärten die Bolschewiki die selbst noch junge repräsentative bürgerliche Demokratie zu ihrem politischen Gegner. Kurz zuvor beschrieb Lenin in „Staat und Revolution“ die anzustrebende Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats als Räteordnung, die einige Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkrieges, mit der Gründung der Sowjetunion und ihrer Sowjetrepubliken Realität wurde. Auch wenn nach dem Zweiten Weltkrieg andernorts im sowjetischen Herrschaftsbereich nominell sozialistische oder Volksdemokratien errichtet wurden, galten diese in der Theorie doch nur als Übergangsformen, und unter dem Deckmantel parlamentarischer Repräsentation de jure wirkte das Prinzip des demokratischen Zentralismus, was de facto nichts anderes bedeutete als Herrschaft der Partei auf allen Ebenen. Bis in die Zeit der Perestroika galt dies als unumstößliches Dogma.

Der Sozialphilosoph Axel Honneth hat darauf hingewiesen, dass die Vernach­lässigung der Demokratiefrage ihre Wurzeln bereits bei den Frühsozialisten hat.

Welche Gründungsdokumente der sozialistischen Bewegung auch herangezogen werden, überall stößt man auf dieselbe Tendenz, zugleich mit den liberalen Freiheitsrechten auch der auf ihnen gegründeten Willensbildung unter freien und gleichen Staatsbürgern keine Rolle mehr beim organisatorischen Aufbau der zukünftigen Gesellschaft beizumessen; diese neue Organisationsform des Sozialen sollte vielmehr dadurch charakterisiert sein, daß die Subjekte einzig und allein durch ihre Mitwirkung an der kooperativen Produktion in die Gesellschaft einbezogen werden, wodurch sie zwar gemeinsam ihre soziale Freiheit verwirklichen können, aber nicht mehr um ihre individuelle Selbstbestimmung bekümmert sein müssen. Die Folge des damit umrissenen Zukunftsentwurfs war die Unfähigkeit, aus der eigenen Doktrin heraus noch einen normativen Zugang zur politischen Sphäre zu finden.1

Diese langanhaltende Unfähigkeit bestätigt 1973 ein Text aus der erwähnten Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“, in dem apologetisch der bürgerlichen die sozialistische Demokratie als neuer Typ der Demokratie gegenüber gestellt wird und deren Zustandekommen rein ökonomisch mit dem Wegfall der privatkapitalistischen Ausbeutung erklärt wird. Wörtlich heißt es dort:

Die sozialistische Revolution vernichtet folglich nicht die Demokratie, sondern erweitert sie, indem sie sie mit neuem sozialen Inhalt erfüllt und sie allseitig als neuen Typ der Demokratie entwickelt. Der Aufbau des Sozialismus bringt den Werktätigen nach Lenin doppelte Befreiung. Erstens werden sie von der Klassenunterdrückung, von der klassenmäßigen Ungleichheit und von der Ausbeutung befreit, die die bürgerliche Demokratie begleiten… Daher werden die Werktätigen zweitens von der Anarchie der Produktion, von der ruhelosen Konkurrenz, den Krisen, der Arbeitslosigkeit befreit, die mit der bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsordnung untrennbar verbunden sind. Diese ökonomischen und sozialen Veränderungen in der sozialistischen Gesellschaft führen zur Befreiung kolossaler politischer Kräfte.2

Nach dieser Doktrin determiniert die veränderte ökonomische Basis notwendigerweise den politischen Überbau – ökonomische Freiheit schafft politische Freiheit. Das ist schlicht der gleiche mechanistische Unsinn, der auch in der ökonomischen Theorie des Sozialismus geltend gemacht wurde, indem man postulierte, veränderte Eigentumsverhältnisse führten per se zu einer anderen Art des Wirtschaftens. Der institutionalisierte, der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus verfügte über keinerlei politische Theorie und somit auch über keinerlei Theorie einer sozialistischen Demokratie.

