Montag, 28. Januar 2013

Was erlauben Merkel?


Zum wiederholten Mal haben internationale Finanzkoryphäen den Sparkurs der deutschen Bun­desregierung kritisiert. Im Vorfeld und während des gerade abgehaltenen, Weltwirt­schaftsgipfel genannten Tref­fens der Willi und Waltraud Wichtigs dieses Planeten in Davos waren es einmal mehr IWF, Weltbank und OECD, die, wie Michael Krätke im Freitag kom­mentierte, Kanzlerin Merkel dazu rieten, sich von der Austeritätspolitik der vergange­nen Jahre zu verabschieden.
Ich bin weder Finanz- noch Volkswirtschaftler und habe keinen blassen Schimmer, welche Politik die richtige oder zumindest richtigere sein könnte. Allerdings frage ich mich seit längerem, was die Kanzlerin eigentlich erreichen will. Augenscheinlich ist ihren Äußerun­gen und Handlungen keine wirkliche Langzeitstrategie in Bezug auf die Finanz- und Schul­denkrise zu entnehmen; sie selbst sprach ja vom Fahren auf Sicht. Und da sie ebenso we­der Finanz- noch Volkswirtschaftlerin ist, steht zu vermuten, dass auch sie im Grunde ge­nommen kei­nen blassen Schimmer hat. Was ich mir aber nicht vorstellen kann, ist, dass Frau Merkel keine Strategie hat, dass sie nur auf simplen Hausfrauenprinzipien herumrei­tet und dabei von Gipfel zu Gipfel torkelt, wie es manches Mal den Anschein haben könnte. Sie ist ganz ge­wiss nicht so unbedarft, wie sie zuweilen daher redet. Wie auch andere Beob­achter vermute ich vielmehr, dass sie sehr wohl über eine Strategie verfügt, der aber eben keine fi­nanz- oder volkswirtschaftlichen Überlegungen zu Grunde liegen, sondern das rationale Kalkül der ma­thematisch und logisch geschulten Naturwissenschaftlerin. Und das ist wo­möglich recht einfach.
Rekapitulieren wir erst ein mal kurz den Stand der Dinge, wie ich ihn verstanden zu haben glaube. (Sollte ich dabei zu viel Banales von mir geben, möge man mir bitte verzeihen.) Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise hatte zur Ursache den teilweisen Zusammen­bruch des Spekulationscasinos in den USA, Europa und Japan, das wiederum nur entstehen konnte, weil die Politik seit den 1970er Jahren die regulativen Mechanismen der Steuer- und Fi­nanzpolitik sukzessive gelockert hatte. Diese Lockerung sollte ursprünglich sicher die Ka­pitalflüsse zwischen Finanz- und Realwirtschaft erleichtern, um so letzterer risiko­reiche Investitionen in innovative und beschäftigungswirksame Wirtschaftszweige zu erleich­tern. Das gelang auch eine Zeit lang bis zum Platzen der New-Economy-Blase eingangs des 21. Jahrhunderts. Daraufhin wurden staatlicherseits die Regularien weiter gelockert, was al­lerdings nicht die gewünschten Folgen hatte, sondern statt dessen dazu führte, dass das in­folge der umfangreichen Produktionsverlagerungen in Schwellen- und Entwicklungslän­der schnell akkumulierte und nun frei flottierende Kapital sein Heil in der Spe­kulation suchte.
An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Exkurs zu Merkels Kritikern in IWF und Weltbank. Gerade IWF und Weltbank waren in den 1980er und 90er Jahren die Protagonisten der Kapitalanlage in jenen Schwellen- und Entwicklungsländern. Sie initiierten und förderten große, kreditfinanzierte Entwicklungsprojekte, koppelten die Kreditvergabe an sozialpolitis­che Auflagen und trieben einige dieser Länder in den finanziellen Ruin. Erin­nert sei an Argentinien, dass sich aus der Schuldenfalle nur durch die Staatsbankrotterklä­rung über Nacht und den vollständigen Haircut hatte befreien können. Wer sich diese unrühmliche Geschichte noch einmal vergegenwärtigen möchte, sollte sich den Dokumen­tarfilm „Let´s make money“ ansehen.
