Freitag, 6. August 2021

Die kommende Gemeinschaft. Teil 2

Drei weiße Flecken marxistischer Theorie


Ich weiß nichts von der kommenden Welt,
ein Schleier verwehrt mir die Blicke.
Ich wuchs, eine Blume im zerschossenen Feld,
mein Frühling geriet unter bleischwere Tritte.
Stirbt die Erde oder muß sie qualvoll gebären?
Ich fiel, ein glühender Stein.
Und ich bin glücklich: welch ein Bewähren,
welch Auserwähltsein.

Ilja Ehrenburg 


In seinen frühen, der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel, Feuerbach und den Junghegelianern gewidmeten Texten hatte Marx im Verein mit Engels damit begonnen, eine Art des Philosophierens jenseits aller traditionellen Denksysteme zu entwickeln, deren Kern eine radikale Ausrichtung an der menschlichen Tätigkeit als immer schon gesellschaftlicher Praxis ausmacht. Seinen prägnantesten Ausdruck findet dieser Ansatz in den berühmten „Thesen über Feuerbach“, deren achte lautet:

Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.

Die deutsche Ideologie“ von 1845/46 entwickelte das materialistische, praxisphilosophische Konzept fort, blieb aber bekanntlich Fragment und wurde, wie auch die „Thesen“, erst posthum veröffentlicht. Zu einer weiteren expliziten Ausgestaltung kam es anschließend nicht mehr. Marx widmete sich vornehmlich der politischen Ökonomie, Engels hingegen später der Naturphilosophie. So blieben diese „Gründungsdokumente“ des historischen Materialismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ohne nennenswerten Einfluss auf die marxistische Theoriebildung, und als sie schließlich u. a. von der Kritischen Theorie für einen Gegenentwurf zum historischen Materialismus leninistischer resp. stalinistischer Prägung in Anspruch genommen wurden, führte dies zu teils erbitterten publizistischen Auseinandersetzungen, dokumentiert u. a. in der Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie“, die zwischen 1971 und 1984 im Akademie Verlag Berlin erschien.

Es ist, wie ich glaube, ein müßiges Unterfangen, Vermutungen darüber anzustellen, wie sich marxistische Theorie nach Marx entwickelt hätte, wären die Texte bekannt gewesen, zumal der faktische Theoriestillstand zwischen 1917 und 1960 (ausgenommen Gramsci und Lukács) ja eine eminent politische Ursache hatte. Dass also marxistische Philosophie und Gesellschaftstheorie klassischer, d. h. sowjetideologischer Provenienz drei große weiße Flecken aufweist, nämlich das Individuum, die Ethik und die Demokratie, kann eben nicht mit Unkenntnis dieser Texte begründet werden.

Marx´ frühe Schriften verfolgten nicht das Ziel, im Anschluss an Hegel und Feuerbach eine neue, systematische Philosophie zu entwickeln, vielmehr sind sie als Kritik und Therapie einer vom realen Menschen in seinen realen Verhältnissen entfremdeten Theoriebildung zu verstehen und bedeuten, wie verschiedentlich festgestellt, eine Abkehr von der Philosophie. Gerald Hubmann, Mitherausgeber der MEGA, drückt dies gegenüber dem Deutschlandfunk folgendermaßen aus:

Bezogen auf die deutsche Ideologie kann man sagen, Marx und Engels üben Kritik an der Philosophie und sie verlassen die Philosophie – das ist die Aussage der Deutschen Ideologie! Sie verlassen die Philosophie zugunsten einerseits in Richtung – wie sie immer wieder sagen – empirischer positiver Wissenschaft, und andererseits in Richtung Politik.

Gänzlich ohne Philosophie kommt der historische Materialismus dann aber doch nicht aus. Das stellte sich bereits zu Lebzeiten der beiden Gründerväter heraus, denn zum einen sah er sich natürlich dort, wo er nicht schlichtweg ignoriert wurde, den Anfechtungen der Vertreter der traditionellen, bürgerlichen Ideologie ausgesetzt, zum anderen mussten auch Miss- und Unverständnisse in den eigenen Reihen ausgeräumt werden. Marx schrieb 1847 „Das Elend der Philosophie“, Engels 1877 den „Anti-Dühring“. Von einer systematischen Entwicklung einer marxschen oder engelsschen Philosophie kann hingegen keine Rede sein. So blieb es den i. d. R. minderbegabten Nachfolgern überlassen, den Rohbau zu vervollständigen, und das hieß zunächst einmal, ein brauchbares Fundament unter ihn zu legen, das man in Hegels Logik gefunden zu haben glaubte. Die oben benannten weißen Flecken marxistischer Theorie jedoch blieben.

