Montag, 22. April 2024

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft

Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein,
die gerade deshalb eine ist, weil jedes ihrer Mitglieder ganz auf
sich allein gestellt gegen das Alleinsein kämpft.
Zygmunt Bauman

Nimmt man die Ausführungen zur Subjektkonstitution im vorangegangenen Teil 3 dieser Aufsatzreihe auch nur ansatzweise ernst, so wird klar, wie absurd und realitätsfern die politische Theorie des Neoliberalismus mit samt ihrer individualistisch-utilitaristischen Ethik der allen sozialen Bindungen enthobenen Verfolgung individueller Präferenzen in Wahrheit ist. Stattdessen hat sich gezeigt, und das sollte eigentlich jedem von uns schon intuitiv einsichtig sein, dass die Person, dass der individuelle Mensch außerhalb sozialer Beziehungen und Zusammenhänge zwar denkbar ist, ein solches Denkkonstrukt aber bestenfalls eine zweckgebundene Abstraktion im Kontext vulgär-ökonomischer Theorien darstellt und keinerlei Bezug zur realen Lebenswelt hat.

Wie wir gesehen haben, war bereits Marx Mitte des 19. Jahrhunderts zu dieser Erkenntnis gelangt (8. Feuerbachthese, Deutsche Ideologie), und G. H. Mead hatte sie Anfang des 20. Jahrhunderts, unabhängig von Marx, sozialphilosophisch begründet. Beide Denker waren jedoch nicht die ersten. Bereits Aristoteles beschreibt den Menschen als zoon politicon, als politisches Tier, eingebettet in die Gemeinschaft der antiken Polis. Für ihn ist ein Leben des Einzelnen ohne dessen aktive Mitwirkung an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse kein gutes Leben. Hegel hätte einem solchen Menschen, also einem, der das Leben wesentlich nur erträgt und nicht gestaltet, wohl ein „unglückliches Bewusstsein“ attestiert (Phänomenologie des Geistes, IV, B).

Kommunitaristische Kritik am neoliberalen Menschenbild

Der Kommunitarismus entstand in den 1980er Jahren als politikphilosophischer Gegenentwurf sowohl zum sich seinerzeit durchsetzenden Neoliberalismus als auch zur einflussreichen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (A Theory of Justice, 1971). Beide, Neoliberalismus wie Rawls´ theoretische Konstruktion, gehen aus vom Individuum und dessen partikularen Interessen, sie setzen ein ganz bestimmtes, vom Utilitarismus geprägtes Menschenbild voraus, nämlich das eines ungebundenen, quasi freischwebenden Selbst, das seine Handlungsentscheidungen unabhängig davon trifft, in welche konkreten sozialen Kontexte und Beziehungen es eingebunden ist, welcher Kulturgemeinschaft es angehört oder welche Verpflichtungen es gegenüber seinen Mitmenschen hat, kurzum, einer Person, die, um es mit einem Heideggerschen Begriff zu benennen, nirgendwohin „geworfen“ ist. Dass ein solches Theoriekonstrukt idealistisch, ahistorisch und in seinen Prämissen nicht haltbar ist, wurde bei der Diskussion der Subjektkonstitution (siehe Teil 3) hinlänglich nachgewiesen.

In seinem Buch „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982) hat der amerikanische Philosoph Michael Sandel das Konzept von Rawls einer ähnlich gelagerten Kritik unterzogen. Aus seiner Sicht führt die Vorstellung vom ungebundenen Selbst zur Vorstellung von einer Person ohne jeglichen Charakter und, da sich der Charakter einer Person nur in sozialen Kontexten, innerhalb eines vorhandenen normativen Rahmens sowie in individuellen und gemeinschaftlichen Handlungserfahrungen bildet, ohne jegliche Moral. Damit einher geht die Kritik des im Westen vorherrschenden negativen Freiheitsbegriffs, unter dem gemeinhin der Schutz des Einzelnen vor den möglichen Ansprüchen der Mehrheit verstanden wird. Dagegen bringt Sandel einen positiven, bürgerschaftlichen Freiheitsbegriff in Anschlag, nach dem Freiheit gerade daran besteht, in gemeinschaftlichen Beratungen, Aushandlungen und Aktionen Dinge mit seinen Mitmenschen zu bewerkstelligen und nicht gegen sie.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor (der akademische Lehrer Sandels) argumentiert in ähnlicher Weise, „dass der Mensch außerhalb einer Sprachgemeinschaft und einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Gut und Böse, gerecht und ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt“ sein kann.[1] Dagegen verfolgt Taylor eine soziale Konzeption des Menschen, die, angewendet bspw. auf die Migrationspolitik, zu interessanten Implikationen führen kann. Nach Taylor nämlich haben Personen Rechte nur innerhalb einer Gemeinschaft, nur als Mitglieder dieser Gemeinschaft. Daraus ergibt sich für den Einzelnen die Verpflichtung dazuzugehören.[2] In Auseinandersetzung mit Isaiah Berlin argumentiert auch Taylor für einen positiven Begriff von politischer Freiheit, die er mit „kollektiver Selbstregierung“ identifiziert.

Auch Michael Walzer beginnt seine kommunitaristische Gerechtigkeitstheorie mit der Kritik am neoliberalen Menschenbild, das aus seiner Sicht eine Verzerrung der Realität darstellt, indem es einen Konkurrenzkampf aller gegen alle suggeriert, der unweigerlich zum Zerfall der Gesellschaft führen muss.[3] Mit ihrem Statement: „There ist no such thing as society.“ hatte einst Margret Thatcher dem zugehörigen Ideologem griffigen Ausdruck verliehen. Inzwischen macht sich der gesellschaftliche Zerfall nicht nur in Nordamerika, wo er am offensichtlichsten ist, bemerkbar, auch hierzulande haben wir es mit einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) zu tun. Zygmunt Bauman sieht darin gar einen Weg „zurück zu Hobbes“, wenn er schreibt: „So, wie es sich für uns anfühlt, ... ist unsere gegenwärtige Welt – eine Welt zunehmend schwindender Bindungen, der Deregulierung und Atomisierung politischer Strukturen, der Trennung von Politik und Macht – abermals Schauplatz eines Krieges aller gegen alle … geworden.“[4] Dagegen stellt sich Michael Walzer. Ihm zufolge steht nicht das Individuum im Zentrum der politischen Theorie, „sondern die Verbindungen, in welche die vielen sich ihrer selbst bewußten Ichs zueinander treten, mithin das Muster und die Struktur ihrer sozialen Beziehungen.“[5]

Für unser Thema von Interesse ist, dass Walzer ausleuchtet, welche Rolle moralische Normen und Gewohnheiten bei der Konstitution sozialer Beziehungen spielen. In seiner Interpretation bedarf die Gemeinschaft keiner besonderen, „neu erfundenen“ Moral, sondern kann sich auf bestehende moralische Prinzipien stützen, denen die Menschen immer schon folgen. Ohne dies zu explizieren, nähert sich Walzer damit neueren Moraltheorien, die die Entstehung gewisser, offenbar universal gültiger moralischer Mindeststandards u. a. aus der biopsychosozialen Evolution des Homo sapiens erklärt[6], wie auch den Ansichten seines neopragmatistischen Kollegen Richard Rorty, der meint, dass unser gewöhnlicher, unreflektierter Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen verfügt, um in der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial kompetent zu handeln, ohne dabei auf allgemeine und daher abstrakte moralische Prinzipien (Letztbegründungen) zurückgreifen zu müssen. Das meint gleichwohl nicht, dass Menschen überall und zu allen Zeiten den gleichen moralischen Normen folgen, sondern lediglich, dass ein Grundbestand von Verboten resp. Verpflichtungen ausgemacht werden kann, der uns allen gemeinsam ist und, soweit dies historisch rekonstruierbar ist, es immer schon war. Dazu gehören das Verbot zu morden, das Verbot zu betrügen, das Verbot zu stehlen usf.[7] Ungeachtet dessen muss Moral in ihren weiteren normativen Verästlungen als historisch und soziokulturell gewachsen angesehen werden, so dass wir es, auf die Menschheit als ganze bezogen, mit einem „heillosen Pluralismus“ von Ethiken zu tun haben, und vor uns die Aufgabe der Interpretation steht. Nach Walzer ist in moralischen Fragen der Heuristiker gefragt, nicht der Theoretiker.

Wenngleich der Ausgangspunkt der Überlegungen bei den drei genannten Autoren ein explizit moralischer ist, nämlich die Frage nach dem guten Leben, ist es dem Kommunitarismus jedoch nicht so sehr um Ethik zu tun, sondern um Gerechtigkeit, vornehmlich um Verteilungsgerechtigkeit. Die Gemeinschaft ist der Ort, an dem Güter verteilt werden, und das erste Gut, das zur Verteilung ansteht, ist die Zugehörigkeit zu eben jener Gemeinschaft selbst.

Gemeinschaft und moralische Werte

Sofern hier und im Weiteren von Gemeinschaft die Rede ist, wird mit diesem Begriff keineswegs ein in letzter Zeit anscheinend wieder in Mode gekommenes naiv-romantisches Bild vom wohligen Miteinander, vom Wärmekreis, wie es Göran Rosenberg ausdrückte, evoziert[8]. Ebensowenig ist die im Kontext der Klimakrise vermehrt an- und aufgerufene Weltgemeinschaft gemeint. Vielmehr soll mit Bezug auf die Ausgangsüberlegungen in Teil 1 dieser Reihe  die Gemeinschaft als möglicherweise notwendig sich ergebendes Gebilde unter den Bedingungen einer zerfallenden Gesellschaft, quasi als Notgemeinschaft, und nicht als absichtsvoll und bewusst herbeigeführtes soziales Konstrukt thematisiert werden. Ich folge damit der Sichtweise von Karl Marx, die er 1852 im vielzitierten vierten Satz von „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ dargelegt hat:

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.