Ethik

Nicht anders steht es um die sozialistische Ethik: Es gibt sie nicht. Bezeichnend ist, dass ein erstes Hochschullehrbuch der Ethik erst 1985, also wenige Jahre vor dem Ableben der DDR erschien. In diesem wird bemerkenswerterweise auf eine, auch vom ideologischen Gegner gern ins Feld geführte Aussage Lenins Bezug genommen, wonach dieser Werner Sombarts Behauptung als richtig anerkannte, „daß es ‚im ganzen Marxismus von vorn bis hinten auch nicht ein Gran Ethik“ gäbe: in theoretischer Beziehung ordne dieser den „ethischen Standpunkt“ dem „Prinzip der Kausalität“ unter; in praktischer Beziehung laufe er bei ihm auf den Klassenkampf hinaus.3

Die Gründe für das Fehlen einer Ethik im eigentlichen Sinne, für den Verlust gewisser moralischer Grundsätze überhaupt, lassen sich wiederum im Früh­sozialismus und bei Marx selbst ausmachen. Sowohl die Frühsozialisten als auch Marx waren ursprünglich von zutiefst humanistischen Motiven geleitet. So schreibt er in der Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“:

Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Mensch sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Und in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 heißt es nicht ohne Pathos:

Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus Humanismus, als vollendeter Humanismus Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.

Diesen, von einer humanistischen Moral getriebenen, auf die volle Entfaltung der individuellen menschlichen Persönlichkeit abzielenden Impetus wird Marx jedoch nicht aufrechterhalten. Wohl unter dem Einfluss seiner eigenen kühlen Analyse des Kapitalismus kommt er in dem erst 1893 von Engels fertiggestellten und edierten dritten Band des „Kapitals“ zu einer anderen Erzählung.

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion… Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen... Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.

Solange der Mensch in die materielle Produktion eingebunden ist, bleibt er notwendigerweise unfrei. Die Gemeinschaft der assoziierten Produzenten wird gebildet von unfreien, vergesellschafteten Individuen, die sich der Notwendigkeit des Klassenkampfes so lange unterwerfen, bis in einer fernen Zukunft am Horizont das wahre Reich der Freiheit aufscheint. Im institutionalisierten Sozialismus wurde dies als Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit zum historisch-materialistischen Gesetz erklärt und den Kindern möglichst frühzeitig eingebläut. Im besagten Hochschullehrbuch der Ethik liest man dazu:

In den moralischen Prinzipien ist auf besondere Weise das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit in der Moral erfaßt. Sie zu befolgen, verlangt von den tätigen Subjekten, das bewußte, der Entscheidung und Tat vorausgehende Aussondern subjektiv nicht annehmbarer Motive an allgemeinsten objektiven Maßstäben zu orientieren und zu optimieren.4

Die herrschende Moral ist stets die Moral der Herrschenden. In der realsozialistischen Lesart war es die Moral der Arbeiterklasse und ihrer Partei. Und diese Moral folgte bezeichnenderweise einem, dem Utilitarismus nicht unähnlichen Nützlichkeitsprinzip: Gut ist, was der Klasse nützt. Alles andere ist Ausdruck eines zu überwindenden kleinbürgerlichen Individualismus. Nicht das größtmögliche Glück für möglichst viele Menschen ist Ziel und Zweck moralischen Handelns, sondern ausschließlich das Interesse der Arbeiterklasse. Der kategorische Imperativ hingegen wurde mindestens innerhalb der Partei abgelehnt: Auch wenn der fehlgegangene Genosse mit seinem Tun nur die besten Absichten im genannten quasi-utilitaristischen Sinn hegte, war er doch zu verurteilen, hatte sich selbst zu kritisieren, wurde degradiert oder, wie in den berüchtigten stalinistischen Schau­prozessen der 1930er Jahren, gar juristisch belangt bis hin zur Todesstrafe, wenn sein Handeln, nach Ansicht der Parteioberen, objektiv den Interessen des Klassenfeindes genützt hatte.

In der Erziehung der Kinder und Jugendlichen wurde eine Art Tugendethik verfolgt. Die entsprechenden moralischen Prinzipien sind im Wesentlichen normative, wie Humanität, gewissenhafte Arbeit, Kollektivität und Solidarität sowie sozialistischer Patriotismus und proletarischer Internationalismus. Klassische Werte, wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Glück werden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Für das alltägliche Handeln der Menschen waren die genannten Prinzipien praktisch bedeutungslos. Hier zeigte sich vielmehr das, was Richard Rorty einmal grundsätzlich über ethische Prinzipien angemerkt hat, dass sie nämlich nur in Situationen zur Anwendung kommen, in denen, es Gründe gibt, bisher unbezweifelte moralische Gemeinplätze zu beanstanden oder in denen wir völlig neuen Problemen gegenüberstehen. Praktiziert wurde vielmehr eine Art preußisch-protestantischer Arbeitsethik, geprägt von Anstand, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft. Nicht ohne Grund nannte Günter Gauss einst die DDR das „Land der kleinen Leute“.