Doch zurück zur Spekulation. Nach dem New-Economy-Crash wurde nun am Immobilien­markt spekuliert, der in den USA oder in Spanien staatlicherseits auch noch steuerlich ge­fördert wurde, ebenso am Rohstoffmarkt, wo dem wiederum staatliche Maßnahmen zur Förderung der erneuerbaren Energiegewinnung (Biosprit) entgegen kamen, sowie am Fi­nanzmarkt selbst. Am Finanzmarkt wurde natürlich schon länger spekuliert, z.B. auf Wechselkursschwankungen mit z.T. desaströsen Auswirkungen. Mit der Euroeinführung 2002 eröffne­te sich eine neue große Spielwiese – die Staatsverschuldung. In der Eurozo­ne konnte es nun logischerweise keine Wechselkursschwankungen mehr geben, und die Staaten selbst konnten auch nicht mehr mit Ab- oder Aufwertungen ihrer Währungen auf ökonomische oder soziale Entwicklungen reagieren, denn dank deutscher Definitionsho­heit sollte es oberste Aufgabe der neuen Europäischen Zentralbank werden, den Geldwert stabil zu hal­ten, also einerseits die Inflationsrate auf ein, seitens der Politik (sic!) vorgege­benes Maß zu be­schränken (german angst!) und andererseits für einen stabilen Wechsel­kurs zum Dol­lar zu sorgen. Währungsspekulationen gegen den Euro sind wegen der schie­ren Größe des Euroraums kaum möglich. Aber, in Abwandlung eines Satzes aus Jurassic Park, könnte man sa­gen: Das Geld findet immer einen Weg.
Gleiche Währung bedeutet keineswegs gleiche ökonomische Entwicklung, wie wir Ostdeutschen nur zu gut wissen. Die Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung der einzelnen Euroländer wirken sich aus in unterschiedlichen Zinsniveaus beim staatlichen Schuldenmachen am privaten Kapitalmarkt. Die Ratingagenturen bewerten die Kreditwür­digkeit eines Staates anhand seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und de­ren Ent­wicklungsperspektiven. Das jeweilige Rating bestimmt dann das Zinsniveau. Sowohl der Me­chanismus der staatlichen Kreditaufnahme am privaten Kapitalmarkt als auch die Rolle der Ratingagenturen bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit wurden bei der Euroeinfüh­rung genau so festgelegt. Dies sollte wohl der Disziplinierung von Eurostaaten mit lascher Fiskalpolitik dienen. Statt dessen sind die Zinssätze für die Staatsverschuldung samt den daraus abgeleiteten Derivaten (z.B. Kreditausfall­versicherungen) zum weltweiten Spekulati­onsobjekt geworden. Die Folgen sind bekannt.
Ich glaube, dass es das Ziel von Frau Merkel ist, die absolute Unabhängigkeit der Eurozo­ne von den bösen Finanzmärkten zu erreichen. Dazu müsste die Gesamtverschuldung der Staaten nahezu komplett abgebaut werden. Erster Schritt in diese Richtung ist, die Neu­verschuldung auf Null zu fahren, was in der Bundesrepublik seit einigen Jahren mehr oder weniger erfolgreich versucht wird. Voraussetzung dafür ist offensichtlich, dass die Steuer­einnahmen des Staates schneller wachsen als seine Ausgaben oder, bei stagnierender bzw. schrumpfender Wirtschaft, die Staatsausgaben entsprechend sinken. Das erste Modell wird seit einigen Jahren bei uns praktiziert, das zweite aktuell in Griechenland, Spanien und Italien. Das Kalkül ist ganz einfach: Wenn wir diese Banken, Hedgefonds und sonsti­gen Finanzhaie offenbar nicht gebändigt bekommen, jedenfalls weltweit nicht, ohne unser System signifikant anzutasten, dann sollen sie doch verhungern in ihrem Casino. Oder sollen sie doch weiter spielen, aber ohne unser Geld.
Wie jeder Mensch, trägt auch jeder Politiker sein spezielles persönliches oder auch Genera­tionentrauma mit sich herum, das sich in seiner Politik niederschlägt. Bei Helmut Kohl war es die politische Unzulänglichkeit sowohl persönlich als auch auch bezogen auf ganz Deutschland. Deshalb vielleicht hat ihn Mitterand damals beim Euro so schön in die Pfan­ne hauen können. Bei Gerhard Schröder war es die soziale Unzulänglichkeit, die ihn dazu trieb, sich als Politmacho und Haudrauf zu gerieren. Bei Angela Merkel ist es wo­möglich die ökonomische Unzulänglichkeit, die den traumatischen Untergrund der politi­schen Ent­scheidungen dieser Ostfrau meiner Generation bildet.