Unter den „vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ finden sich auch Gemeinschaften. Diese können, müssen aber nicht, über ein annähernd gleiches Moralverständnis ihrer Mitglieder verfügen. Beispiele dafür sind die christlichen und die religiösen Gemeinschaften überhaupt, die sich über die Jahrhunderte noch immer auch als Notgemeinschaften verstanden und bewährt haben, oder, um aktuelle Entwicklungen aufzugreifen, die verschiedenen Communities der identitätspolitischen Bewegungen (Black Lives Matter, LGBTQ+ etc.), wiewohl gerade hier Vorsicht bei der Beurteilung geboten ist. Die Zugehörigkeit zu dieser Art von Gemeinschaften definiert sich, wenn auch nicht ausschließlich, über einen geteilten moralischen Grundkonsens, der die einen ein- und die anderen ausschließt. Sie wurden und werden nicht im eigentlichen Sinne konstituiert, auch wenn zuweilen solche Narrative vermittelt werden, sondern sie entstehen irgendwie. Die geteilten Werte, oder besser, das gemeinsame Verständnis der Werte erscheint den Mitgliedern der Gemeinschaft als ein natürliches, gewissermaßen ahistorisches und ist deshalb notwendigerweise ein stillschweigendes. Zygmunt Baumann bemerkt dazu knapp:

Eine Gemeinschaft ist entweder stumm – oder erloschen. Sobald sie beginnt, ihre Werte zu preisen, von ihrer unverfälschten Schönheit zu schwärmen und Manifeste zu plakatieren, in denen sie ihre Mitglieder dazu auffordert, ihre Leistungen zu loben, und die Außenstehenden mahnt, in den Lobpreis einzustimmen oder zu schweigen – kann man sicher sein, dass die Gemeinschaft nicht mehr (oder, was auch vorkommen kann, noch nicht) existiert. Eine Gemeinschaft, von der «man spricht» (genauer: eine Gemeinschaft, die sich selbst als solche bezeichnet), ist ein Widerspruch in sich.[9]

Ein grundlegender (nicht nur) moralischer Wert jeder Gemeinschaft und gleichsam ihre Konstituente ist die Gleichheit ihrer Mitglieder. Gleichheit ist daselbst bereits ein erstrebenswertes Gut der Gemeinschaft, denn sie kann nicht per se als gegeben vorausgesetzt werden. Menschen, Personen unterscheiden sich voneinander in den verschiedensten Merkmalen und Eigenschaften, nicht nur in ihren biologischen und psychischen Eigenheiten, auch in ihrer materiellen Ausstattung oder sozialen Stellung. Und auch in der Gemeinschaft können Differenzierungen und Hierarchien vorliegen. Es ist also ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, worin konkret die Gleichheit bestehen soll, was der „Parameter“ ist, in Bezug auf den überhaupt von Gleichheit gesprochen werden kann. Für die Gemeinschaft der Christen (wie auch der Juden und Muslime) bspw. ist dies wohl die Gleichheit vor Gott, für die Gemeinschaft der Kommunisten (ganz grob gesagt) die materielle Gleichheit, und für die Gemeinschaft der Liberalen (die eigentlich keine Gemeinschaft ist und sich auch nicht als solche versteht) die (negativ verstandene) gleiche Freiheit aller.

Am Beispiel der Religionsgemeinschaften lässt sich ein zweiter Wert ausmachen – die Brüderlichkeit. Brüderlichkeit, verstanden als kollektive Solidarität, ist unabdingbare Voraussetzung für die Beständigkeit der Gemeinschaft und die Verlässlichkeit zwischen ihren Mitgliedern. Für das einzelne Mitglied sind damit gemeinschaftsspezifische Rechte und Pflichten verbunden, die u. U. institutionell abgesichert werden müssen, etwa durch Sanktionierung bei Verstößen. Zu diesen Pflichten gehört zuallererst die oben erwähnte, von Charles Taylor postulierte Verpflichtung dazuzugehören.[10]

Zur Heiligen Dreifaltigkeit der Französischen Revolution fehlt uns nur noch der Wert der Freiheit. Immer wieder und besonders im neoliberalen Diskurs wird der Eindruck erweckt, als könnten die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit realiter nicht miteinander in Einklang gebracht werden – würden je zwei von ihnen realisiert, bliebe der dritte auf der Strecke. Die Verfolgung der Ziele Brüderlichkeit und Gleichheit würde demnach die Freiheit, und zwar die Freiheit des Individuums, so sehr einschränken, dass Gemeinschaft schlechthin abzulehnen sei. Doch wie oben,  bei der kurzen Darstellung der kommunitaristischen Positionen von Michael Sandel und Charles Taylor zu sehen war, liegt diesem Urteil ein negativer Freiheitsbegriff zu Grunde, wohingegen es im vorliegenden Kontext um die positive politische Freiheit als „kollektiver Selbstregierung“ geht. Seinen historischen Bezug findet der negative Freiheitsbegriff des Liberalismus wohl in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, während der positive sich zu Recht auf die Revolutionäre von 1789 und, wie ich meine, ihre Nachfolger, die Revolutionäre von 1848, die Kommunarden von 1871 und selbst die vorstalinistischen Bolschewiken von 1917 berufen kann.

Es sollte einsichtig sein, dass die Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einerseits eine Idealvorstellung vom Wertefundament einer Gemeinschaft ausdrückt und andererseits nur einen, wenn auch zentralen Teil der von den Mitgliedern realer, konkreter Gemeinschaften geteilten Werte darstellt. Zudem ist jeder der drei Werte für sich in seiner jeweiligen Konkretion in hohem Maße problematisch. So postulieren bspw. David Graeber und David Wengrow in „Anfänge“[11] drei Grundfreiheiten des Menschen:  weggehen zu können, nicht gehorchen zu müssen und im Stande zu sein, neu über die sozialen Beziehungen zu entscheiden. Offensichtlich ist nur die letzte mit dem Leben in einer Gemeinschaft vereinbar, denn die beiden anderen gehören zu den negativen Freiheiten. Gleichheit und Brüderlichkeit wiederum bergen in sich die Gefahr der Abschottung gegen die, die nicht so sind wie wir, die Anderen („l‘enfer, c‘est les Autres.“) und sich nicht an unsere Regeln halten. Aber womöglich wird gerade dies nötig sein, wenn wir als soziale Wesen überleben wollen.

 


[1]      Charles Taylor.  Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Suhrkamp 1992

[2]      Charles Taylor. Atomismus. In Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Hrsg. Bert van den Brink und Willem van Reijen, 73–106. Suhrkamp 1995

[3]      Michael Walzer. Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Campus 1992

[4]      Zygmunt Baumann. Retrotopia. Suhrkamp 2017, S. 59

[5]      Michael Walzer. a.a.O. S. 179

[6]      Siehe bspw. Michael Tomasello. Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral. Suhrkamp 2020

[7]      Im Kern handelt es sich wohl um die vier „großen“ Tabus: Tötungstabu, Nahrungstabu, Inzesttabu und Sprachtabu.

[8]      Siehe dazu den Radio-Essay von Stefan Kühl.

[9]      Zygmunt Baumann. Gemeinschaften. Suhrkamp 2009. S. 4

[11]    David Graeber, David Wengrow. Anfänge. Klett-Cotta, 2022

Sonntag, 12. März 2023

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung.
Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft
gibt ihm seinen Sinn und seine Gerechtigkeit.
Carl Schmitt


Der nun schon über ein Jahr andauernde Krieg in der Ukraine wird uns von politischer und sonstiger öffentlicher Seite als Krieg zwischen zwei souveränen Nationalstaaten unter Einsatz regulärer Streitkräfte, als zwischenstaatlicher Krieg präsentiert: Die ukrainische Armee kämpft gegen die russische. Aber ist das wirklich so einfach?

Diese Frage ist alles andere als irrelevant, denn von ihrer Beantwortung hängt ab, inwiefern auf diesen Krieg, auf die kämpfenden Seiten und auf die kämpfenden Personen das klassische Kriegsrecht in Gestalt der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention, vollumfänglich anwendbar ist.

Ich denke, weder für die ukrainische noch für die russische Seite kann diese Frage mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Dazu ist die Gemengelage von bewaffneten Einheiten, kämpfendem Personal sowie eingesetzten Waffen und nichtmilitärischen Mitteln zu unübersichtlich. Offensichtlich wird der Krieg auf beiden Seiten hybrid geführt, also unter Einsatz von regulären und irregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nichtmilitärischen Mitteln. Hinzu kommt, dass er nach meinem Dafürhalten eher den Charakter eines Bürgerkrieges hat. Nicht nur, weil Putin bereits vor dem Angriff die Ukraine und deren Bevölkerung zum historisch angestammten Teil Russlands erklärt hat, sondern auch, weil es sich faktisch um zweierlei Sezessionskrieg handelt. Zum einen wird mit Unterstützung Russlands in der Ostukraine seit 2014 ein mehr oder weniger offener Sezessionskrieg zur Ablösung des Donbas vom ukrainischen Staat geführt, zum anderen hatte der Angriff der russischen Armee am 24. Februar 2022 zum Ziel, eine seinerzeit friedlich verlaufene Sezession, die Herauslösung der Ukraine aus der Sowjetunion, mit militärischen Mitteln rückgängig zu machen. Aus Sicht der Ukraine ist der Krieg mithin ein um 30 Jahre „verspäteter“ Sezessionskrieg.