Demokratie

Im Zuge der russischen Revolution 1917 erklärten die Bolschewiki die selbst noch junge repräsentative bürgerliche Demokratie zu ihrem politischen Gegner. Kurz zuvor beschrieb Lenin in „Staat und Revolution“ die anzustrebende Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats als Räteordnung, die einige Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkrieges, mit der Gründung der Sowjetunion und ihrer Sowjetrepubliken Realität wurde. Auch wenn nach dem Zweiten Weltkrieg andernorts im sowjetischen Herrschaftsbereich nominell sozialistische oder Volksdemokratien errichtet wurden, galten diese in der Theorie doch nur als Übergangsformen, und unter dem Deckmantel parlamentarischer Repräsentation de jure wirkte das Prinzip des demokratischen Zentralismus, was de facto nichts anderes bedeutete als Herrschaft der Partei auf allen Ebenen. Bis in die Zeit der Perestroika galt dies als unumstößliches Dogma.

Der Sozialphilosoph Axel Honneth hat darauf hingewiesen, dass die Vernach­lässigung der Demokratiefrage ihre Wurzeln bereits bei den Frühsozialisten hat.

Welche Gründungsdokumente der sozialistischen Bewegung auch herangezogen werden, überall stößt man auf dieselbe Tendenz, zugleich mit den liberalen Freiheitsrechten auch der auf ihnen gegründeten Willensbildung unter freien und gleichen Staatsbürgern keine Rolle mehr beim organisatorischen Aufbau der zukünftigen Gesellschaft beizumessen; diese neue Organisationsform des Sozialen sollte vielmehr dadurch charakterisiert sein, daß die Subjekte einzig und allein durch ihre Mitwirkung an der kooperativen Produktion in die Gesellschaft einbezogen werden, wodurch sie zwar gemeinsam ihre soziale Freiheit verwirklichen können, aber nicht mehr um ihre individuelle Selbstbestimmung bekümmert sein müssen. Die Folge des damit umrissenen Zukunftsentwurfs war die Unfähigkeit, aus der eigenen Doktrin heraus noch einen normativen Zugang zur politischen Sphäre zu finden.1

Diese langanhaltende Unfähigkeit bestätigt 1973 ein Text aus der erwähnten Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“, in dem apologetisch der bürgerlichen die sozialistische Demokratie als neuer Typ der Demokratie gegenüber gestellt wird und deren Zustandekommen rein ökonomisch mit dem Wegfall der privatkapitalistischen Ausbeutung erklärt wird. Wörtlich heißt es dort:

Die sozialistische Revolution vernichtet folglich nicht die Demokratie, sondern erweitert sie, indem sie sie mit neuem sozialen Inhalt erfüllt und sie allseitig als neuen Typ der Demokratie entwickelt. Der Aufbau des Sozialismus bringt den Werktätigen nach Lenin doppelte Befreiung. Erstens werden sie von der Klassenunterdrückung, von der klassenmäßigen Ungleichheit und von der Ausbeutung befreit, die die bürgerliche Demokratie begleiten… Daher werden die Werktätigen zweitens von der Anarchie der Produktion, von der ruhelosen Konkurrenz, den Krisen, der Arbeitslosigkeit befreit, die mit der bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsordnung untrennbar verbunden sind. Diese ökonomischen und sozialen Veränderungen in der sozialistischen Gesellschaft führen zur Befreiung kolossaler politischer Kräfte.2

Nach dieser Doktrin determiniert die veränderte ökonomische Basis notwendigerweise den politischen Überbau – ökonomische Freiheit schafft politische Freiheit. Das ist schlicht der gleiche mechanistische Unsinn, der auch in der ökonomischen Theorie des Sozialismus geltend gemacht wurde, indem man postulierte, veränderte Eigentumsverhältnisse führten per se zu einer anderen Art des Wirtschaftens. Der institutionalisierte, der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus verfügte über keinerlei politische Theorie und somit auch über keinerlei Theorie einer sozialistischen Demokratie.

Ethik

Nicht anders steht es um die sozialistische Ethik: Es gibt sie nicht. Bezeichnend ist, dass ein erstes Hochschullehrbuch der Ethik erst 1985, also wenige Jahre vor dem Ableben der DDR erschien. In diesem wird bemerkenswerterweise auf eine, auch vom ideologischen Gegner gern ins Feld geführte Aussage Lenins Bezug genommen, wonach dieser Werner Sombarts Behauptung als richtig anerkannte, „daß es ‚im ganzen Marxismus von vorn bis hinten auch nicht ein Gran Ethik“ gäbe: in theoretischer Beziehung ordne dieser den „ethischen Standpunkt“ dem „Prinzip der Kausalität“ unter; in praktischer Beziehung laufe er bei ihm auf den Klassenkampf hinaus.3

Die Gründe für das Fehlen einer Ethik im eigentlichen Sinne, für den Verlust gewisser moralischer Grundsätze überhaupt, lassen sich wiederum im Früh­sozialismus und bei Marx selbst ausmachen. Sowohl die Frühsozialisten als auch Marx waren ursprünglich von zutiefst humanistischen Motiven geleitet. So schreibt er in der Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“:

Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Mensch sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Und in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 heißt es nicht ohne Pathos:

Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus Humanismus, als vollendeter Humanismus Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.

