Sonntag, 22. September 2019

Was wir vor 40 Jahren schon wussten


Die folgenden Zitate stammen aus einem Text [1] des sowjetischen Philosophen Iwan T. Frolov aus dem Jahr 1978. Der Text nimmt Bezug auf Debatten, die seinerzeit in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und in diversen Publikationen geführt wurden. Ich enthalte mich jeglicher Kommentare und überlasse es dem Leser sich eine Meinung zu bilden.



Der mit dem historischen Optimismus verbundene Glaube an die grenzenlosen Möglichkeiten des menschlichen Geistes und die Überzeugung, daß der moderne Mensch nicht nur Homo sapiens, sondern auch Homo humanus ist, sind Grund zur Annahme, daß die Zukunft des Menschen herrlich sein wird. Doch diese Zukunft kommt nicht von allein, sie wird vom Menschen selbst geschaffen, der riesige materielle Kräfte und das gewaltige geistige Potential der Wissenschaft in Bewegung setzt. Auf welchen Wegen sich die materiellen und wissenschaftlichen Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung realisieren werden, hängt in hohem Grade von der richtigen Wahl einer allgemeinen Strategie der Erkenntnis, ihrer Methodologie und weltanschaulichen Grundlage ab. (S. 56)

Wie vollzog sich die Evolution des Menschen? An welche Faktoren mußte sich das biologische Substrat in der Vergangenheit anpassen, und woran paßt es sich heute an? G. I. Caregorodcev meint, daß sich der menschliche Organismus, der früher an Nahrungsmangel gewöhnt war, heute an übermäßige Ernährung gewöhnen müsse. Während der Mensch in der Vergangenheit aufreibende körperliche Arbeit leisten mußte, sei heute bei vielen Menschen ein Mangel an körperlicher Aktivität zu beobachten. Das alles erfordere allseitige und sorgfältige Untersuchung, methodologisch und auch konkret sozialbiologisch. (S. 65)
Einige Beispiele sollen das illustrieren. In den letzten 500 Jahren wurden unter Beteiligung des Menschen bis zu zwei Drittel des Waldbestandes der Erde vernichtet. Die gewaltigste Veränderung erfuhr die Biosphäre jedoch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, besonders in unserem Jahrhundert mit der Entwicklung der industriellen Produktion. Sie brachte der Menschheit einerseits Wohlstand: In 7 bis 10 Jahren verdoppelte sich die Erzeugung von Elektroenergie; in 35 Jahren erfolgte eine Verdoppelung der industriellen und der landwirtschaftlichen Produktion. Andererseits verursachte sie auch negative Erscheinungen: Die gesellschaftliche Produktion nutzt, wenn sie der Natur 100 Einheiten entnimmt, nur 3 bis 4 Einheiten; 96 Einheiten werden in Form von Giftstoffen und Abfällen an die Natur abgegeben (5 • 108 t). Die Menge reinen Wassers hat sich verringert; ein Drittel der Düngemittel wird aus dem Boden herausgespült und gelangt in die Gewässer; den größten ökologischen Schaden verursachen die Abfälle von toxischen organischen Verbindungen, die zur Bekämpfung von Schädlingen der Landwirtschaft verwendet werden (DDT – 1,5 Mio t in 25 Jahren — es wurde sogar in der Leber von Pinguinen entdeckt).
Im Ergebnis verringerten sich die Möglichkeiten zur Selbstreinigung der Biosphäre, sie kann schon nicht mehr die Fremdstoffe, die der Mensch in sie abgegeben hat, in die Kreisläufe einbeziehen (ansteigender Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre, der Staubgehalt hat im Vergleich zum Beginn des 20. Jahrhunderts weltweit in vielen Städten um 20% zugenommen). Es entstand die Gefahr der Zerstörung der Sauerstoffbalance; die Ozonschicht, die die Biosphäre vor ultravioletter Strahlung schützt, ist durch Flüge von Überschallflugzeugen gefährdet (würden 50 % zerstört, so erhöhte sich die Einwirkung der Strahlung um das Zehnfache, das würde sich auf das Sehvermögen von Mensch und Tier auswirken). Die Wärmebelastung und die Verschmutzung der Ozeane haben sich erhöht und tendieren zu globaler Ausbreitung (4 • 106 t Erdöl gehen in den Ozean, das heißt etwa 0,1 % der Förderung auf den Schelfen der Meere). (S. 79)