Der Charakter des Krieges als „versteckter“ Bürgerkrieg erklärt, jedenfalls in Teilen, die unglaubliche Brutalität der Kriegsführung, von der wir im Westen ja nur den russischen Anteil zu Gehör und zu Gesicht bekommen. Auf beiden Seiten agieren irreguläre Verbände, von denen die Wagner-Gruppe und das Asow-Regiment (im Stahlwerk Mariupol zerrieben) nur die bekanntesten sind. Auch die Separatistenverbände im Donbas sind irregulär, ebenso wie diverse, nur selten thematisierte ultranationalistische Freiwilligenkorps auf ukrainischer Seite. Irreguläre militärische Einheiten neigen, da meist leichter und schlechter bewaffnet als reguläre Truppen, zum Partisanentum. Auch wenn der Begriff des Partisanen etwas altmodisch erscheint - inzwischen wurde er vom Begriff des Terroristen abgelöst, scheint er mir doch der angemessene zu sein, um einerseits Erklärungen für die Art der Kriegsführung zu finden und andererseits Überlegungen über einen möglichen weiteren Verlauf des Krieges bis zu seiner möglichst baldigen Beendigung anzustellen.

Der moderne Partisan“, schrieb Carl Schmitt 1963, „erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung steigert.“ Ausdrücklich macht Schmitt diese Aussage auch für den Bürgerkrieg geltend. Dass dies berechtigt ist, haben nicht zuletzt die Balkankriege der 1990er Jahre gezeigt. Die zitierte Aussage entstammt der Schrift „Theorie des Partisanen“1 (TP). In dieser stellt Schmitt Überlegungen zum Charakter des modernen, entgrenzten Krieges zwischen Kombattanten an, die das klassische Kriegsrecht nicht oder kaum noch einhalten, also nahezu aller Kriege nach dem 1. Weltkrieg, die mir angesichts des Kampfgeschehens in der Ukraine höchst, um nicht zu sagen erschreckend aktuell zu sein scheinen.

Schon vor dieser Schrift hatte Carl Schmitt die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts als Weltbürgerkrieg gedeutet, in dem es nicht um Ideologien, sondern nur noch um die Verteilung von Ressourcen geht. Nachdem mit dem Untergang der Sowjetunion der Weltbürgerkrieg offiziell für beendet erklärt und das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, erleben wir inzwischen sein offenes Wiederaufflammen, begleitet von vertrauten ideologischen Verbrämungen ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Wieder geht es um die Verteidigung des Westens, der freien Welt, der liberalen Demokratie gegen die Ansprüche autoritärer, totalitärer, diktatorischer Regime, nur dass diese, bis auf das chinesische und das nordkoreanische keine kommunistischen mehr sind. Und wieder verteidigt sich der Osten gegen die Weltherrschaftsansprüche der USA und die moralische Verkommenheit des Westens. Schmitts damalige, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gemachte Feststellung aber gilt heute noch mehr als damals: In letzter Konsequenz geht es um die Verfügung über endliche Ressourcen und die Verteilung endlicher Märkte im Rahmen eines global durchgesetzten Wirtschaftssystem, das auf unendliches Wachstum angelegt ist.

Doch zurück zum Partisanen. Nach Schmitt ist dieser ein Produkt bürgerlicher, später imperialistischer Eroberungskriege, beginnend mit dem spanischen Guerilla-Krieg gegen Napoleon 1808-1813. Im preußischen Landsturmedikt von 1813 wurde dem Partisanen vom König höchstselbst Legitimität zugesprochen: „Jeder Staatsbürger … ist verpflichtet, sich dem eindringenden Feind mit Waffen aller Art zu widersetzen.“ (TP, S. 47) Clausewitz übernahm diese Legitimation des Partisanen in sein posthum erschienenes Standardwerk „Vom Kriege“. Der legitime Verteidiger der Heimat gegen den Eroberer ist jedoch nur eine Gestalt des Partisanen. Im Weltbürgerkrieg (bis 1989) tritt er in einer weiteren Gestalt auf, der des „weltaggressiven, revolutionären Aktivisten“ (TP, S. 35). „Wo der Krieg auf beiden Seiten als ein nicht-diskriminierender Krieg von Staat zu Staat geführt wird, ist der Partisan eine Randfigur, die den Rahmen des Krieges nicht sprengt und die Gesamtstruktur des politischen Vorgangs nicht verändert.“, schreibt Schmitt. Und weiter: „Wird aber mit Kriminalisierungen des Kriegsgegners im ganzen gekämpft, wird der Krieg z.B. als Bürgerkrieg vom Klassenfeind gegen einen Klassenfeind geführt, ist sein Hauptziel die Beseitigung der Regierung des feindlichen Staates, dann wirkt sich die revolutionäre Sprengwirkung der Kriminalisierung des Feindes in der Weise aus, dass der Partisan zum wahren Helden des Krieges wird. Er vollstreckt das Todesurteil gegen den Verbrecher und riskiert seinerseits, als Verbrecher oder Schädling behandelt zu werden.“ (TP, S. 35f) Hier nun sind wir ganz nahe an dem, was das Kriegsgeschehen in der Ukraine ausmacht. Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, bedarf es noch einer Erläuterung hinsichtlich des Partisanen als „revolutionärem Aktivist“.

Carl Schmitt hat sehr luzide beobachtet, dass bereits vor der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch in dem an diese anschließenden russischen Bürgerkrieg der Berufsrevolutionär, wie Lenin ihn nannte, als Partisan im nationalen und internationalen Bürgerkrieg agiert. „Nur der revolutionäre Krieg ist für Lenin wahrer Krieg, weil er aus absoluter Feindschaft entspringt. Alles andere ist konventionelles Spiel… Sein konkreter absoluter Feind war der Klassenfeind, der Bourgeois, der westliche Kapitalist und dessen Gesellschaftsordnung in jedem Lande, in dem sie herrschte.“ (TP, S. 56) Im Großen Vaterländischen Krieg war es Lenins Nachfolger Stalin gelungen, die beiden beschriebenen Typen des Partisanen, den Verteidiger der Heimat und den Weltrevolutionär, zu verbinden.

Dass die Ukrainer aufgrund ihrer quantitativen und bislang auch waffentechnischen Unterlegenheit z. T. gezwungen sind, einen Partisanenkrieg gegen die Russen zu führen bzw. für einen Partisanenkrieg typische Taktiken anzuwenden, ist nur allzu offensichtlich. Gleichwohl bewegt sich auch die russische Seite in diesem Narrativ, das sich aus der von Schmitt beschriebenen leninschen und stalinschen Traditionslinie speist und anscheinend auch in der russischen Bevölkerung noch tief verankert ist. Zwar ist von Revolution natürlich keine Rede mehr, doch Putins Propaganda beschwört das immer gleiche Feindbild: Der Westen, der Russland zu umklammern sucht, wird zum „absoluten Feind“ erklärt, die von ihm unterstützte ukrainische Regierung wird als nazistisch kriminalisiert, mithin auch jeder, der für die Ukraine kämpft. Deshalb ist es, folgt man Lenin, auch geradezu geboten, „sich ohne Dogmatismus oder vorgefaßte Prinzipien … anderer, legaler oder illegaler, friedlicher oder gewaltsamer, regulärer oder irregulärer Mittel und Methoden nach Lage der Sache“ zu bedienen (TP, S. 54). In der Traditionslinie des hybrid geführten Befreiungskriegs gegen Nazideutschland, in dem reguläre Truppen und Partisanenverbände, zumal auf ukrainischem und belorussischem Territorium, häufig koordiniert gegen den Feind vorgingen, kommen im aktuellen Krieg auf russischer Seite sowohl reguläre als auch irreguläre Verbände zum Einsatz, während das ukrainische Hinterland „nach Lage der Sache“ aus der Luft terrorisiert wird.

Welche Erkenntnisse lassen sich nun daraus über der weiteren Verlauf und ein mögliches Ende des Krieges gewinnen? Beide kriegführenden Seiten haben es auf der jeweils anderen mit Partisanen zu tun. Partisanen jedoch kann man nur mit Partisanenmethoden bekämpfen, so dass der Krieg, wenn er so weitergeht, zu einem Partisanenkrieg werden könnte. Hier ein mögliches Szenario: Schon jetzt ist ja von einem möglicherweise lang andauernden Abnutzungskrieg die Rede. Je länger die waffentechnische und die moralische Abnutzung auf russischer Seite andauert, desto stärker wird auch in deren Kampfhandlungen das partisanische Element. In den Straßen von Donezk und anderen Städten des Donbas werden sich zunehmend „nach Lage der Sache“ vermischte, aus regulären und irregulären Kämpfern bestehende Verbände gegenüber stehen. Ob die ukrainischen Verbände sich dauerhaft ihre „Zivilität“ bewahren werden, sei einmal dahin gestellt. In den zähen Kämpfen dieser Verbände werden alle, auch die grausamsten Mittel eingesetzt, denn es wird nicht mehr um Sieg oder Niederlage im Krieg gehen, sondern nur noch um das nackte Überleben der Kämpfenden. Angesichts der dabei auf beiden Seiten begangenen Verbrechen wird, so die Hoffnung, der internationale politische und moralische Druck auf die ursprünglichen Kriegsparteien so stark, dass diese sich genötigt sehen, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Ob es so kommt, ist ungewiss. Spekulation allenthalben.

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1 Carl Schmitt. Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 2002 (1963)


Freitag, 3. März 2023

Die kommende Gemeinschaft. Teil 3

 Subjektkonstitution bei G. H. Mead und A. N. Leontjew

Die Ausgangsfrage dieser Aufsatzreihe lautete: Wenn infolge des wahrscheinlich zu erwartenden Kollapses staatlicher Strukturen auch die Gesellschaft als solche nicht bestehen bleibt, wie kann dann menschliches Über- und Zusammenleben in Gemeinschaft(en) gestaltet werden?

