Dienstag, 14. Juli 2015

Hellas! zum Zweiten

Es zeugt gewiss von einer gewissen Eitelkeit, wenn ich heute darauf verweise, bereits vor dreieinhalb Jahren das mit der aktuellen Einigung zwischen Griechenland, EU und IWF implementierte Szenario der forcierten Enteignung des Schuldners durch seine Gläubiger prognostiziert zu haben. Damals schrieb ich:
Geld wird es nur gegen Sicherheiten geben, sprich Anteile am Steueraufkommen oder mobilen und immobilen Sachwerten. Das ist der andere „Hebel“ des EFSF: Die Geberländer wie Deutschland, Frankreich, Österreich oder Finnland sitzen am längeren Ende des Hebels, mit dem sie für ihre Unternehmen die Bedingungen diktieren können, unter denen diese in Griechenlands Wirtschaft investieren werden. Die EU-Kontrolleure werden permanent in Athen und Umgebung präsent sein und sich gewiss darum kümmern, die Bedingungen günstig zu gestalten (siehe Treuhand). Da man Griechenland nicht in staatliche Abhängigkeit bringen kann und auch nicht will (Wie sähe denn das aus: EU-Protektorat Hellas?), bleibt nur wirtschaftliche Abhängigkeit, die auf lange Sicht eine Refinanzierung der jetzt getätigten Investition verspricht.
Und genau dies wird nun wohl eintreten in Gestalt des schäubleschen Treuhandfonds mit dem kleinen, aber für die Griechen gewaltigen Unterschied, dass es das „EU-Protektorat“ offenbar doch geben soll. Der neueste Vorschlag von Frankreichs Präsident Hollande (Sozialdemokrat!) zur Installation einer europäischen Wirtschaftsregierung läuft genau darauf hinaus. Denn was wäre eine Wirtschaftsregierung anderes als das faktische Diktat der wirtschaftlich Stärkeren über die Schwächeren? Die kleinen Länder der EU sollten sich gehörig davor fürchten. Das Exempel, das gerade an Griechenland statuiert wird, wäre dann nämlich die Blaupause für den Umgang mit ihnen, sollten sie nicht spuren. Aber auch wir sollten aufmerksam sein, wenn das, was gerade auswärts exekutiert wird, irgendwann uns selbst erreicht, weil es für BDA, BDI und wie sie alle heißen ach so wichtig ist, die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China, Indien, Brasilien etc. zu erhalten.
Eitelkeit hin oder her, es gibt aus meiner Sicht nichts, worüber man sich gegenwärtig freuen sollte.