Für die letztgenannten Beziehungen sind die Arbeiten B. Commoners von Interesse, der die entsprechenden Angaben für die USA in den 26 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg untersucht hat. Er stellte fest, daß die gewaltige Zunahme der Umweltverschmutzung (etwa um das Sieben- bis Achtfache pro Kopf der Bevölkerung) nicht durch die Zunahme des Produktionsvolumens (die nur etwa 50 % betrug) oder durch den gestiegenen Pro -Kopf -Verbrauch (etwa 6 %) verursacht wurde. Sie wurde hervorgerufen durch Veränderungen in der Produktion und im Konsum (breite Anwendung chemischer Düngemittel, synthetischer Gewebe, Detergenzien, größerer Kraftfahrzeuge usw.), die vor allem im Interesse der Monopole zur Erhöhung des Profits durchgeführt wurden. Diese Erscheinungen lenken die Aufmerksamkeit der Forscher auf das Grundlegende, auf die sozialökonomischen Faktoren des ökologischen Problems. (S. 86)
Als weitaus gefährlicher wird das Problem der Vereinbarkeit von natürlicher und sozialer Wirklichkeit eingeschätzt, das sich lokal und global vor allem als Störung des ökologischen Gleichgewichts und als gefährliche Umweltverschmutzung zeigt. Der Widerspruch zwischen Sozialem und Natürlichem ist einer der zugespitztesten Widersprüche, mit denen die gegenwärtige Menschheit konfrontiert ist. Das Problem besteht darin, so sagte Kapica, daß die technischen Prozesse auf dem gegenwärtigen Niveau der Zivilisation unvermeidbar Störungen in den bisherigen ökologischen Prozessen verursachen und jetzt andere Arten des biologischen Gleichgewichts in der Natur erforderlich sind.
Die Möglichkeit der Selbstregulierung und der spontanen Aufhebung des Widerspruchs wurde im Ergebnis der Erörterung als irreal und wenig wahrscheinlich angesehen. Mehr noch, eine solche Selbstregulierung würde höchstwahrscheinlich dramatisch über den Menschen hereinbrechen. So kommt N.F. Rejmers, wenn er die Entwicklungstendenzen der Biosphäre und der Menschheit miteinander vergleicht, zu dem Schluß, daß die Selbstregulierung in der Ökosphäre mit ihren Untersystemen — Biosphäre und Menschheit — kein Symbol der Hoffnung sein könne. Sie sei unerreichbar, weil sich Tempo und Art der Entwicklung von Biosphäre und Menschheit grundlegend voneinander unterscheiden: Die Erweiterung der Ressourcen in dem sich selbstregulierenden Untersystem Biosphäre ist theoretisch unmöglich, wenn sich das andere Untersystem, die Menschheit, fast gar nicht selbst reguliert und die Trägheit dieses Untersystems sehr groß ist. Die spontane, nichtregulierte Entwicklung der Menschheit tritt als hauptsächliche Erscheinungsform der ökologischen Gefahr immer deutlicher zutage, als ihr Mittelpunkt und Schwerpunkt aller ökologischen Kollisionen. 
Mit diesem Typ der gesellschaftlichen Entwicklung ist eine bestimmte Strategie des Verhaltens zur Natur verbunden, ein aggressiv konsumorientierter, utilitaristischer Druck auf die Natur. Obwohl solch eine Strategie für die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlich -technischer Zivilisation und Natur charakteristisch ist, ist sie kein „ewiger" immanenter Zug der Zivilisation. Ein weiterer Angriff der technischen Zivilisation auf die Natur werde noch einschneidender das Gesicht der Erde verändern, bemerkt O. K. Gusev, und er könne, wenn er sich spontan vollzieht, der Menschheit unzähliges Unheil bringen. Gusev erkennt, daß die weitere Aneignung und die Umgestaltung der natürlichen Umwelt absolut unvermeidlich sind und betont, daß wir unsere ganze Geisteskraft, unseren Willen und unsere technischen Mittel nutzen müssen, damit wir lernen, diesen Prozeß zu steuern. Die Interessen des Menschen erfordern eine zunehmende Einflußnahme auf die Natur. Die Menschheit sei auf dem Wege der wissenschaftlich -technischen Entwicklung zu weit fortgeschritten, als daß man Wege der Rückkehr suchen könne. Eine Änderung der Strategie des Verhaltens zur Natur kann nur als Übergang vom Ansturm auf die Natur zu einer rationell organisierten Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur erfolgen. (S. 97f)





[1] Iwan T. Frolov. Wissenschaftlicher Fortschritt und Zukunft des Menschen. Kritik des Szientismus, Biologismus und ethischen Nihilimus. Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie Bd. 89. Berlin, Frankfurt./M. 1978





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