Dass ich im Zuge der bisherigen Untersuchung marxistisches Gedankengut diskutiert habe, hat den einfachen Grund, dass es zwar die Gesellschaft, nämlich die kapitalistische Gesellschaft war, die zentraler Gegenstand der marxschen philosophischen, ökonomischen und politischen Analysen war, der institutionalisierte Sozialismus hingegen, der sich doch schon immer als praktizierter Marxismus verstand, mit dem Kommunismus das Ideal der allumfassenden Gemeinschaft, der communio, seiner (Staats)Bürger anstrebte, worauf ich bei der Erörterung gelebter Moral im institutionalisierten Sozialismus bereits kurz eingegangen war.1 Es lässt sich also im Marxismus ein Keim kommunistischen (was offensichtlich ist) oder, wenn man so will, auch kommunitaristischen Gedankengutes finden, der für meine Zwecke nutzbar gemacht werden soll. Als Kommunismus wurde die angestrebte Gemeinschaft von ihren geistigen Vätern zwar benannt, doch bis auf einige wenige Allgemeinaussagen nicht so recht thematisiert.

Um einen angestrebten Zustand bewusst herzustellen, muss man seine Konstitutionsbedingungen ermitteln. Wenn also die Gemeinschaft das Ziel ist, dann muss geklärt werden, wie Gemeinschaft zustande kommt, d. h. wie es dazu kommt, dass Individuen sich vergemeinschaften. Diese Frage muss aber so lange im Dunkeln bleiben, wie nicht geklärt ist, was eigentlich das menschliche Individuum ist und wie wiederum dieses sich konstituiert.

Im vorangegangenen Teil 2 dieser Aufsatzreihe hatte ich drei vom Marxismus unterbelichtete Theorieaspekte thematisiert – Individuum, Ethik und Demokratie. Der Grund dafür ist, dass meines Erachtens nach keine Sozialtheorie, die eine überzeugende Alternative zum aktuellen, in die Katastrophe steuernden Kapitalismus bieten will, diese Themen aussparen kann. Ganz im Gegenteil ist die ehedem versuchte Alternative des institutionalisierten Sozialismus auch und nicht zuletzt an der offiziellen Geringschätzung von Individuum, Ethik und Demokratie gescheitert. Wie erwähnt, hatte man noch versucht, zumindest zwei der Leerstellen – Individuum und Ethik - zu schließen, indem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einerseits ein Hochschul-Lehrbuch der Ethik erschien und andererseits an der Akademie der Wissenschaften der DDR ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Titel „Biopsychosoziale Einheit Mensch“ initiiert wurde.2 Beides kam zu spät.

G. H. Mead – Die soziale Konstitution des Individuums

Nach Marx (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Thesen über Feuerbach, Die Deutsche Ideologie) war der amerikanische Sozialwissenschaftler George Herbert Mead (1863 – 1931) wohl der erste, der – natürlich in Unkenntnis der marxschen Schriften - wieder einen Versuch unternahm, den spätestens seit René Descartes in der Philosophie vorherrschenden Dualismus von Geist und Materie zu überwinden, und an dessen Stelle ein monistisches Konzept der Subjektkonstitution aus der materiellen, praktischen Lebenswirklichkeit der Menschen zu setzen. Grundlegend für Meads Ansatz ist seine Auffassung vom Bewusstsein als „funktional, nicht substantiv“, das „in der objektiven Welt und nicht im Gehirn lokalisiert werden“ muss.3 Mit dieser Positionierung befindet sich Mead in unmittelbarer Nähe zur 8. Feuerbachthese und zur „Deutsche Ideologie“:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.4

Der wirkliche Lebensprozess, die menschliche Praxis, ist immer schon sinnbehaftet, ist bedeutungsgeladene Lebenswirklichkeit, in der Geist als reflexive, selbstreferentielle Intelligenz, als Selbstbewusstsein entsteht und tätig wird.

Und so ist es denn nach Mead auch „absurd, Geist einfach aus der Sicht des einzelnen menschlichen Organismus zu sehen.“ Vielmehr muss „die subjektive Erfahrung des Einzelnen … mit der natürlichen, sozial-biologischen Tätigkeit des Gehirns verknüpft werden, wenn man Geist annehmbar erklären will; und das kann nur dann geschehen, wenn die gesellschaftliche Natur des Geistes anerkannt wird.“5

Wo Marx von „sozialer Tätigkeit“ spricht, ist bei Mead von „gesellschaftlicher Handlung“ die Rede – beides meint offenkundig ein und das selbe und kann nach Ansicht des Nürnberger Philosophen Horst Müller unter dem Begriff der Praxis subsumiert werden.6 In einem dialektisch zu verstehenden Wechselverhältnis zwischen Individuum und sozialer Wirklichkeit bewirkt diese Praxis die Entstehung sowohl von Bewusstsein im marxschen Verständnis als gesellschaftlichem Bewusstsein als auch von individuellem Bewusstsein, um das es Mead zu tun ist. Entscheidend ist, dass die Praxis bedeutungsgeladen ist, oder, wie Mead es ausdrückt, sinnhaftig. Sinn ist „in der Struktur der gesellschaftlichen Handlung impliziert“.7

Zu seiner Zeit konnte Marx die individualpsychologischen Aspekte der Subjektkonstituierung nicht thematisieren, und er wollte es wohl auch nicht. Er konzentrierte sich gleichsam auf die Umkehrung der Verhältnisse im Kopf als Bedingung der Umkehrung der Verhältnisse in der materiellen Realität. Diese Selbstbeschränkung sollte anscheinend davor bewahren, das monistische Geist-Materie-Konzept wieder dem Idealismus anheim fallen zu lassen. Gerechterweise muss allerdings festgehalten werden, dass eben zu jener Zeit (1844 – 1848) die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin noch gar nicht existent war. Erste Ansätze waren im 18. Jahrhundert bei Christian Wolff und im 19. bei Franz Brentano zu finden. So findet sich denn in der Deutschen Ideologie nur die vage Aussage: „Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen.“

Laut Mead ist die Entwicklung des Geistes eng mit der Entwicklung der Sprache verbunden, allerdings ist dieser dialektische Prozess eingebettet in die Strukturen gesellschaftlichen Handelns. Durch Sprache sind Individuen in der Lage, Symbole zu erstellen und zu verwenden, um Objekte, Ideen und Ereignisse darzustellen, und sich auf komplexe Formen der Kommunikation und des Denkens einzulassen. Jedoch:„Sprache ist nie in dem Sinn willkürlich, dass einfach ein reiner Bewusstseinsinhalt durch ein Wort benannt wird“8 Mit der Herausarbeitung der zentralen Stellung sprachlicher Interaktion für die Subjektkonstitution und damit auch für Gemeinschaften als Sprachgemeinschaften erweist sich Meads Theorie mithin als grundlegend auch für neuere konstitutionstheoretische Ansätze, wie bspw. jene von Jürgen Habermas oder John Searle9. Es wäre jedoch verfehlt, sie auf den so genannten Symbolischen Interaktionismus zu reduzieren, wie dies bspw. bei Hans Joas in seinen ansonsten sehr verdienstvollen Arbeiten zu Mead und zum Pragmatismus10, aber auch bei Habermas mit seiner gekünstelten und gänzlich realitätsfremden Unterscheidung zwischen kommunikativem und instrumentellem Handeln der Fall ist.

A.N. Leontjew – Die Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit

Für Horst Müller ist Georg Herbert Mead das „missing link“ der von Marx inspirierten Praxisphilosophie, in dem dieser, wie eben kurz dargestellt, die theoretische Lücke befüllt, die Marx´Selbstbeschränkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein gelassen hatte. Diese Fixierung auf Mead erscheint mir jedoch etwas einseitig zu sein und die Rolle der kulturhistorischen Schule der Sowjetpsychologie zu vernachlässigen, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass diese sich dem Problemkreis der Subjektkonstitution nicht von originär philosophischer Seite näherte, sondern ihre Theorie offiziell unter dem Dach der Fachwissenschaft Psychologie entwickelte und daraus auch keine Gesellschaftstheorie abzuleiten versuchte. Dies kann auch nicht verwundern, lief doch in den Jahren des Stalinismus bekanntlich jedes offene Philosophieren Gefahr, mit dem Revisionismusvorwurf belegt zu werden, was wiederum geradewegs ins GuLAG oder den Lubjankakeller führen konnte. Die Vertreter der kulturhistorischen Schule der Psychologie - Wygotski, Luria, Leontjew - blieben davon zwar verschont, sahen sich gleichwohl schon früh Repressalien und Publikationsverboten ausgesetzt. Die grundlegenden Texte „Denken und Sprechen“ von Wygotski und „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ von Leontjew konnten erst weit nach Stalins Tod veröffentlicht werden. Ich werde mich im folgenden auf Leontjew konzentrieren, da, wie ich meine, dessen Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit als weiteres “missing link“ im o. g. Sinne angesehen werden kann.

