Ich
habe mich geirrt. War zu optimistisch und, wenn man so will, auch
blauäugig. In einem früheren Blog
hatte ich angenommen, dass unsere Mutti ein politisches Programm
verfolgt, und sei es auch nur das minimalistische der Einhegung
der Finanzmärkte, wie ich es ihr dort unterstellt hatte.
Ich lag gänzlich falsch und
habe inzwischen begriffen, dass diese Frau schlicht kein Homo
politicus und auch kein zoon
politikon im aristotelischen Sinne ist. Sie interessiert sich
schlichtweg nicht für das Schicksal der menschlichen Gemeinschaft
Bundesrepublik Deutschland, der sie vorsteht. In allem, was sie sagt
und mehr noch tut, zeigt sie, dass sie nicht dieser Gemeinschaft
vorsteht, sondern nur ihrer Partei, der CDU. Und deshalb ist das
einzige von Frau Merkel verfolgte Programm das, Wahlen zu gewinnen
und damit die Partei und also vorerst auch sich selbst an der Macht
zu halten. Wozu die Macht gebraucht werden soll, ist ihr anscheinend
völlig gleichgültig. Während ihre Vorgänger Kohl und Schröder
mit dem Ziel ins Kanzleramt strebten, etwas um- und durchzusetzen, was
aus ihrer jeweiligen Sicht dazu beitragen könnte, Deutschland und auch
Europa irgendwohin zu bringen, ist Frau Merkel seinerzeit die Macht
einfach so zugefallen, und sie weiß seither nicht, was damit
sinnvoll anzufangen wäre, außer eben an der Macht zu bleiben. Weil
sie kein so politischer Mensch ist wie ihre beiden Amtsvorgänger, tut sie, wie viele Kommentatoren hinlänglich festgestellt
haben, in ihrem Amt eigentlich nichts, jedenfalls nichts, was ein
irgendwie geartetes strategisches politisches Denken erkennen
lassen würde. In der Terminologie des Philosophen John R.
Searle
könnte man sagen, ihre politische Welt-auf-Geist-Ausrichtung
tendiert gegen Null. Nur der Wahlerfolg zählt. Dass das bislang
innerhalb der CDU funktioniert, wird häufig damit begründet, dass
diese eh nur ein größerer Kanzler(innen)wahlverein wäre.
Recht anschaulich lässt
sich m.E. die merkelsche Konzeptionslosigkeit anhand des Umgangs
mit der 2008 hereingebrochenen Finanzkrise beobachten. Da war vor ein
paar Jahren vom „Fahren auf Sicht“ die Rede. Fahren auf Sicht ist
in der Politik in etwa so, als wenn ein Schachspieler stets nur den
eigenen nächsten Zug durchdenkt, ohne über die möglichen
Antwortzüge des Gegners und seine eigenen Reaktionen darauf usw.
usf. nachzudenken. Ein solcher Schachspieler würde kaum eine Partie
gewinnen können, nicht einmal gegen ein simples Schachprogramm.
Nicht nur die Komplexität der Materie, vor allem diese
offensichtliche Verweigerung strategischen Denkens haben dazu
geführt, dass auch sieben Jahre nach Ausbruch der Krise keine
grundsätzliche Lösung der Finanzmarktproblematik in Sicht ist.
Angesichts der andauernden
griechischen Schuldenkrise kann man auf manche politische
Beobachter verweisen, die meinen, dass Frau Merkel gegen Herrn
Tsipras von Anfang an keine Chance gehabt habe, weil sie anders als
dieser ohne strategisches Konzept agiere, bedacht ausschließlich
darauf, den möglichen finanziellen Schaden „auf Sicht“
einzudämmen, während die Syriza-Regierung seit ihrem Wahlsieg das
Ziel verfolgt habe, in der EU eine grundsätzlich andere
Gemeinschaftspolitik zu etablieren. Sollten sie und ihr eigentlich
zum Zweck der akuten Schadensbegrenzung umgehend abzuberufener
Finanzminister also mit ihrer politischen Nichtstrategie
scheitern, dann läge das nicht unerheblich daran, dass es
beiden an politischem Weitblick fehlt. Syriza wie die großen
Finanzmarktakteure zeichnen sich eben gleichermaßen dadurch
aus, dass sie recht genaue Vorstellungen davon haben, wie eine
ihnen genehme Welt aussehen sollte, wohingegen unsere Staatslenker
offenbar nur das wahrnehmen, was ist, und lediglich etwas dafür zu tun bereit sind, dass es so bleibt. Ein klarer Fall von Komplexitätsreduktion
durch Verweigerung.