Bei einem nationalen Schuldenstand von 1,9 Billionen Euro scheint das Ziel des komplet­ten Schuldenabbaus selbst lang­fristig außerhalb jeglicher Reichweite, jedenfalls nicht, wenn man das erste Abbauszenario zu Grunde legt, das der höheren Steuereinnahmen. Das weiß auch Merkel, deshalb drängt sie aufs Sparen und Kürzen, egal ob in Griechenland oder hier daheim. Darin jetzt nur die persönliche Passion einer asketisch erzogenen ostelbischen Pfarrerstochter zu sehen, wäre sicher zu klischeebehaftet. Ich traue ihr durchaus zu, verstanden zu haben, dass wir dabei sind, die Grenzen des Wachstums zu erreichen und somit um Rückbau nicht herum kommen werden. Da Geld praktisch nichts wert ist, wäre es sicher ein Leichtes, gemeinsam mit Mario Draghi die Eurozone mit Geld zu zu scheißen, wie einst Hafferloher; nur würde uns das nicht retten. Uns Lebende vielleicht schon, nicht aber Europa und nicht das System.
Mir scheint, Angela Merkel möchte in die Geschichte eingehen - nicht als Retterin des Eu­ros oder Retterin Europas, sondern als Retterin des Systems durch Rückbau, als die Politi­kerin die den Turnaround eingeleitet hat. Denn, machen wir uns nichts vor, Deutschland ist kein Vorbild für Griechenland, umgekehrt soll ein Schuh draus werden. Und während Obama in den USA immer noch oder schon wieder auf Wachstum und Expansion setzt, kalkuliert Merkel ganz rational, dass es tendenziell bergab geht, ja bergab gehen muss, weshalb ihr Verzicht als einzig praktikable Alternative erscheint. Nur zur Klarstellung: Es geht dabei um Wohlstandsverzicht und kei­neswegs um Verzicht auf Wirtschaftswachstum, von dem wir, wie Schröders Agendapolitik (und deren Fortsetzung unter Merkel) gezeigt hat, eh nichts hätten.
Die Gefahr besteht m.E. darin, dass recht eigentlich nichts zu retten ist, und Frau Merkel hier eher in eine kryptostalinistische Attitüde verfällt: Wenn die Theorie nicht zu den Fakten passt, muss man eben die Fakten ändern.

Kinderwörter


Im Anschluss an die Ankündigung des Thienemann Verlags, Änderungen am Text von Ort­fried Preußlers Kinderbuch „Die kleine Hexe“ vorzunehmen und dabei das Wort Neger zu ersetzen, ist eine bundesweite Diskussion entbrannt, in der die Gegner dieses Vorgehens als selbsternannte Verteidiger von Authentizität und Werktreue selbst vor Zensurunter­stellungen in Richtung des Verlags nicht zurückschrecken. Das verwundert.
Mit dem Satz: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ hat Witt­genstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ ein grundlegendes Axiom jeglicher nachfolgenden Sprachwissenschaft formuliert. Gebrauch in der Sprache, nicht in der Lite­ratur. Das ist ein entscheidender Unterschied, denn Sprache ist, anders als Literatur, vor­nehmlich gesprochene Sprache. Der Leser von Literatur erschließt die Bedeutung der Sätze und Wörter eines literarischen Werkes nicht anhand eines dem Werk beigefügten Thesau­rus, sondern bringt sie gewissermaßen zur Lektüre bereits mit, was nicht ausschließt, dass er während der Lektüre ggf. Umdeutungen vornehmen muss. Die gesprochene Sprache, die Alltagssprache, die Umgangssprache gehen der literarischen Werksprache voraus und bestimmen erstinstanzlich deren Interpretation.