Als Mitbegründer und exponierter Vertreter der Kulturhistorischen Schule konzentrierte sich der Psychologe Alexei Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) auf die Erforschung des Bewusstseins und seiner Beziehung zu Kultur und Gesellschaft. Er interessierte sich besonders für die Rolle von Sprache und Kommunikation bei der Gestaltung der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, und seine Arbeit trug wesentlich dazu bei, das Verständnis der kulturhistorischen Schule darüber zu erweitern, wie soziale und kulturelle Faktoren die kognitive Entwicklung beeinflussen. Leontjew bewegte sich ausdrücklich und offensiv auf dem Boden des historischen Materialismus. Zentraler Bestandteil seiner Entwicklungstheorie der Persönlichkeit ist die Tätigkeitstheorie, mit der er, wie Klaus Holzkamp es ausdrückt, das Konzept der "Dreigliedrigkeit", das heißt der Vermitteltheit der Außenwelteinwirkungen auf das Subjekt durch die gegenständliche Tätigkeit einführte und sich damit explizit vom klassischen „zweigliedrigen“ Subjekt-Objekt-Schema der bürgerlichen Philosophie und Psychologie abgrenzte. Anschließend an die 1. und die 8. Feuerbachthese entwickelte Leontjew seine zentralen Thesen in der Schrift „Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit“11, die 1974 erstmals publiziert wurde.

Darin beleuchtet Leontjew die drei, seiner Ansicht nach, wichtigsten Kategorien einer wissenschaftlichen, und das heißt für ihn marxistischen Psychologie: gegenständliche Tätigkeit, menschliches Bewusstsein und Persönlichkeit. Menschliche Tätigkeit ist stets gegenständliche Tätigkeit, denn, auch wenn sie sich als innere, als Denktätigkeit nicht an einem materiellen Objekt vollzieht, ist sie doch intentional, d. h. auf einen Gegenstand bezogen. Gegenständliche Tätigkeit ist eingebettet in soziale Kontexte und Strukturen. Bezugnehmend auf eine der Schlüsselpassagen der Deutschen Ideologie schreibt Leontjew:

Unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sich die Tätigkeit des Menschen jedoch auch immer vollzogen hat, welche Struktur sie auch immer annimmt, man kann sie niemals isoliert von den gesellschaftlichen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft betrachten. Bei all ihrer Vielfalt stellt die Tätigkeit; des menschlichen Individuums ein System dar, das in das System der gesellschaftlichen Beziehungen eingeschlossen ist. Außerhalb dieser Beziehungen existiert keine menschliche Tätigkeit. Wie sie existiert, das bestimmen jene Formen und Mittel des materiellen und geistigen Verkehrs, die durch die Entwicklung der Produktion erzeugt werden und die sich nur in der Tätigkeit der konkreten Menschen realisieren können.12

Entscheidend für die Rolle der Tätigkeit bei der Entstehung und Entwicklung des Bewusstseins ist für Leontjew, dass sie Bedeutung hat, und: „Die Bedeutungen sind auch die wichtigsten ‚Konstituenten‘ des menschlichen Bewußtseins.“ Hier nun kommt die Sprache ins Spiel:

Wenn auch der Träger der Bedeutungen die Sprache ist, ist doch die Sprache nicht der Demiurg der Bedeutungen. Hinter den sprachlichen Bedeutungen verbergen sich die gesellschaftlich erarbeiteten Verfahren (Operationen) der Handlung, in deren Prozeß die Menschen die objektive Realität verändern und erkennen. Mit anderen Worten, in den Bedeutungen ist die in die Sprachmaterie umgestaltete und eingekleidete ideelle Existenzform der gegenständlichen Welt, ihrer Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen repräsentiert, die durch die gesamte gesellschaftliche Praxis entdeckt wurden.13

Geist, Bewusstsein ist also nicht etwas, das in irgendwelchen Hirnarealen oder neurophysiologischen Prozessen verortet werden kann. Auch auf individualpsychologischer Ebene entsteht und existiert Bewusstsein nur in gegenständlicher Tätigkeit. Bewusstes Handeln ist gegenständliches Handeln, und die Sprache ist die Existenzform des Bewusstseins, indem sie Träger der Bedeutung des bewussten Handelns ist. Das entscheidend Neue der Tätigkeitstheorie gegenüber den Einsichten von Marx und Engels ist die Erkenntnis der zentralen Rolle der Sprache für die Ausbildung und die Erklärung des Bewusstseins. Zusammen mit dem berühmten Satz von Wygotski (auf den Leontjew sich natürlich beruft): „Der Gedanke drückt sich im Wort nicht aus, sondern vollzieht sich im Wort.“, markiert dies quasi einen linguistic turn in der marxistischen Philosophie. Ganz nebenbei werden so die Mysterien der bürgerlichen Philosophie des Geistes (Leib-Seele-Problem u. a.) abgeräumt; zugleich wird der Behaviorismus überwunden, der das Bewusstsein als aktive Komponente menschlichen Verhaltens schlicht negiert.

Aus den bereits erwähnten Gründen wurde Leontjews Tätigkeitstheorie der Subjektkonstitution von der marxistischen Philosophie kaum wahrgenommen. Ihre Wirkung beschränkte sich auf den Bereich der Erziehungswissenschaften. In dieser Hinsicht teilt sie das Schicksal der meadschen Theorie.


1 So sieht es auch der Philosoph Peter Ruben, wenn er schreibt: „Gemeinschaft, so können wir sagen, wird durch die unmittelbare Kooperation in der Produktion realisierbarer (absetzbarer) Güter oder Dienste hervorgebracht. Sie ist wesentlich durch Produktion begründet. Gesellschaft dagegen wird durch den Austausch, durch den Handel fundiert.“ Peter Ruben, Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet.

2 Herbert Hörz. Der Mensch als biopsychosoziale Einheit – Wesen, Genese und Determinanten, 1988. http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/HoerzMensch.pdf

3 George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp 1973, S. 153

4 MEW, Bd. 3, S.

5 a. a. O., S. 174

6 Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert, Kap. 5

7 a. a. O., S. 121

8 a. a. O., S. 113

9 John R. Searle. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Suhrkamp 2011

10 Hans Joas. Praktische Intersubjektivität. Suhrkamp 1989, ders. Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Suhrkamp 1992

11 A. N. Leontjew. Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit. Abrufbar im Max-Stirner-Archiv: http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/Leontjew-TaetigkeitBewusstseinPersoenlichkeit.pdf

12 a. a. O., S. 40 (83)

13 a. a. O., S. 65 (135)

Dienstag, 8. März 2022

Россия капут

Ein Lamento

Donnerstag, der 24. Februar 2022, war einer der traurigsten Tage meines bisherigen Lebens. Das, was bis auf die US-amerikanischen Geheimdienste niemand ernsthaft für möglich gehalten hatte, dass Wladimir Putin den Befehl zum großflächigen militärischen Angriff auf die Ukraine geben könnte, war geschehen. Einen Tag nach dem Feiertag der Roten Armee, der inzwischen Tag des Verteidigers des Vaterlandes genannt wird, und 100 Jahre nach dessen Einführung durch Lenin, beging die Nachfolgerin eben jener Roten Armee das Sakrileg eines Angriffskriegs gegen das eigene Volk.

Ich sage bewusst, „gegen das eigene Volk“, weil Putin in ideologischer Vorbereitung dieses Krieges der Ukraine das Existenzrecht als eigenständige Nation abgesprochen und sie zum historisch verbrieften Teil Russlands erklärt hatte. Ich oute mich nun als jemand, der bis vor Kurzem ähnlich dachte. Das soll nicht heißen, ich hätte der Ukraine das staatliche Existenzrecht abgesprochen, nur als Nation im üblichen Sinne einer historisch gewachsenen Menschengruppe, die über gemeinsame Sprache, Traditionen, Sitten und Gebräuche verfügt und sich dadurch signifikant von anderen unterscheiden lässt, konnte ich weder die Ukraine noch Belarus sehen. Zu lang ist die gemeinsame Geschichte, zu vielfältig die kulturellen, familiären und auch wirtschaftlichen Verflechtungen von Russen, Ukrainern und Weißrussen. Es gab zwar kurze Episoden der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, begleitet auch von einem militanten Separatismus, zu einem wirklichen Nation Building ist es dabei allerdings nicht gekommen – das scheint nun wohl der Krieg zu bewirken.

An jenem Donnerstag war ich erschüttert und eben tief traurig, denn, wie an anderer Stelle erwähnt, verbindet mich mit Russland meine eigene, ganz persönliche Geschichte. Acht der besten Jahre meines Lebens habe ich in St. Petersburg (damals noch Leningrad) verbracht, habe dort den Alltag als Student und später als Doktorand gelebt, hatte Freunde und Liebesbeziehungen und war zum Ende hin gefühlt mehr Russe als Deutscher. Und weil das so war, und weil das in Teilen auch Jahrzehnte später immer noch so ist, empfinde ich den Angriff auf die Ukraine auch als Angriff auf meine Person. Putin hat damit mein Bild von Russland und die tiefsitzenden Überzeugungen, die ich über dieses Land und seine Bewohner hatte, vollends und endgültig zerstört. Er hat mich eines wesentlichen Teils meiner Persönlichkeit beraubt. Моя Россия капут.

Dieser Krieg wird nicht nur von einem Präsidenten und einer Handvoll Generälen geführt. Krieg führen Soldaten, und, um einen solchen Krieg zu führen, braucht es, anders als in Afghanistan, Syrien oder auch Georgien, den Rückhalt der eigenen Bevölkerung. Dass die Unterstützung für den Krieg von zuletzt angeblich 70 % der russischen Bevölkerung nur auf Desinformation und Propaganda zurückzuführen wäre, kann ich nicht glauben. Vielmehr denke ich, dass mein Russlandbild schlicht falsch war. Es war geprägt von der persönlichen Erfahrung des Lebens in einer sehr modernen, kulturell hochentwickelten und vergleichsweise weltoffenen Metropole, vom akademischen Milieu, in dem ich mich naturgemäß fast ausschließlich bewegte und das man heute wohl als Filterblase bezeichnen würde, und auch von den ersten Jahren der Perestroika, mit der wir so viel Hoffnung verbanden. Bei drei berufsbedingten Moskau-Aufenthalten in der chaotischen Jelzin-Periode Mitte der 1990er Jahre bekam das Bild schon einige Risse, allerdings nur bedingt durch die unübersehbaren Zeichen des einsetzenden Turbokapitalismus (marxistisch gesprochen, der ursprünglichen Kapitalakkumulation).