Dabei sollte jedem
vernünftigen Menschen einsichtig sein, dass sich die
Ungleichgewichte in der Euro-Zone nur in einer Fiskal- und
Sozialunion ausgleichen lassen. Eine gemeinsame Währung kann
auf Dauer nur funktionieren, wenn es gleiche Besteuerungsregeln und
gleiche Sozialstandards gibt. Andernfalls werden die initialen
Ungleichgewichte anwachsen, und das ist es ja, was wir seit
geraumer Zeit beobachten und i.Ü. auch ohne Banken- und
Schuldenkrise beobachten würden, denn das Kapital, das „scheue
Reh“ (Marx) sucht sich bekanntermaßen die Standorte mit den
geringsten Sozialstandards und dem laxesten Steuersystem. Aber
nicht nur die Finanzmarktakteure, Share Holder und deren politische
Interessenvertreter, wie bspw. die AfD der Lucke-Ära, sind
vehement gegen eine solche Politik der aktiven Angleichung, auch Teile der europäischen
Bevölkerung, weit vorn dabei die Deutschen, verteidigen lieber ihre nationalen Wohlstandsinseln gegen die „Faulenzer“ des Südens.
Das alles ist höchst
ärgerlich und, wie ich finde, frustrierend. Wirklich gefährlich ist
es fürs Erste nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man wie ich die
finanziellen Folgen als nicht erheblich ansieht. Wirklich gefährlich
für uns alle kann es werden, wenn die konstatierte Strategie- und
damit Politikverweigerung, wenn das „Fahren auf Sicht“ zum
Dauerzustand des deutschen und europäischen Politikbetriebs und wenn
mithin der EU-Krisenreaktionsmodus gepaart mit Antiterrorkampf,
Bewältigung der Migrations- resp. Flüchtlingsproblematik sowie
verstärkt auch dem Cyber War zum Standardmodus, zum Normalfall
des Politikbetriebs werden sollten, und diese Gefahr besteht m.E.
akut. Michel
Foucault, Ulrich
Beck, Giorgio
Agamben u.a. haben vor Jahren schon auf die Gefahren einer
Politik des permanenten Notstands aufmerksam gemacht, die im
angeblichen Interesse des Schutzes der Bürger vor allerlei Ungemach
diese von der demokratischen Teilhabe suspendiert.
Postdemokratie wird dies inzwischen genannt und erinnert mich fatal
an Leo Trotzkis
Theorie
der permanenten Revolution, die nach Abfertigung Trotzkis und
seiner Anhänger durch Stalin von diesem in die politische Praxis
eines permanenten Kampf- und Ausnahmezustands umgesetzt wurde,
wobei i.Ü. die Devise Stalins: „Wenn die Theorie nicht mit den
Fakten übereinstimmt, muss man die Fakten ändern.“, eine
merkwürdige Ähnlichkeit zum aktuellen Beharren des deutschen
Finanzministers auf Einhaltung irgendwelcher willkürlich
gesetzter eurozonaler Regeln aufweist.
Die Ergebnisse der
praktizierten permanenten Revolution sind hinlänglich bekannt.
Die Folgen einer Politik im andauernden Krisenbewältigungs- und
Gefahrenabwehrmodus sind aber ebenfalls bereits zu erkennen. Es
entsteht eine gesellschaftliches Klima des Gefühls der permanenten
Gefährdung durch irgendetwas. Volksvertreter werden zwar regelmäßig
und demokratisch gewählt, unter den Bedingungen der andauernden
Krisenbewältigung und Gefahrenabwehr nicken sie in ihrer
Mehrheit jedoch nur die als alternativlos deklarierten Entscheidungen
der Exekutive ab mit der Begründung, nur so könne den akuten
Bedrohungen (Terror, Euro, Migration, Demografie, Klimawandel usw.
usf.) wirksam begegnet werden. Je weniger strategische
Vorstellungen in der Politik - und eben nicht in Think Tanks oder
NGO´s oder Lobby-Organisationen - davon entwickelt werden, wie eine
lebenswerte Welt mittel- bis langfristig aussehen sollte, desto mehr
dieser echten oder angeblichen akuten Bedrohungen werden sich
vor uns auftürmen und mit TINA-Entscheidungen beantwortet werden.
Die wirkliche Gefahr besteht in der Herrschaft derjenigen, die nach
Max Weber nicht für die Politik sondern lediglich von
der Politik leben, der ideenlosen Machtverwalter und
Kanzler(innen)wahlvereine.
Hier aber beginnt die Verantwortung des
Bürgers, des citoyens. Der, und das heißt irgendwie wir alle, hat
in den vergangenen Jahrzehnten durch sein Wahlverhalten einer
Politikerkaste zur Macht verholfen, die sich im Tun und Lassen
möglichst wenig von ihm selbst unterscheiden sollte. Das, was wir
bei dieser gegenwärtig als strategische Konzeptions- und
programmatische Ideenlosigkeit erleben, ist schlichtweg das Resultat
unserer eigenen Angststarre angesichts der als bedrohlich empfundenen
Veränderungsnotwendigkeiten. Wir alle sind Merkel.