Wenn nun ein literarisches Wort in der Sprache nicht mehr in Gebrauch ist oder sich sein Gebrauch in der Sprache über die Jahre seit der Werkentstehung gravierend verändert hat, sieht sich der Leser, falls er nicht über den nötigen historisch-kritischen Sachverstand verfügt, ge­zwungen, zu Duden oder Wörterbuch (gerne auch online) zu greifen, was die Lektüre nicht unbedingt flüssiger macht. Dass es sich bei dem Wort Neger um eines handelt, dessen Be­deutung sich seit den 1950er Jahren entschieden gewandelt hat, und das, zumindest nach Maßstäben der political correctness, gar nicht mehr in Gebrauch sein dürfte, wird niemand ernsthaft bestreiten. Seinen Kindern wird man dieses Wort genauso wenig beibringen und auch erlauben wollen wie Fidschi, Zigeuner oder Kümmeltürke. Warum also sollte der Ne­ger noch Platz in der Kinderliteratur haben?
Wer hier auf Authentizität oder historische Werktreue pocht, hat nicht verstanden, wozu Kinderliteratur da ist und von wem sie gelesen wird. Will man allen Ernstes, dass sich Kinder beim Lesen eines Kinderbuches mit dem gesellschaftlichen und sprachli­chen Kontext zur Entstehungszeit des Buches auseinandersetzen? Grimms Mär­chen werden gelesen und verstanden, ohne dass die Leser etwas über die Zeit und Umstände ihrer Entstehung  wissen müssen. Kinderliteratur zeichnet sich, wie andere gute Literatur auch, eben dadurch aus, dass sie sich allein durch sich selbst verständlich machen kann. Noch weniger kann man wollen, dass in der Sprache nicht mehr gebräuchliche oder, wie im konkreten Fall, richtigerweise aus der Sprache verschwindende Wörter auf solche Weise künstlich am Leben erhalten werden. Also raus mit dem ganzen Mist.



Donnerstag, 17. Januar 2013

…was es ist


In Ridley Scotts Filmklassiker Blade Runner (1982) gibt es eine höchst bemerkenswerte Szene: Deckard hat Rachael soeben dem Voight-Kampff-Test unterzogen und spricht nun mit Dr. Tyrell über sein Ergebnis. Der ist beeindruckt darüber, dass es zwar erheblich mehr Fragen als üblich bedurfte, um heraus zu finden, dass Rachael ein Replikant ist (aus Sicht von Deckard und Tyrell verbietet sich die Verwendung des p.c. Ausdrucks „Replikantin“), Deckard schlussendlich aber doch dahinter gekommen ist. Tyrell erklärt Deckard den Grund dafür: „Sie weiß es nicht.“, woraufhin Deckard die bedeutsame Frage stellt: „Wie kann es nicht wissen, was es ist?“ („How can it not know, what it is?“)
Mit dieser Frage bezieht sich Deckard zunächst gewissermaßen nur auf die Gattungszugehörigkeit. Also: Kann es sein, dass ein Replikant, ein künstlicher Organismus oder auch eine künstliche Person, wie der Android Bishop in Alien3 sich selbst bezeichnet, nicht weiß, dass er/es künstlich ist? Oder allgemeiner: Kann es sein, dass ein intelligentes, vernunftbegabtes Wesen nicht weiß, was es für ein Wesen ist?
Implizit unterstellt diese Fragestellung, dass es für das betreffende Individuum einen Unterschied machen sollte, ob es natürlich oder ob es künstlich ist. Abgesehen davon, dass sich in einer solchen Unterstellung ein anthropozentrisches Weltbild offenbart, das behauptet, das Natürliche habe definitorische Hoheit über das Künstliche, was vor allem im Kontext der Filmszene keineswegs gerechtfertigt zu sein scheint, denn noch während des zitierten Dialogs zwischen Deckard und Tyrell bringt dieser das Credo seines Unternehmens mit dem Slogan: „Menschlicher als der Mensch“ auf den Punkt und stellt eben jene Definitionshoheit in Frage. Also abgesehen davon scheint Deckard mit seiner Frage ausdrücken zu wollen, dass ein künstliches intelligentes Wesen entweder wissen sollte, dass es künstlich ist, beispielsweise dadurch, dass seine Schöpfer ihm dies mitgeteilt hätten (das wäre trivial), oder, und nur das macht die Intention von Deckards Frage überhaupt erst interessant, dass es dies fühlen sollte, also ein subjektives Empfinden dafür haben sollte, nicht natürlichen Ursprungs zu sein. Aber kann das sein? Wie kann es fühlen, was es ist?