Sonntag, 12. Juli 2015

Und noch einmal zu Merkel

Ich habe mich geirrt. War zu optimistisch und, wenn man so will, auch blauäugig. In einem früheren Blog hatte ich angenommen, dass unsere Mutti ein politisches Programm ver­folgt, und sei es auch nur das minimalistische der Einhegung der Finanzmärkte, wie ich es ihr dort unterstellt hatte.
Ich lag gänzlich falsch und habe inzwischen begriffen, dass diese Frau schlicht kein Homo politicus und auch kein zoon politikon im aristotelischen Sinne ist. Sie interessiert sich schlichtweg nicht für das Schicksal der menschlichen Gemeinschaft Bundesrepublik Deutschland, der sie vorsteht. In allem, was sie sagt und mehr noch tut, zeigt sie, dass sie nicht dieser Gemeinschaft vorsteht, sondern nur ihrer Partei, der CDU. Und deshalb ist das einzige von Frau Merkel verfolgte Programm das, Wahlen zu gewinnen und damit die Partei und also vorerst auch sich selbst an der Macht zu halten. Wozu die Macht gebraucht werden soll, ist ihr anscheinend völlig gleichgültig. Während ihre Vorgänger Kohl und Schröder mit dem Ziel ins Kanzleramt strebten, etwas um- und durchzusetzen, was aus ih­rer jeweiligen Sicht dazu beitragen könnte, Deutschland und auch Europa irgendwohin zu bringen, ist Frau Merkel seinerzeit die Macht einfach so zugefallen, und sie weiß seither nicht, was damit sinnvoll anzufangen wäre, außer eben an der Macht zu bleiben. Weil sie kein so politischer Mensch ist wie ihre beiden Amtsvorgänger, tut sie, wie viele Kommentatoren hinlänglich festgestellt haben, in ihrem Amt eigentlich nichts, jedenfalls nichts, was ein ir­gendwie geartetes strategisches politisches Denken erkennen lassen würde. In der Termi­nologie des Philosophen John R. Searle1 könnte man sagen, ihre politische Welt-auf-Geist-Ausrichtung tendiert gegen Null. Nur der Wahlerfolg zählt. Dass das bislang innerhalb der CDU funktioniert, wird häufig damit begründet, dass diese eh nur ein größerer Kanzler(in­nen)wahlverein wäre.
Recht anschaulich lässt sich m.E. die merkelsche Konzeptionslosigkeit anhand des Um­gangs mit der 2008 hereingebrochenen Finanzkrise beobachten. Da war vor ein paar Jahren vom „Fahren auf Sicht“ die Rede. Fahren auf Sicht ist in der Politik in etwa so, als wenn ein Schachspieler stets nur den eigenen nächsten Zug durchdenkt, ohne über die möglichen Antwortzüge des Gegners und seine eigenen Reaktionen darauf usw. usf. nachzudenken. Ein solcher Schachspieler würde kaum eine Partie gewinnen können, nicht einmal gegen ein simples Schachprogramm. Nicht nur die Komplexität der Materie, vor allem diese offensichtliche Verweigerung strategischen Denkens haben dazu geführt, dass auch sieben Jahre nach Ausbruch der Krise keine grundsätzliche Lösung der Finanzmarktproblematik in Sicht ist.
Angesichts der andauernden griechischen Schuldenkrise kann man auf manche politische Beobachter verweisen, die meinen, dass Frau Merkel gegen Herrn Tsipras von Anfang an keine Chance gehabt habe, weil sie anders als dieser ohne strategisches Konzept agiere, bedacht ausschließlich darauf, den möglichen finanziellen Schaden „auf Sicht“ einzudämmen, während die Syriza-Regierung seit ihrem Wahlsieg das Ziel verfolgt habe, in der EU eine grundsätzlich andere Gemeinschaftspolitik zu etablieren. Sollten sie und ihr eigentlich zum Zweck der akuten Schadensbegrenzung umgehend abzuberufener Finanz­minister also mit ihrer politischen Nichtstrategie scheitern, dann läge das nicht unerheb­lich daran, dass es beiden an politischem Weitblick fehlt. Syriza wie die großen Finanz­marktakteure zeichnen sich eben gleichermaßen dadurch aus, dass sie recht genaue Vor­stellungen davon haben, wie eine ihnen genehme Welt aussehen sollte, wohingegen unsere Staatslenker offenbar nur das wahrnehmen, was ist, und lediglich etwas dafür zu tun bereit sind, dass es so bleibt. Ein klarer Fall von Komplexitätsreduktion durch Verweigerung.