Was ich, wie sicher viele andere „Russland-Versteher“, nicht gesehen habe und vielleicht auch nicht sehen wollte, war, wie durchmilitarisiert die Sowjetunion war und in deren Nachfolge die Russische Föderation anscheinend wieder ist. Die alltägliche öffentliche Präsenz von uniformierten Militärangehörigen in vergleichsweise großer Zahl erschien seinerzeit ganz normal. Studenten mussten sich einer militärischen Ausbildung unterziehen, Studentinnen wurden zu Krankenschwestern qualifiziert. Der Kult der Weltkriegsveteranen wie auch des воин, des Kriegers schlechthin, war allgegenwärtig. Zu schweigen natürlich von den Militärparaden am Tag des Sieges. Wenn denn die Militarisierung in den Jelzin-Jahren abgeschwächt worden war, so wurde sie unter Putin definitiv wieder verstärkt. Was ich damit sagen will, ist, bei der russischen haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, der vor allem aufgrund der fast durchgehend gewalthaltigen Sowjetgeschichte und anders als den postheroischen Gesellschaften (Herfried Münkler) Westeuropas das Kriegführen nie fremd geworden ist. Das ist es, was ich, ungeachtet des Winterkriegs von 1939, ungeachtet der Okkupation Ostpolens in Umsetzung des Hitler-Stalin-Pakts, ungeachtet der Einmärsche in Ungarn und der Tschechoslowakei und ungeachtet der hinlänglich bekannten postsowjetischen Militäraktionen offenkundig verdrängt hatte.

Lenin – Stalin – Putin. Welch merkwürdige Reihung. Drei Personen, die entschlossen waren bzw. sind, Millionen von Menschen der Verwirklichung ihrer Ideen zu opfern. Lenin im Verein mit Trotzki der Weltrevolution, Stalin mit seinen wechselnden Helfershelfern dem Sozialismus in einem Land, Putin im Verbund mit Lawrow und Shoigu dem Wiedererstarken Russlands als Weltmacht. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Aggressionen, an dem auch die Sowjetunion ihren Anteil hatte, wenngleich der Große Vaterländische Krieg und mit ihm die Befreiung Ostdeutschlands und Osteuropas vom Nationalsozialismus sich wohl am tiefsten in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Danach haben wir, gerade wir Deutschen, Russland stets beurteilt. Und das wird auch seine Berechtigung gehabt haben, nun jedoch kann dies nicht mehr geltend gemacht werden. Der historische Kredit, den Russland weltweit trotz allem immer noch genossen hat, ist aufgebraucht. Auch bei mir.

Die Linke, zumal die marxistische, ist unfähig, Erklärungen für das ökonomisch wie politisch so irrationale Agieren des russischen Präsidenten zu finden. War Robespierre ein Verbrecher? Wenn ja, dann war es Lenin auch. Putin ist es zweifellos. Man sucht nach rational nachvollziehbaren Gründen für den Überfall auf die Ukraine und findet keine. Der Beitritt der ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten zur NATO war m. E. n. keinem aggressiven Impetus des Nordatlantikpakts geschuldet. Angesichts der Erfahrungen zwischen 1945 und 1989 suchten sie schlichtweg Schutz unter dem Schirm vornehmlich der USA. Ich will die NATO hier nicht besser machen als sie ist. Höchstwahrscheinlich wäre es vernünftiger gewesen, sie hätte es dem Warschauer Vertrag gleich getan und sich in den 1990er Jahren aufgelöst. Trotzdem muss man konstatieren, dass es Nationalstaaten waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg offensive Kriege führten, solo oder in wechselnden Koalitionen. Es war nicht die NATO. Einzig der Kosovo-Krieg 1999, den die NATO als reinen Luftkrieg mit Flugzeugen, Raketen und Marschflugkörpern gegen Serbien führte und der maßgeblich durch deutsche Politiker, namentlich Joschka Fischer und Rudolf Scharping, verbal befeuert wurde, muss bis in diese Tage als vermeintlicher Beweis für die Aggressivität der NATO herhalten und auch dafür, dass Putins Forderungen der NATO gegenüber berechtigt seien. Dass es beim Kosovo-Krieg nicht um die Okkupation eines souveränen Staates ging, wird dabei vorsätzlich ausgeblendet. Dass die NATO Russland bedrohe, gehört zu den Scheinargumenten der russischen Führung, genauso wie die Behauptung, in Kiew säße eine nazistische Verbrecherbande, die man im Interesse des ukrainischen Volkes entmachten müsse.

Den Zerfall der Sowjetunion als die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen, ist angesichts der beiden Weltkriege eine anmaßende Übertreibung. Aber Putin hätte sicher Recht, wenn hinter dieser Behauptung der Gedanke stünde, dass der Zerfall der Sowjetunion den Zustand der Welt keinesfalls verbessert hat. In den Nachfolgestaaten der UdSSR, ausgenommen die drei baltischen, erstarkte der Nationalismus und es herrschen bis heute autoritäre, korrupte Kleptokraten, gestützt von oligarchischen Wirtschaftseliten, deren Reichtum geradewegs aus der dreisten Aneignung und Ausbeutung des vormaligen Volks- respektive Staatseigentums stammt. Zuallererst aber trifft dies zu auf Russland selbst.

Nein, Putin ist sicher nicht das russische Volk, und er vertritt es auch nicht. Im Gegenteil, er selbst und seine engen Vertrauten stehen nur für sich, eine erzreaktionäre, nationalistische, kleptokratische Clique, die in einer Zeit, wo wir wahrlich genügend andere Menschheitsprobleme zu bewältigen haben, womöglich nicht einmal davor zurückschrecken würde, die Welt in die nukleare Katastrophe zu manövrieren.

Ich glaube immer noch, die Russen wollen keinen Krieg. Und doch führen sie ihn. Wie nur konnte es soweit kommen?

Sonntag, 14. November 2021

Der Traum vom Postwachstum

 Wehe denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken,
bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitzt!

Jesaja 5,8


Es steht außer Frage: Das globale ökonomische Weiterso wird langfristig zu gravierenden Veränderungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen bis hin zu deren Vernichtung führen. Der Earth Overshoot Day, der Erdüberlastungstag, der Tag eines Jahres also, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen in diesem Jahr übersteigt, rückt von Jahr zu Jahr im Kalender weiter nach vorn. Laut Wikipedia fiel er 1970 auf den 29. Dezember und war 2019 beim 29. Juli angekommen. Pandemiebedingt war 2020 eine leichte Erholung zu verzeichnen, die aber 2021 umgehend wieder wettgemacht wurde. Man schätzt, dass die Menschheit bereits 2050 doppelt so viele Ressourcen verbrauchen wird, wie die Erde dann bereitzustellen imstande ist. Bei der Bewertung der Schädlichkeit des Ressourcenverbrauchs sind zwei maßgeblich verantwortliche Phänomene zu unterscheiden: Da wir in einer Angebotsökonomie leben, in der sich erst am Markt entscheidet, ob eine Ware einen Käufer findet, herrscht objektiv, außer in Krisenzeiten, eine permanente Überproduktion und damit auch Unterkonsumtion. Es wird mehr produziert, als wir verbrauchen, und ein Teil der überschüssigen Waren kann (aus technischen wie aus wirtschaftlichen Gründen) nicht recycelt und in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden, wird also zu Müll. Aus unserer subjektiven Sicht haben wir es andererseits, im globalen Norden jedenfalls, mit einer Überkonsumtion zu tun: Wir verbrauchen mehr als wir benötigen und, darauf macht der Earth Overshoot Day aufmerksam, mehr als der Bio- und der Atmosphäre des Planeten zuträglich ist. Auch das eine Konsequenz der Angebotsökonomie.

Die Verantwortung für diese Entwicklung wird der dem Kapitalismus inhärenten wirtschaftlichen Wachstumsdynamik zugeschrieben. Häufig wird dabei von einer Wachstumsideologie gesprochen, so als ob es lediglich dem Willen der wirtschaftlichen Akteure zu verdanken sei, dass der Kapitalismus Wirtschaftswachstum und, damit einhergehend, extensiven Ressourcenverbrauch generiert. Als Gegenmittel gegen diese Ideologie wird seit einigen Jahren Postwachstum (Degroth) in Stellung gebracht. In Deutschland wird die Postwachstumsidee prominent von Nico Paech vertreten sowie zuletzt auch von Klaus Dörre und Hartmut Rosa mit ihrem 2019 abgeschlossenen Postwachstumskolleg an der Universität Jena. Hinter dem griffigen Namen verbirgt sich die Idee einer statischen bzw. stationären, sich im Gleichgewicht befindenden Volkswirtschaft, in der alle gesamtwirtschaftlichen Faktoren in einem langfristigen Gleichgewicht sind und sich nur noch selbst reproduzieren. In einer idealen Postwachstumsgesellschaft gäbe es weder Über- noch Unterkonsumtion. In ihr würde für eine konstante Bevölkerung mit konstantem Ressourcenverbrauch eine konstante Warenmenge erzeugt. Erreicht werden müsste dies zunächst durch erhebliche Schrumpfung, denn wie das diesjährige Datum des Erdüberlastungstags, 29. Juli, zeigt, müsste der globale Ressourcenverbrauch um ca. 43 % gesenkt werden, denn eine stationäre Wirtschaft auf dem aktuellen Level würde uns bei der Lösung der anstehenden Probleme ja keinen Deut weiterbringen. Selbst wenn kommenden Winter in Davos beschlossen würde, dass die Weltwirtschaft wie einst der kleine Blechtrommler Oskar Matzerath von jetzt auf gleich das Wachstum einstellt, brächte uns das im Kampf gegen Klimakrise, Artensterben, Bodenvernutzung und Ozeanvermüllung rein gar nichts. Es müsste weiter so lange geschrumpft werden, bis Bio- und Atmosphäre sich vom Anthropozän einigermaßen erholt haben, und der Verzicht, den die Menschen im globalen Norden, aber auch in den Schwellenländern zu leisten hätten, wäre enorm. Dennoch ist der Gedanke einer Befreiung vom Wachstumszwang gerade aus Sicht des einzelnen attraktiv, verbindet er doch damit auch die Hoffnung auf mehr Lebensqualität etwa durch radikal kürzere Arbeitszeit, weniger Konkurrenzdruck, fehlenden Konsumterror, gesündere Lebensweise etc. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche Postwachstumsgesellschaft realistischerweise überhaupt möglich ist. Nach meinem Dafürhalten gibt es gewichtige Argumente, die dagegen sprechen und die ich im Folgenden auszubuchstabieren versuche.

