Mittwoch, 26. April 2017

Wohnen mit Adorno

Der wohl berühmteste und meistzitierte Satz des Philosophen Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“, findet sich am Ende von Reflexion Nr. 18 seiner „Minima Moralia“1 Unter der Überschrift „Asyl für Obdachlose“ geht es in Nr. 18 schlicht ums Wohnen. Adorno zufolge kann man nämlich überhaupt nicht mehr wohnen. Geschrieben wurde diese Reflexion, das darf nicht vergessen werden, im Jahre 1944. In dem Text, der, oberflächlich gelesen, die sozialen und materiellen Aspekte des Wohnens thematisiert, geht es dem Autor gleichwohl mehr um die tendenzielle Unbehaustheit des Intellektuellen in der Moderne, eine Erfahrung, die er besonders, wenn auch nicht nur, als Exilant jüdischer Abstammung mit vielen von Seinesgleichen teilte und die viele Jahre später u.a. vom Soziologen Zygmunt Baumann2 und zuletzt wohl auch von Giorgio Agamben3 mit seiner universellen Lagermetaphorik aufgenommen und analysiert wurde.
Zur Disposition steht bei Adorno allerdings auch das private Wohneigentum in dem Sinne, dass der Eigentümer als personifizierte Rechtsform sich wohl oder übel mit der herrschenden Wirtschaftsordnung und deren Verwertungsprozessen gemein machen muss. Im Kapitalismus wohnen heißt, entweder Mietzins oder Pacht oder Steuern zu zahlen. Demnach gibt es eigentlich kein freies Wohnen; alles ist falsch.
Subjektiv, auf sich selbst bezogen, kann man es freilich anders sehen. Für einen Angestellten im privatwirtschaftlich oder staatlich organisierten Arbeitskraft­verwertungsprozess kann das Wohneigentum schon ein stückweit Befreiung von den Zwängen eben jener Verwertungsprozesse bedeuten. Dass man statt dessen in andere Zwänge gerät, wie Zins und Tilgung für Kredite mit Laufzeiten von z.T. vielen Jahren zahlen zu müssen oder den Bürden des Eigentums als solchem ausgesetzt ist, wird des Gefühls wegen, etwas Unabhängigkeit gewonnen zu haben, gern in Kauf genommen.
Als ich vor einigen Jahren eine kleine Wohnung in (für mich) reizvoller Lage kaufte, fühlte ich jedenfalls genau so. Glücklicherweise war ich, dank positivem Investment, Erbschaft und preußisch-protestantischer Sparsamkeit in der Lage, für den Wohnungserwerb nur auf einen kleinen Minimalkredit der örtlichen Sparkasse zurück greifen zu müssen, der recht zügig getilgt ward. Damit blieb mir die Abhängigkeit vom Finanzverwertungsprozess weitgehend erspart. Die Wohnung liegt im Parterre, eingedenk der Option, dass ich mich dereinst im Rollstuhl hinein und hinaus bewegen können muss. Sie hat genug Raum für einen und zu wenig für zwei – auch das war und ist so gewollt. Mir hat sie Freiheit, Ruhe und Heim im besten Sinne des Wortes gebracht. Dort bin ich daheim und nirgendwo sonst.
Die Freiheit von einem Teil des Verwertungsprozesses wird freilich erkauft mit einer nachgerade archaischen Ortsgebundenheit. Insofern kann man die Bindung an diesen Ort auch ein stückweit als privaten Widerstand gegen die Zumutungen der allzeitigen und allörtlichen Verfügbarkeit des Flexiblen Menschen ansehen.
Womöglich hat sich seit der Niederschrift von Adornos Text die Form des Widerstandes schlicht gewandelt: Nicht die Unbehaustheit zeichnet nun den Widerständigen aus, sondern sein Beharren auf der Scholle, auf dem Ortsbezug seiner Existenz. Dann aber hätte Martin Heidegger, der Antisemit, mit seiner Apologie des Seins als Geworfensein Recht behalten.

1Theodor W. Adorno. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp 1951/2001
2Zygmunt Baumann. Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Fischer 1995

3Giorgio Agamben. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp 2002

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