Angenommen, es kann dies. Angenommen, es würde einen Unterschied in der Selbstwahrnehmung machen, ob das Wesen durch die Vereinigung von Ei- und Samenzelle in die Welt gekommen ist oder dank mikrobiokybernetischer Ingenieurskunst. Nach der Theorie Siegmund Freuds sollte es einen solchen Unterschied geben, selbst wenn er dem betreffenden Wesen nicht bewusst wäre, denn, was die Selbstwahrnehmung und die Selbstinterpretation betrifft, hätte es schlicht keine adäquaten Vergleichsmaßstäbe, da ihm entscheidende Phasen der psychischen Individualentwicklung fehlten. Es wäre vergleichbar mit einem Asperger-Autisten, dem mangels einer Theory of Mind2 (ToM) die emotionalen Äußerungen seiner Umgebung größtenteils entgehen. Allerdings bezieht sich Freuds Theorie auf menschliches Bewusstsein und Unterbewusstsein, nicht auf künstliches. Warum sollte ein künstliches kognitives System, so menschengleich es auch konstruiert und gebaut sein mag, über vergleichbare mentale Zustände verfügen - vergleichbar in dem Sinne, dass unsere gängigen psychologischen Theorien anwendbar sind?
Im Film lautet die Antwort auf Deckards Frage schlicht: Künstliche Erinnerungen. Die für das Nichtwissen um die eigene Künstlichkeit erforderliche Kontingenz der Individualgeschichte wird mittels implantierter oder programmierter Erinnerungssequenzen einer natürlichen Person hergestellt. Auch das eine sehr weitgehende Annahme: Um sich als natürlicher Mensch zu empfinden, genügt es, wie ein natürlicher Mensch auszusehen, aus menschlichem Material zu bestehen und menschliche Erinnerungen zu haben. Vielleicht genügt das ja auch wirklich, und das Vorhandensein einer spezifisch menschlichen inneren Gefühlswelt und einer ToM ist für die menschliche Befindlichkeit völlig irrelevant. Mein Innenleben ist eine zutiefst subjektive Angelegenheit, von der nur ich selbst Kenntnis habe. Das Innenleben einer anderen Person bleibt mir notwendigerweise und trotz ToM größtenteils unzugänglich. Realistisch betrachtet, kann deshalb auch ich als Mensch nicht mit letzter Gewissheit wissen, was ich bin. Diese Einsicht erzeugt in Deckard die agnostische Paranoia, die die weitere Filmhandlung durchzieht.1
Man kann die Frage auch von einer anderen Seite aus beleuchten. In immer besserem Maße sind wir in der Lage, natürliche Bestandteile des menschlichen Körpers - Zellen, Gewebe, Organe, Gliedmaßen – durch künstliche zu ersetzen. Das können sowohl organische als auch anorganische Substitute sein. Literatur und Film haben solche Szenarien schon früh unter dem Stichwort Cyborgisierung thematisiert. Primär geht es mir aber nicht um das Element der Kybernetisierung, nicht um elektronische Bauteile oder Nanosonden wie bei der Ver-Borg-erung3 in Star Trek Next Generation o.ä., sondern darum, ob und wie der spezifisch menschliche Erlebnisgehalt von Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlen, die innere Befindlichkeit also, sich bei zunehmender Entmenschlichung des Körpers verändern und wann die Gewissheit, Mensch zu sein, erodieren und dem Gefühl weichen könnte, es nicht mehr zu sein.
Wie ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe, verfügt jeder von uns über ein Körpermodell, das den eigenen biologischen Körper umfasst und auch Fremdkörper wie Werkzeuge, Sportgeräte oder künstliche Gliedmaßen integrieren kann. Selbst nicht vorhandene, nur vorgestellte Teile des Körpers oder imaginierte Körpererweiterungen können unter bestimmten Umständen vom Körpermodell als eigene integriert werden.4 So könnte es durchaus sein, dass, egal, was mit einem menschlichen Körper angestellt wird, welche Teile durch künstliche ersetzt und welche künstlichen Zusatzkomponenten hinzu gefügt werden, der Mensch sich immer noch als Mensch fühlen würde. Möglicherweise stellt sich die Frage nach dem Übergang von Mensch zu Nichtmensch gar nicht, so lange das Gehirn, das ja das Körpermodell konstruiert, nicht massiv angetastet wird. Und möglicherweise ist es gar nicht die eigene Befindlichkeit, die Selbstwahrnehmung, das Selbstmodell, was den Unterschied ausmacht.