Individuum

Im Marxismus verschwindet das Indivuum in der Klasse. Die Person erscheint als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie verstrickt ist, und da diese klassengebunden sind, ist auch die Person zuallererst Teil ihrer Klasse, und das individuelle Bewusstsein ist Teil des Klassenbewusstseins. In Ausarbeitung der 6. Feuerbachthese verabschieden sich Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ nachhaltig von der klassischen deutschen Subjektphilosophie.

Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind… Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.

Dass das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt und dieses wiederum das individuelle, wurde im Marxismus zu einem ehernen Dogma. Lange Zeit weitgehend unbeantwortet blieb dabei die Frage, wie die Individualität, die Person, das Bewusstsein als Bewusstsein seiner selbst aus dem Sein heraus entsteht. Bis weit hinein in das 20. Jahrhundert ist diese Frage ohne jegliche Bedeutung für die offizielle Ideologie des institutionalisierten Sozialismus. Dabei würde doch eine wissenschaftliche Begründung dieses zentralen Dogmas des historischen Materialismus entscheidend zu dessen Grundlegung beitragen. Vorerst aber herrscht Klassenkampf, und in dem wird das Individuum im russischen Bürgerkrieg, im GULag, bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, bei der forcierten Industrialisierung und auf den Schlachtfeldern des Großen Vaterländischen Krieges zu höheren Zwecken vernutzt.

Allerdings entsteht Mitte der 1920er Jahre, jenseits der großen ideologischen Linien die Kulturhistorische Schule der Psychologie mit ihren wichtigsten Vertretern Lew Semjonowitsch Wygotski, Alexander Romanowitsch Lurija und Alexej Nikolajewitsch Leontjew sowie später auch Sergei Leonidowitsch Rubinstein. Sie entwickeln eine Tätigkeitstheorie der Entstehung des Bewusstsein und der Persönlichkeit auf nominell marxistischer Grundlage. In der beginnenden Stalin-Ära mit ihren zunehmenden Repressionen gegen jeden, der auch nur im Geringsten von irgendeinem, aus welchen Gründen auch immer offiziell dekretierten Kurs abweicht, sieht sich insbesondere Wygotski scharfen ideologischen Angriffen auf seine Theorie ausgesetzt, deren Folge nicht nur ein Publikationsverbot ist. Bis nach Stalins Tod ist Wygotskis Name aus der Literatur verschwunden, und sein Hauptwerk „Denken und Sprechen“5 kann erst 1956 wieder erscheinen. In „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ hat Leontjew die Tätigkeitstheorie weiterentwickelt, während Rubinstein in den „Grundlagen der allgemeinen Psychologie“ eine Theorie der historischen Entwicklung des Bewusstseins vorlegt. Außerhalb der Sowjetunion wird die Tätigkeitstheorie erst in den 1960er Jahren wahrgenommen. In den Ländern des Ostblocks hat sie bis 1989 kaum genug Zeit, wirksam zu werden.

Etwa zur gleichen Zeit wie Wygotski in Moskau und Leningrad entwickelt George Herbert Mead in Chicago eine handlungsorientierte, interaktionistische Theorie der Bewusstseins- und Individualentwicklung, auf die später noch zurück­zukommen sein wird.

1Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus, Berlin 2017, S. 62f

2Panajot Gindev, Die Diktatur des Proletariats und ihre ›Kritiker‹, Berlin und Frankfurt/M. 1973, S. 85

3Zitiert nach: Helga Hörz u.a., Ethik, Berlin 1989

4Helga Hörz u.a., Ethik, Berlin 1989, S. 132

5Lev Semenovic Vygotskij, Denken und Sprechen, Weinheim und Basel, 2017

Die kommende Gemeinschaft. Teil 1

Montag, 22. Februar 2021

Die kommende Gemeinschaft. Teil 1

Es ist nicht deine Aufgabe, die Arbeit zu vollenden,
aber du hast nicht das Recht, dich ihr zu entziehen.