Dabei sollte jedem vernünftigen Menschen einsichtig sein, dass sich die Ungleichgewichte in der Euro-Zone nur in einer Fiskal- und Sozialunion ausgleichen lassen. Eine gemeinsa­me Währung kann auf Dauer nur funktionieren, wenn es gleiche Besteuerungsregeln und gleiche Sozialstandards gibt. Andernfalls werden die initialen Ungleichgewichte anwach­sen, und das ist es ja, was wir seit geraumer Zeit beobachten und i.Ü. auch ohne Banken- und Schuldenkrise beobachten würden, denn das Kapital, das „scheue Reh“ (Marx) sucht sich be­kanntermaßen die Standorte mit den geringsten Sozialstandards und dem laxesten Steu­ersystem. Aber nicht nur die Finanzmarktakteure, Share Holder und deren politische In­teressenvertreter, wie bspw. die AfD der Lucke-Ära, sind vehement gegen eine solche Politik der aktiven Angleichung, auch Teile der europäischen Bevölkerung, weit vorn dabei die Deutschen, vertei­digen lieber ihre nationalen Wohlstandsinseln gegen die „Faulenzer“ des Südens.
Das alles ist höchst ärgerlich und, wie ich finde, frustrierend. Wirklich gefährlich ist es fürs Erste nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man wie ich die finanziellen Folgen als nicht erheblich ansieht. Wirklich gefährlich für uns alle kann es werden, wenn die konstatierte Strategie- und da­mit Politikverweigerung, wenn das „Fahren auf Sicht“ zum Dauerzustand des deutschen und europäischen Politikbetriebs und wenn mithin der EU-Krisenreaktions­modus gepaart mit Antiterrorkampf, Bewältigung der Migrations- resp. Flüchtlingsproblematik sowie verstärkt auch dem Cyber War zum Standardmodus, zum Nor­malfall des Politikbetriebs werden sollten, und diese Gefahr besteht m.E. akut. Michel Fou­cault, Ulrich Beck, Giorgio Agamben u.a. haben vor Jahren schon auf die Gefahren einer Politik des permanenten Notstands aufmerksam gemacht, die im angeblichen Interesse des Schutzes der Bürger vor allerlei Ungemach diese von der demokratischen Teilhabe sus­pendiert. Postdemokratie wird dies inzwischen genannt und erinnert mich fatal an Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die nach Abfertigung Trotzkis und seiner Anhänger durch Stalin von diesem in die politische Praxis eines permanenten Kampf- und Ausnahme­zustands umgesetzt wurde, wobei i.Ü. die Devise Stalins: „Wenn die Theorie nicht mit den Fakten übereinstimmt, muss man die Fakten ändern.“, eine merkwürdige Ähnlichkeit zum aktuellen Beharren des deutschen Finanzministers auf Einhaltung irgendwelcher willkürli­ch gesetzter eurozonaler Regeln aufweist.
Die Ergebnisse der praktizierten permanenten Revoluti­on sind hinlänglich bekannt. Die Folgen einer Politik im andauernden Krisenbewältigungs- und Gefahrenabwehrmodus sind aber ebenfalls bereits zu erkennen. Es entsteht eine gesellschaftliches Klima des Gefühls der per­manenten Gefährdung durch irgendetwas. Volksvertreter werden zwar regelmäßig und de­mokratisch gewählt, unter den Bedingungen der andauernden Krisenbewältigung und Ge­fahrenabwehr nicken sie in ihrer Mehrheit jedoch nur die als alternativlos deklarierten Entscheidungen der Exekutive ab mit der Begründung, nur so könne den akuten Bedrohungen (Terror, Euro, Migration, Demografie, Klimawandel usw. usf.) wirksam begegnet werden. Je weni­ger strategische Vorstellungen in der Politik - und eben nicht in Think Tanks oder NGO´s oder Lobby-Organisationen - davon entwickelt werden, wie eine lebenswerte Welt mittel- bis langfristig aussehen sollte, desto mehr dieser echten oder angeblichen akuten Bedrohun­gen werden sich vor uns auftürmen und mit TINA-Entscheidungen beantwortet werden. Die wirkliche Gefahr besteht in der Herrschaft derjenigen, die nach Max Weber nicht für die Politik sondern lediglich von der Politik leben, der ideenlosen Machtverwalter und Kanzler(innen)wahlvereine. 
Hier aber beginnt die Verantwortung des Bürgers, des citoyens. Der, und das heißt irgendwie wir alle, hat in den vergangenen Jahrzehnten durch sein Wahlverhalten einer Politikerkaste zur Macht verholfen, die sich im Tun und Lassen möglichst wenig von ihm selbst unterscheiden sollte. Das, was wir bei dieser gegenwärtig als strategische Konzeptions- und programmatische Ideenlosigkeit erleben, ist schlichtweg das Resultat unserer eigenen Angststarre angesichts der als bedrohlich empfundenen Veränderungsnotwendigkeiten. Wir alle sind Merkel.