1. Unter sonst gleichen Bedingungen generieren Warenökonomien Wachstum.

Die kapitalistische Wirtschaft ist ganz offensichtlich eine Warenwirtschaft. Eine Ware ist ein Gut, das gegen andere Güter getauscht werden kann, dazu gehören auch Dienstleistungen. Die Warenförmigkeit der Güter ist eine Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Der Wert (= Tauschwert) einer Ware realisiert sich im Tauschvorgang, der im Kapitalismus auf dem Markt bzw. den Märkten stattfindet. Die universelle Tauschware, die Ware also, gegen die alle anderen Waren getauscht werden können und die somit als universeller Wertmaßstab am Markt auftritt, ist das Geld. Der (Geld-)Wert einer Ware bemisst sich nach dem Wert der zu ihrer Herstellung benötigten Ressourcen. In einer entwickelten, arbeitsteiligen Ökonomie sind diese Ressourcen ebenfalls Waren. Somit lässt sich der Geldwert einer Ware daran bemessen, wie viel Geld zu ihrer Herstellung eingesetzt wurde.

Man muss kein Anhänger der marxschen Arbeits- und Mehrwerttheorie sein, um einzusehen, dass die Kurzform der Waren- und Geldbewegung G – W – G´, wobei G´ > G, in einer Warenökonomie universelle Geltung hat. In der Politischen Ökonomie des Kapitalismus heißt die Differenz M = G´ - G Mehrwert, in der vor langer Zeit verschiedenen Politischen Ökonomie des Sozialismus, die offiziell keinen Markt kennen wollte, Mehrprodukt. Substanziell bezeichnen beide Begriffe das Gleiche. Mehrwert resp. Mehrprodukt entstehen in einer Warenökonomie gesamtgesellschaftlich allein schon deshalb, weil kein Warenproduzent, erst recht kein staatlicher Gesamtkapitalist, dauerhaft für Null- oder negativen Gewinn resp. Ertrag produzieren kann, und das aus einsichtigen Gründen. Zum einen sind Produzenten gezwungen zu (re-)investieren, um ihre Produktion dauerhaft aufrechterhalten zu können, und dafür benötigen sie Geld. Zum anderen geht, wer seine Ware zum Markt bringt, um sie dort zu verkaufen, das Risiko ein, auf ihr sitzen zu bleiben, weil dem Gebrauchswert der Ware gerade kein Bedarf gegenüber steht, und für diesen Fall muss vorgesorgt, sprich, es müssen Rücklagen gebildet werden.

Das auf dem Markt benötigte Mehrgeld bereitzustellen, ist Aufgabe der Banken. Um Wachstumszwang zu erzeugen, bedarf es also gar nicht des Drucks durch den Kreditzins, wie manche geltend machen. Auch eine Null-Zins-Ökonomie wächst, wie wir seit einigen Jahren in der Eurozone beobachten können. Vielmehr ist es doch so, dass die EZB ihre aktuelle Null-Zins-Politik gerade zur Beförderung von Investitionen, also Wachstum, verfolgt.

Nun könnte man einwenden, das dem Warentausch intrinsische Geldwachstum müsse nicht notwendigerweise zu einem Wachstum des Ressourcenverbrauchs, um den es ja den Anhängern der Postwachstumsidee geht, führen. Fraglich ist allerdings, wie anders als in Investitionen, die ganz sicher Ressourcen benötigen, das Mehrgeld eingesetzt wird. Die Frage stellt sich gleichermaßen, wenn Schrumpfgeld-Theorien eingebracht werden, deren Umsetzung erst recht zu mehr Konsum mit entsprechendem Ressourcenverbrauch führen würde.

Post-, will heißen Null- oder Negativ-Wachstum wird in einer arbeitsteiligen, Waren tauschenden, marktbasierten Ökonomie unter normalen, also nicht krisenhaften Bedingungen, nicht erreichbar sein, es sei denn durch bewusste und andauernde Zerstörung von Werten.

2. Technischer Fortschritt bewirkt Wachstum.

Der Kapitalismus beginnt im England des 18. Jahrhunderts mit technischen Innovationen – mechanischer Webstuhl und Dampfmaschine werden erfunden, die Industrielle Revolution wird eingeläutet. Die Gründe dafür, dass dies gerade in England passierte, hat Ulrike Herrmann in ihrem lesenswerten Buch Der Sieg des Kapitals1 überzeugend dargelegt. Die Industrielle Revolution führte zu einem bis dahin nie gekannten ökonomischen Wachstum, das wesentlich auf der Nutzung neuartiger Maschinen basierte, die produktiver waren als der Mensch mit seinen traditionellen Werkzeugen. Seither hat noch jede bedeutsame technische Innovation als Wachstumsmotor gewirkt. Um nur die wichtigsten zu nennen: Elektrizität, Verbrennungsmotor, Stickstoffsynthese, Photozelle, Kernspaltung, Raketenantrieb, Halbleiter, Laser, Gentechnik, Internet. Dass diesen technischen Innovationen, abgesehen vom Internet, jeweils fundamentale naturwissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen, ist hinlänglich bekannt und sei hier nur am Rande erwähnt.2

Mit dem technischen Fortschritt wachsen auch die Bedürfnisse, oder, besser gesagt, durch innovative Produkte werden neue Bedürfnisse geweckt. Elektrizität ist die Voraussetzung für Beleuchtung, Kühlschränke, Fernseher, Computer usw. usf. Photoempfindliche Halbleiter sind die Basis von Digitalkameras. Laser tasten CD, DVD und Blue Ray ab oder erzeugen Hologramme auf Konzertbühnen. Hier ließe sich einwenden, dass die neuen Produkte alte, überholte verdrängen und so zumindest die Ressourcen, die zur Herstellung der alten Produkte benötigt wurden, nun eingespart werden. In den allermeisten Fällen jedoch sind die neuen Produkte technisch komplexer und benötigen mehr und vor allen Dingen andere Ressourcen als die alten. Bislang benötigten sie meist auch mehr Energie, sei es zu ihrer Herstellung, sei es zu ihrer Nutzung.3

Führen Innovationen zu einer Erhöhung der Produktivität, stellt sich die Sache noch deutlicher dar. Steigerung der Produktivität bedeutet, dass in der gleichen Zeit mehr produziert werden kann; das gilt auch für Dienstleistungen. Um zu vermeiden, dass durch eine höhere Produktivität mehr Güter produziert werden, könnte die Arbeitszeit gesenkt werden. Nur, in einer zunehmend automatisierten Produktion spielt die individuelle Arbeitszeit der Beschäftigten für den Produktionsausstoß eine immer geringere Rolle. Verkürzte Arbeitszeit bedingt einen adäquaten Lohnausgleich, sonst würde sie von den Beschäftigten nicht akzeptiert. Dass sich der Konsum dann verringern würde, ist schwer vorstellbar. Eher ist das Gegenteil wahrscheinlich: Mehr freie Zeit würde bei den meisten vielleicht nicht den Konsum materieller Güter erhöhen, gleichwohl aber den immaterieller wie Kultur, Reisen, Sport, deren Bereitstellung jedoch ebenfalls (materielle) Ressourcen benötigt.

Der folgende Exkurs in die Literatur soll das zweite Argument gegen Postwachstum illustrieren. In Der Gottkaiser des Wüstenplaneten, dem 1981 im englischen Original erschienenen vierten Band seiner Dune-Reihe, hat Frank Herbert versucht, eine statische Welt ohne Entwicklung zu beschreiben. Leto II., der sich im dritten Band auf dem Planeten Arrakis, dem Wüstenplaneten, mit dem Wurm vereinigt hatte, regiert als nahezu allmächtiges und nahezu allwissendes hybrides Wesen über eine auf unzähligen Planeten verstreute Menschheit. Seine, vom Vater Paul übernommene Mission besteht in nichts weniger als der Rettung jener Menschheit vor dem selbst verursachten Untergang.

















Leto II. Entwurf von HR. Giger für die gescheiterte Verfilmung durch A. Jodorowsky. Quelle: HR Giger

Wodurch der Untergang bewirkt werden könnte, wird nicht explizit thematisiert. Es wird allerdings angedeutet, dass die Menschheit vor tausenden von Jahren schon einmal kurz vor ihrer Selbstabschaffung stand und sich nur dadurch retten konnte, dass sie einen Krieg gegen die denkenden Maschinen führte, die dabei waren, die Herrschaft über die Menschen zu übernehmen, und nachfolgend Entwicklung und Nutzung denkender Maschinen unter Strafe stellte. Seither hat sie ihre Kreativität zuvörderst in die Entwicklung und Erweiterung der eigenen, menschlichen Fähigkeiten investiert, sei es durch Training, durch Einnahme von bewusstseinsverändernden Drogen oder durch gezielte Züchtung.