Rabbi Tarfon

Der Mensch lernt nicht aus Fehlern, und er lernt auch nicht aus Krisen. Fehler kann man korrigieren, Krisen überwinden. Danach geht alles weiter wie zuvor. Katastrophen mit Folgen existenzieller Art jedoch graben sich ein in das kollektive Gedächtnis. Sie können, müssen aber nicht notwendigerweise zu einer veränderten Sicht auf die Welt und auf uns selbst führen und gesellschaftlichen wie moralischen Fortschritt befördern. Im Mythos von der Sintflut könnten nach Ansicht der Wissenschaft mehrere katastrophale Naturereignisse verarbeitet worden sein – die Schmelze zum Ende der letzten Eiszeit, der Durchbruch der Landbarriere zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer oder ein Tsunami infolge eines massiven Vulkanausbruchs. Auf jeden Fall zeugt der Mythos von der existenziellen Bedrohung durch die Katastrophe und von der veränderten Weltsicht der Überlebenden.

Neben solchen Katastrophen natürlichen Ursprungs kennt die Geschichte auch Katastrophen, die vom Menschen selbst verursacht wurden. Einige Wissenschaftler meinen, dass der Zusammenbruch ganzer Hochkulturen in Mittelamerika und in Südostasien auf den extensiven Verbrauch natürlicher Ressourcen zurückzuführen ist. Für manch einen war der Zusammenbruch des institutionalisierten Sozialismus in den Jahren 1989/90 eine Katastrophe, eine Katastrophe mit Ansage. Ich führe dieses Ereignis deshalb an, weil es m. E. zeigt, dass eine gerade eben noch machtvoll und stabil erscheinende Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit aufgrund unbewältigter innerer Widersprüche kollabieren kann.

Die aktuelle, seit über einem Jahr anhaltende Corona-Pandemie ist zweifelsohne eine Krise globalen Ausmaßes. Niemand kann sicher prognostizieren, wie lange sie noch anhalten und wie die Welt aus ihr herauskommen wird. Nicht ausgeschlossen ist, dass die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ein solches Ausmaß annehmen, dass es zu erheblichen politischen Instabilitäten bis hin zu Unruhen und Aufständen kommt. So jedenfalls sehen es italienische Politologen, die den Verlauf und die politischen Folgen vergangener Epidemien untersucht haben. Andere, wie der renommierte US-Ökonom Nouel Roubini, prognostizieren für die kommenden Jahre eine größere wirtschaftliche Depression. Ungeachtet dessen ist bislang nicht absehbar, dass die Pandemie-Krise zu einer Katastrophe eskaliert. Viel wird wohl davon abhängen, ob es den Gesellschaften gelingt, in den Vor-Corona-Modus zurückzukehren, auch wenn genau das vielen, eher linken Aktivisten nicht wünschenswert erscheint. Der Soziologe Armin Nassehi etwa meinte im Mai 2020 auf zeit.de: „Man kann an diesen Krisenfolgen sehr deutlich sehen, wie fragil diese so stabile Gesellschaft immer schon war und wie sehr sie auf Kante genäht ist: Sie scheint in ihrer dynamischen Stabilität davon abhängig zu sein, dass es weitergeht wie bisher. Nicht weil sie so stabil ist, ist es schwer in die Dynamik der Gesellschaft einzugreifen, sondern weil diese Stabilität so sehr von sensiblen Konstellationen abhängig ist.“ Das heißt, auch wenn man sich weitgehend darüber einig ist, dass der globalisierte Kapitalismus eine ursächliche Mitverantwortung für den Ausbruch der Pandemie trägt, muss es zunächst, wie bei der Bewältigung der letzten Finanzmarktkrise, darum gehen, diesen Kapitalismus in traditioneller sozialdemokratischer Manier vor sich selbst zu retten, indem die Staaten ihm mit Unmengen von Geld Zeit erkaufen und so, getreu dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: „Alles ist besser als der Tod.“, die ökonomische Katastrophe vorerst abzuwenden versuchen.