1John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. Suhrkamp 2004

Freitag, 10. Juli 2015

Ein schönes Wort

Verschiedene Sprachen klingen bekanntlich verschieden. Hier, im sonnigen Südwesten Frankreichs ist mir das gerade wieder ganz besonders aufgefallen, wenn ich nämlich beim Durchradeln des Dept. Pyrenées-Orientales, der Gegend um die Stadt Perpignan also, die Ortsschilder mit Angabe der zugehörigen Partnergemeinden gelesen habe.
Der Ort mit dem wohlklingenden Namen Bages bspw. hat das Pech, das deutsche Nieder­stotzingen zur Partnergemeinde zu haben. Noch ärger hat es das Wein- und Winzerdorf Tautavel getroffen, dessen deutsche Partnergemeinde Mauer heißt. Ich wusste bis dato nicht, dass es einen Ort solchen Namens überhaupt gibt. Und die Mauer ward doch 1989/90 abgerissen, denkt man. Die Gemeinde mit dem wirklich wenig ästhetischen Na­men Mauer liegt allerdings nahe Heidelberg. Gerade am Wort Mauer zeigt sich, dass nicht nur der Klang die Ästhetik eines Wortes bestimmt, sondern auch seine Bedeutung.
Die englische Band Elbow habe sich, so wird behauptet, so benannt, weil Elbow (Ellenbo­gen) das englische Wort mit dem sinnlichsten Klang sei. Nun klingt Ellenbogen im Deut­schen auch nicht unangenehm, doch eignet dem Wort eine weitere, über die rein anatomi­sche hinausgehende Bedeutung, wie am wenig schönen Begriff Ellenbogengesellschaft deutlich wird. Ich glaube nicht, dass es diese Wortkombination im Englischen gibt - elbow society - jedenfalls nicht in der deutschen Bedeutung. Das sieht doch sehr nach english for runaways aus.
Fragte man mich nach dem schönsten, sinnlichsten, wohlklingendsten Wort der deutschen Sprache, so würde ich Feierabend nennen. Feierabend hat einen sehr angenehmen Klang und dazu noch eine höchst angenehme Bedeutung. Auch scheint es in dieser Bedeutung einzigartig zu sein. Schwer vorstellbar, dass im Englischen die Zeit nach Arbeitsschluss ce­lebration evening genannt wird oder im Französischen soirée de fête oder im Spanischen noche del la fiesta. Für die arbeitsbesessenen Deutschen aber kommt nach der täglichen Arbeit das abendliche Feiern. Mit dieser Wortbildung, so scheint es, zeigen wir uns einmal mehr konsequenter und radikaler als unsere europäisch-kulturgemeinschaftlichen Mitbür­ger altgermanischer Stammesherkunft. Dass am Abend nach getaner (Lohn-) Arbeit noch Zeit für anderes bleibt, ist dem Deutschen ein Grund zum Feiern. Und das wiederum heißt für ihn, sich in der dem Werktor nächstgelegenen Kneipe im Kreise gleich ausgebeuteter Lohnsklaven zu besaufen oder wenigstens in Stimmung zu trinken.
Als ich Anfang der 1980er Jahre ein paar Wochen als Hilfskraft auf dem hiesigen Schlacht­hof arbeitete, begann der Feierabend meist schon zwischen 14 und 15 Uhr. Dann war i.d.R. das Tagespensum zu tötender, zu reinigender und zu zerlegender Schweine bewältigt und nach obligatorischer Schichtschlusshygiene ging es in die besagte Kneipe vor dem Werktor, die natürlich den Namen „Zum Schlachthof“ trug. Dort verschaffte man sich mit Bier und Korn die nötige Stimmung, um am eigentlichen Abend das häusliche Elend mit Frau und Kindern zu ertragen oder zuvor noch im Schrebergarten oder im Hobbykeller seinen von der entfremdeten Lohnarbeit noch nicht gestillten Beschäftigungstrieb auszuleben und sich erst danach dem besagten Elend auszusetzen. So bedeutet denn Feierabend, dieses wohl­klingende, sinnliche Wort, die versoffene und vertrödelte Zeit zwischen zwei Pflichtübun­gen – dem Broterwerb und der Arterhaltung. Der werktätige Mann erkauft sich seinen Feierabend damit, beiden Pflichtübungen hinreichend nachzukommen.
Ich glaube, dass dies auch in den anderen Sprachkulturen so war und z.T. noch so ist; dar­auf deutet u.a. das Verhalten amerikanischer und britischer Polizisten in diversen Spielfil­men und Fernsehserien hin, nur gibt es dort dafür kein so schönes Wort wie im Deutschen. Feierabend scheint eines dieser einzigartigen, unübertragbaren deutschen Wörter zu sein, wie sie als Lehnwörter so manches Mal überraschenderweise in einer Fremdsprache auftauchen: Blitzkrieg, Führerprinzip, Leitmotif, Wanderlust im Englischen etwa, oder Absatz, Rucksack, Durchschlag, Wunderkind im Russischen.
Wie lange es wohl den Feierabend in dieser Bedeutung noch geben wird? Als leere Floskel vom „Schönen Feierabend“ ist er noch präsent. In der traditionellen Bedeutung ist er wohl am Aussterben, auch und gerade weil die Klasse der Industriearbeiter am Verschwinden ist. Die unsägliche Rede von der work-life-balance – als würde man bei der Arbeit nicht le­ben – beweist gleichsam, dass der postmoderne selbstausbeutende Arbeitnehmer, der Fle­xible Mensch1 des neuen Kapitalismus den Feierabend in dieser Bedeutung nicht mehr er­lebt bzw. erleben soll. Er kennt nur noch die eine Pflichtübung der Arbeit, die möglichst sein ganzes Leben in Beschlag nehmen soll. Insofern wäre die Zurückeroberung des tradi­tionellen Feierabends, wozu es in Gestalt der After-Work-Parties ja bereits Versuche gab, möglicherweise ein Akt der individuellen Emanzipation vom Druck der Durchökonomisie­rung aller Lebensbereiche und der Wiedergewinnung von etwas Heiligem im profanen All­tag. Traun wir uns doch einfach.

1Richard Sennet. Der flexible Mensch. btb 2000

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...