Letos II. verfolgt den Goldenen Pfad.4 Unter seiner Herrschaft kommt die Entwicklung der Menschheit für drei Jahrtausende zum Stillstand. Leto verfügt über hellseherische Fähigkeiten, mit denen er jedes Ereignis in seinem galaktischen Imperium wahrnehmen kann, über die Langlebigkeit des Wurms, mit dem er sich vereinigt hatte, und über eine loyale, nur aus Frauen bestehende Armee, die Fischredner. Er ist der Herr, sie sind seine Heerscharen. Auf Arrakis hat Leto die alleinige Verfügung über das Spice, die Substanz, ohne die es keine interstellare Raumfahrt gibt. So kommt die Raumfahrt nahezu komplett zum Erliegen, und damit verschwindet auch die vormals bestehende Einheit der Menschheit. Lediglich die Fischredner können sich ihrer auf Geheiß des Gottkaisers bedienen, wenn es gilt, auf irgendeinem Planeten eine Revolte niederzuschlagen. Technologische Entwicklungen sind bei Strafe verboten, und, wenn sie, wie auf dem Planeten IX, doch stattfinden, dann nur, wenn sie keine Bedrohung der Herrschaft Letos und von deren Zweck darstellen.

Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Menschen ein solches Regime auf Dauer nicht aushalten können. "Eine Wirklichkeit, die den Menschen entmündigt, führt zur Rebellion - ohne dass der Mensch es selbst will und merkt.", meint Alexander Kluge.5 Im Verlauf der Handlung wird auf vielerlei Weise versucht, den verhassten Herrscher zu töten, nicht nur seiner erdrückenden, die Freiheit beschränkenden Allmacht wegen, sondern auch wegen der verordneten Stagnation, dank der das Wort Zukunft seinen eigentlichen Sinn verloren hat. Denn was bedeutet schon Zukunft, wenn sie sich durch nichts von der Vergangenheit unterscheidet, wenn es nichts gibt, worauf man hoffen kann, weil alles so bleibt wie es ist? Der Mensch ist ein zukunftsorientiertes Wesen. Das Gehirn, sagt der in Ottawa lehrende Neurophilosoph Georg Northoff, ist ein Prognoseorgan. Leerstellen unserer Gegenwart füllt es mit Erwartungen. An einer Stelle des Buches heißt es, eine Bevölkerung ließe sich am besten kontrollieren, wenn sie sich nur auf dem Boden bewegt. Am Ende gelingt es Letos Nachkommen im Verein mit seinem hunderte mal geklonten besten Vertrauten, den Despoten zu töten.

Der Weg der erzwungenen Stagnation hat die Menschheit zwar erhalten, sie aber nicht auf den Goldenen Pfad gebracht. Dies wird sich in den zwei Folgebänden des Romans zeigen, die u. a. den Kampf um Technologien und um Ressourcen thematisieren. Die Menschheit ist verstreuter als je zuvor, die 3000 Jahre lang unterdrückten Konflikte sind in anderer Form und an anderer Stelle wieder aufgebrochen. Schlussendlich bleibt dem Leser ein letzter Funke Hoffnung, wenn nämlich zwei Nachfahren der einstigen Tyrannenmörder ins Ungewisse aufbrechen, um womöglich eine neue, vielleicht sogar bessere Menschheit zu begründen.

3. Degroth ist nur bei Akzeptanz der Abscheulichen Schlussfolgerung erreichbar.

Abschließend möchte ich ein ethisches Argument anführen, das an Überlegungen des britischen Moralphilosophen Derek Parfit anknüpft. Dieses Argument setzt allerdings voraus, dass man das Grundprinzip des Utilitarismus akzeptiert. Das mag im Land der Kant-Jünger als eine zu starke Voraussetzung erscheinen, realistischerweise jedoch muss man den Utilitarismus als global vorherrschende Metaethik ansehen, die auch vielen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen internationaler Organisationen, Gremien und Konferenzen zu Grunde liegt. Die ursprüngliche Formulierung des utilitaristischen Grundprinzips findet sich bereits 1725 im Inquiry into the Original of Our Ideas of Virtue or moral Good des schottischen Aufklä­rers Francis Hutcheson. Sie lautet: „Diejenige Haltung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ Parfit formuliert das utilitaristische Grundprinzip folgendermaßen um: „Unter gleichen Rahmenbedingungen ist es besser, wenn es eine größere Gesamtsumme an Glück gibt.“6 und nennt dies das Hedonistische Gesamtnutzenprinzip. Unter Glück ist dabei im einfachsten Fall das Maß an Lebensqualität, ausgedrückt in messbaren Größen, wie etwa Pro-Kopf-Einkommen, medizinischer Versorgungsgrad o. ä., zu verstehen.

Nach Prognosen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung bis 2100 auf über 10 Milliarden Menschen anwachsen. Ob danach, wie von vielen Forschern erwartet, die Zahl wieder sinkt, ist m. E. seriös nicht vorhersehbar, weil abhängig von zu vielen schwer abschätzbaren Faktoren. Das ist für meine Argumentation auch nicht von Belang; entscheidend ist, dass die Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten weiter wächst. 2017 lag das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf weltweit bei 10.366 US$. Der aktuelle Wert liegt sicher etwas höher. Würde eine Postwachstumsökonomie bei diesem Stand einsetzen, Ressourcenverbrauch und Güterproduktion also auf diesem Niveau stagnieren, bedeutete dies bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum bis 2100 eine Verringerung des Pro-Kopf-BNE um etwa ein Viertel. Angesichts der höchst ungleichen und sicher ungerechten Verteilung des Reichtums auf der Welt, die man der verlinkten BNE-Tabelle entnehmen kann, wäre dies in einem hypothetischen Szenario der andauernden Umverteilung unproblematisch.

Was hat das nun aber mit der Abstoßenden Schlussfolgerung zu tun? Die Abstoßende Schlussfolgerung besagt, dass es bei Zugrundelegung des Hedonistischen Gesamtnutzenprinzips unter sonst gleichen Bedingungen besser sein könnte, dass mehr Menschen ein Leben führen, das weniger lebenswert ist und vielleicht gerade noch so lebenswert wäre.7 Mit der Idee des Postwachstums wird ja das Ziel verfolgt, unsere materiellen Lebensgrundlagen dauerhaft zu erhalten. Wird dieses Ziel dem individuellen Einzelinteresse nach einem lebenswerten Leben übergeordnet, muss bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum auch die Abstoßende Schlussfolgerung akzeptiert werden. Damit soll nicht gesagt sein, dass Postwachstum unmoralisch wäre; ich möchte lediglich auf die Konsequenzen hinweisen, die in der aktuellen Lage der Menschheit damit verbunden wären; auch für seine Befürworter.

Weitere Probleme ergeben sich aus der Notwendigkeit, die pro Kopf knapper werdenden Ressourcen bzw. Güter zu verteilen. Es müsste wohl eine internationale Institution mit entsprechenden Vollmachten installiert werden, die aber, anders als der Gottkaiser Leto II., nicht dem gleichermaßen abstoßenden Hydraulischen Despotismus verfallen sollte. Die Zuteilung knapper Güter ist stets mit moralischen Dilemmata verbunden, erinnert sei nur an die Transplantationsmedizin oder das anfängliche Chaos bei der Corona-Impfkampagne. Eine Postwachstumsökonomie kann eben auch aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit keine Warenökonomie sein.

1 Ulrike Herrmann. Der Sieg des Kapitals. Westend Verlag 2013

2 Die Aufzählung endet bezeichnenderweise mit dem Internet, das aus dem in den 1960er Jahren zu militärischen Forschungszwecken entwickelten ARPANET hervorging. Das Internet, wie wir es heute kennen, ist ein Kind der 1980er Jahre und keineswegs gleichrangig mit den anderen aufgezählten Innovationen einzustufen. Allerdings hat es die Welt mindestens in gleichem Maße verändert wie diese. Mithin muss wohl ARPANET als die bislang letzte tiefgreifende technische Innovation angesehen werden. Bedenkt man, dass seither über 50 Jahre vergangen sind, gewinnt die vor einiger Zeit von Sahra Wagenknecht geäußerte These, dass der moderne, neoliberale, ausschließlich profitorientierte Kapitalismus innovationsfeindlich ist, eine gewisse Plausibilität. Mit der seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Wachstumsschwäche des Kapitalismus geht anscheinend auch eine Innovationsschwäche einher. Womöglich ist es sogar genau andersherum: Die Innovationsschwäche bewirkt die Wachstumsschwäche. Es bleibt abzuwarten, ob und wie bspw. CRISPR/Cas, KI oder Quantencomputer daran etwas ändern.

3 Alle politischen Vorgaben zur Senkung des Energieverbrauchs betrafen stets nur den Verbrauch bei Nutzung und nie den bei der Herstellung. Das zeigt sich exemplarisch an der andauernden Diskussion zur CO2-Gesamtbilanz von Elektroautos.

4 Der Autor und Deutschlandfunk-Moderator Benedikt Schulz hat sich Ende 2020 in einem hörens- (und lesenswerten Radio-Essay unter dem Titel Denken über tausend Generationen mit der Gedankenwelt von Frank Herberts Dune-Romanen im Kontext der Klimakrise beschäftigt.

5 Philosophie Magazin, 6/2021, S. 96

6 Derek Parfit. Personen, Normativität, Moral. Suhrkamp 2017, S. 380

7 Ebenda, S. 384, insbesondere Fußnote 8.

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...