Grundlegend anders verhält es sich m. E. n. mit der Klimakrise. Hier sehe ich nicht, wie innerhalb der herrschenden Wirtschaftsweise die Katastrophe verhindert werden könnte. Dass das Zwei-Grad-Ziel erreicht wird, ist mindestens unwahrscheinlich, und, selbst wenn dies gelingen sollte, wären die Auswirkungen doch so gravierend, dass das politische und ökonomische System zusammenbrechen könnte. Nach Ansicht des Soziologen Wolfgang Streeck würde sich der Kollaps in einer Abfolge kleinerer und größerer Krisen vollziehen, die irgendwann einmal nicht mehr vom Staat, dem Reparaturbetrieb des Kapitalismus, gerichtet werden könnten, weil der Staat selbst, aufgrund der zunehmenden Instabilität der menschlichen Existenzbedingungen zusammenbrechen würde.

Was aber tritt an die Stelle des zusammengebrochenen Staates? Wie könnten sich Menschen organisieren, wenn eine Gesellschaft im eigentlichen Sinne nicht mehr existiert? Und wie könnte dann ein postkapitalistisches Wirtschaften aussehen? Antworten auf diese Fragen zu suchen und zu finden, wäre eigentlich Aufgabe der sozialistischen Linken. Ihre Aufgabe wäre es, die Idee des Sozialismus als realer Alternative zum Kapitalismus und als dessen Nachfolger auszuarbeiten und, wo irgend möglich, auch auszutesten. Nur hat aber die sozialistische Linke seit Langem schon ein Defizit im Bereich der gesellschaftlichen Utopie und der politischen Theorie.

Marx hatte (gemeinsam mit Engels) früh die Vorstellung entwickelt, dass irgendwann – er hoffte, möglichst bald - die Produktivkraftentwicklung in einen unauflösbaren Widerspruch zu den kapitalistischen Produktions-, insbesondere den Aneignungs- und Verteilungsverhältnissen geraten würde, nachzulesen u.a. im Kommunistischen Manifest von 1848. Den Nachweis dieser Prognose sollte die Kritik der politischen Ökonomie, besser bekannt als Das Kapital, erbringen. Die Auflösung des Widerspruchs sollte demnach in einer proletarischen Revolution erfolgen, die die Menschheit aus dem „Reich der Notwendigkeit“ in das „Reich der Freiheit“ führen würde. Als Wirtschaftshistoriker analysierte Marx, wie im Schoße der feudalistischen Gesellschaftsformation die ökonomischen Keimzellen der nachfolgenden bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Er konnte oder wollte hingegen keine entsprechenden Prognosen für den Kapitalismus entwickeln. Auch das berühmte „Maschinenfragment“ gibt darüber keine Auskunft. Da die Sozialdemokratie in den ersten Jahrzehnten nach Marx sich im Wesentlichen der unmittelbaren Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter und damit objektiv der Stabilisierung des Kapitalismus verschrieben hatte, entwickelte sie auch keine nennenswerte Staats- und Gesellschaftstheorie. Und bei Lenin reichte es lediglich zu einer Revolutionstheorie der Diktatur des Proletariats mit den hinlänglich bekannten praktischen Folgen.

Es kann eigentlich nur der Ungeduld der kommunistischen Parteien geschuldet sein, dass sie die Krisen nach den beiden Weltkriegen als die Krisen des Kapitalismus schlechthin und deshalb diese als Kairos zur Machtübernahme ansahen, wiewohl doch die Keimzellen einer neuen, postkapitalistischen Wirtschaftsweise noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen waren. Das führte eben dazu, dass die materiellen Realisierungen des orthodoxen Marxismus-Leninismus in Gestalt der Länder des (wahlweise) Rohen Kommunismus (Peter Ruben) oder Frühsozialismus (Herbert Hörz) sich lediglich experimentierend von Parteitag zu Parteitag, von Fünfjahrplan zu Fünfjahrplan hangelten, ohne dass den jeweiligen Experimenten andere langfristige strategische Überlegungen zu Grunde lagen, als den weiter entwickelten Kapitalismus ökonomisch einzuholen oder gar zu überflügeln. So gesehen kann die Wirtschaftspolitik der KP Chinas seit den 1980er Jahren auch dahingehend verstanden werden, dass unter ihrer politischen Führung eben jenes Niveau der Produktivkraftentwicklung erreicht werden soll, das nach der marxschen Vorstellung mit der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr vereinbar ist, deren systemische Begrenztheiten sprengt und zum Sozialismus/Kommunismus führt.