Der oben erwähnte Prozess der Ver-Borg-erung im fiktiven Star-Trek-Universum (wo er Assimilation heißt) besteht m.E. weniger in der technischen Cyborgisierung der zu integrierenden Individuen, als darin, dass diese in eine neue Sozialstruktur aufgenommen werden. Dem geht zwar der technische Anpassungsprozess (Nanosonden, zusätzliche Bauteile etc.) voraus, doch bestimmend für das neue Selbstverständnis der assimilierten Subjekte wird ihre Sozialisation als Seven of Nine bzw. als Teil eines umfassenden Kollektivs, in dem sich soziale und mentale Interaktion gegenseitig bedingen.
Der Ausbruch aus dem Kollektiv kann nur gelingen, wenn das Kollektivmitglied einen Teil seiner Individualität bewahrt oder zurückgewinnt, und sei es auch nur den individuellen Namen, der ganz im Sinne von Thomas Nagel5 eine Bedingung für die Identifikation des subjektiven Ich mit dem objektiven Wesen ist, in dessen Körper dieses Ich steckt. So muss Captain Jean-Luc Picard notwendigerweise als Locutus6 und nicht als durchnummerierte Drohne assimiliert werden, weil ihm andernfalls die spätere Selbstbefreiung aus dem Kollektiv, dieser Akt der individuellen Desintegration, unmöglich gemacht würde.
Das Gegenteil von Assimilation ist Ausgrenzung. Die Erfahrung des Ausgegrenztseins macht Rachael in dem Moment, da sie den Voight-Kampff-Test „besteht“. Sie gehört nun nicht mehr zur menschlichen Spezies, obwohl sie wie ein natürlicher Mensch aussieht, (möglicherweise) aus menschlichem Material besteht und menschliche Erinnerungen hat. Indem er Rachael wider besseres Wissen als menschliche Person behandelt, versucht Deckard, sie wieder zurück zu holen, wenn auch nicht in die naturbelassene Menschheit so doch immerhin in eine minimale soziale Gemeinschaft - die 2-Personen-Urgemeinschaft des Garten Eden.
Und darin liegt wohl der Schlüssel: Ich bin und weiß, was ich bin, nur durch meine Sozialisation, durch meine Integration in einen gemeinschaftlichen Kontext, der, und sei er noch so klein, mir aber die Gewissheit gibt, dazu zu gehören, unabhängig davon, was ich selbst von mir halte. Entscheidend für die Selbstgewissheit und das Selbstempfinden einer Person ist das Wechselverhältnis von Individuation und Sozialisation. Das Ich spiegelt sich nicht nur, es manifestiert sich im Wir. Das Individuum ist Person nur insofern es sich einer menschlichen Gemeinschaft zugehörig weiß. Wird man als menschliches Individuum behandelt, fühlt man sich auch als solches. Wird man von der Gemeinschaft ausgegrenzt, kann alles Menschliche in einem absterben. Insofern besteht Hoffnung, dass, selbst wenn irgendwann eine signifikanter Teil der Menschheit aus größtenteils künstlichen „Bauteilen“, einschließlich neuronaler Implantate, bestehen sollte, und sage keiner, dass diese Vorstellung unsinnig sei, er doch zu uns gehören würde, vorausgesetzt wir würden ihn als Teil der Menschheit annehmen und nicht als Ansammlung von Fremdkörpern.
1 Verschiedentlich ist auf die phonetische Nähe der Namen Deckard und Descartes verwiesen worden.
4 Antonio R. Damasio, Descartes´ Irrtum. List 2004
5 Thomas Nagel. Der Blick von Nirgendwo. Suhrkamp 2012
6 Star Trek TNG: In den Händen der Borg, Angriffsziel Erde


PS (14.02.2013): Bis heute wusste ich nicht, dass der mit Carbon-Prothesen laufende Leichtathlet Oscar Pistorius auch "Blade Runner" genannt wird. Welche Ironie...



Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...