Ich fürchte hingegen, uns bleibt nicht mehr genügend Zeit. Weder für das krisenhafte Scheitern des Kapitalismus an sich selbst, denn es ist ja nicht wirklich abzusehen, dass er die weitere Entwicklung bei Digitalisierung, Robotisierung, Biotechnologie und grüner Energie resp. Kernfusion nicht doch im Griff haben könnte, noch für den Erfolg der chinesischen Strategie. Aktuelle linke Konzepte, wie etwa das der Multitude von Hardt und Negri oder das populistische Politikmodell von Chantal Mouffe, bieten keine realistischen Perspektiven. So wäre es vielleicht angebracht, einen Schritt zurück zu treten und zu schauen, ob sich nicht im weiten Feld linksbürgerlicher Theorien Quellen progressiven Denkens finden lassen, die für eine renovierte Idee des Sozialismus fruchtbar gemacht werden können. Aus meiner Sicht bieten sich dafür zwei Denkrichtungen an, die beide ihren Ursprung in Nordamerika haben: Der Pragmatismus und der Kommunitarismus. Warum gerade diese beiden?

Obwohl von orthodox-marxistischer Position vehement kritisiert, steht doch der Pragmatismus, vornehmlich in den Schriften von George Herbert Mead, John Dewey und zuletzt Richard Rorty, dem Marxismus insofern nahe, als er den Menschen aus dessen Einbettung in die soziale Wirklichkeit zu erklären versucht und, ganz im Geiste der 11. Feuerbach-These, Philosophie als Praxis der Weltveränderung begreift. Daneben versteht der Pragmatismus gesellschaftliche Veränderungen als grundlegend experimentell. Mit dieser Interpretation befinde ich mich in der Gesellschaft von Hans Joas, der gleich zu Beginn seiner Mead-Studie Praktische Intersubjektivität diese mit „einer gegenwartsadäquaten Formulierung des historischen Materialismus“ in Verbindung bringt. Ein ähnliches Ziel verfolgt Horst Müller mit seiner, an Marx anschließenden Praxisphilosophie. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass, hätte Friedrich Engels sehr viel länger gelebt oder wäre ein Marxist von vergleichbarem intellektuellen Kaliber Zeitgenosse von Dewey und Mead gewesen, er deren Ideen aufgenommen und für den historischen Materialismus fruchtbar gemacht hätte. Jürgen Habermas hat dies später versucht, sich dabei jedoch verhoben und eindeutig in Richtung Idealismus vergaloppiert.

Der Kommunitarismus entstand in den 1980er Jahren als sozial- und politikphilosophische Alternative zum Neoliberalismus, der, entgegen aller historischen Evidenz, das entgrenzte Individuum, den nutzenoptimierenden Homo oeconomicus postuliert. Kommunitaristisches Denken, etwa bei Charles Taylor, Michael Walzer oder Amitai Etzioni, fokussiert die soziale Gemeinschaft als unabdingbare Voraussetzung für menschliches Handeln und Individualität. In dieser Positionierung trifft es sich sowohl mit dem Pragmatismus als auch mit dem Marxismus. Der untergegangene Staatssozialismus verstand sich selbst zwar nicht als Gemeinschaft sondern als Gesellschaft, das reale, praktische Leben jedoch war weitgehend kommunitaristisch angelegt, insbesondere in der DDR, wo Gemeinschaftlichkeit als Selbstorganisation in verschiedensten Kontexten einerseits die materiellen Auswirkungen der Mangelwirtschaft und andererseits die mentalen Verwerfungen durch staatliche Eingriffe in die Lebenswelt der Bürger kompensieren half. Dieser De-Facto-Kommunitarismus konnte hier auf eine tiefverwurzelte preußisch-protestantische Grundhaltung des Anstands und der gegenseitigen Achtung in Verbindung mit kleinbürgerlicher Tugendethik aufsetzen.

In den (irgendwann) folgenden Teilen dieses Textes sollen in erster Linie nicht die philosophischen Denkgebäude von Pragmatismus und Kommunitarismus untersucht, sondern vielmehr, unter Berücksichtigung der neomarxistischen Praxisphilosophie, die Tauglichkeit dieser Denkrichtungen für die Entwicklung politisch-ökonomischer Alternativen für die Zeit nach einem möglichen, klimabedingten Totalzusammenbruch ausgelotet werden.

Die kommende Gemeinschaft. Teil 2

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...