Diesen, von einer humanistischen Moral getriebenen, auf die volle Entfaltung der individuellen menschlichen Persönlichkeit abzielenden Impetus wird Marx jedoch nicht aufrechterhalten. Wohl unter dem Einfluss seiner eigenen kühlen Analyse des Kapitalismus kommt er in dem erst 1893 von Engels fertiggestellten und edierten dritten Band des „Kapitals“ zu einer anderen Erzählung.

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion… Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen... Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.

Solange der Mensch in die materielle Produktion eingebunden ist, bleibt er notwendigerweise unfrei. Die Gemeinschaft der assoziierten Produzenten wird gebildet von unfreien, vergesellschafteten Individuen, die sich der Notwendigkeit des Klassenkampfes so lange unterwerfen, bis in einer fernen Zukunft am Horizont das wahre Reich der Freiheit aufscheint. Im institutionalisierten Sozialismus wurde dies als Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit zum historisch-materialistischen Gesetz erklärt und den Kindern möglichst frühzeitig eingebläut. Im besagten Hochschullehrbuch der Ethik liest man dazu:

In den moralischen Prinzipien ist auf besondere Weise das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit in der Moral erfaßt. Sie zu befolgen, verlangt von den tätigen Subjekten, das bewußte, der Entscheidung und Tat vorausgehende Aussondern subjektiv nicht annehmbarer Motive an allgemeinsten objektiven Maßstäben zu orientieren und zu optimieren.4

Die herrschende Moral ist stets die Moral der Herrschenden. In der realsozialistischen Lesart war es die Moral der Arbeiterklasse und ihrer Partei. Und diese Moral folgte bezeichnenderweise einem, dem Utilitarismus nicht unähnlichen Nützlichkeitsprinzip: Gut ist, was der Klasse nützt. Alles andere ist Ausdruck eines zu überwindenden kleinbürgerlichen Individualismus. Nicht das größtmögliche Glück für möglichst viele Menschen ist Ziel und Zweck moralischen Handelns, sondern ausschließlich das Interesse der Arbeiterklasse. Der kategorische Imperativ hingegen wurde mindestens innerhalb der Partei abgelehnt: Auch wenn der fehlgegangene Genosse mit seinem Tun nur die besten Absichten im genannten quasi-utilitaristischen Sinn hegte, war er doch zu verurteilen, hatte sich selbst zu kritisieren, wurde degradiert oder, wie in den berüchtigten stalinistischen Schau­prozessen der 1930er Jahren, gar juristisch belangt bis hin zur Todesstrafe, wenn sein Handeln, nach Ansicht der Parteioberen, objektiv den Interessen des Klassenfeindes genützt hatte.

In der Erziehung der Kinder und Jugendlichen wurde eine Art Tugendethik verfolgt. Die entsprechenden moralischen Prinzipien sind im Wesentlichen normative, wie Humanität, gewissenhafte Arbeit, Kollektivität und Solidarität sowie sozialistischer Patriotismus und proletarischer Internationalismus. Klassische Werte, wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Glück werden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Für das alltägliche Handeln der Menschen waren die genannten Prinzipien praktisch bedeutungslos. Hier zeigte sich vielmehr das, was Richard Rorty einmal grundsätzlich über ethische Prinzipien angemerkt hat, dass sie nämlich nur in Situationen zur Anwendung kommen, in denen, es Gründe gibt, bisher unbezweifelte moralische Gemeinplätze zu beanstanden oder in denen wir völlig neuen Problemen gegenüberstehen. Praktiziert wurde vielmehr eine Art preußisch-protestantischer Arbeitsethik, geprägt von Anstand, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft. Nicht ohne Grund nannte Günter Gauss einst die DDR das „Land der kleinen Leute“.

Individuum

Im Marxismus verschwindet das Indivuum in der Klasse. Die Person erscheint als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie verstrickt ist, und da diese klassengebunden sind, ist auch die Person zuallererst Teil ihrer Klasse, und das individuelle Bewusstsein ist Teil des Klassenbewusstseins. In Ausarbeitung der 6. Feuerbachthese verabschieden sich Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ nachhaltig von der klassischen deutschen Subjektphilosophie.

Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind… Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.

Dass das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt und dieses wiederum das individuelle, wurde im Marxismus zu einem ehernen Dogma. Lange Zeit weitgehend unbeantwortet blieb dabei die Frage, wie die Individualität, die Person, das Bewusstsein als Bewusstsein seiner selbst aus dem Sein heraus entsteht. Bis weit hinein in das 20. Jahrhundert ist diese Frage ohne jegliche Bedeutung für die offizielle Ideologie des institutionalisierten Sozialismus. Dabei würde doch eine wissenschaftliche Begründung dieses zentralen Dogmas des historischen Materialismus entscheidend zu dessen Grundlegung beitragen. Vorerst aber herrscht Klassenkampf, und in dem wird das Individuum im russischen Bürgerkrieg, im GULag, bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, bei der forcierten Industrialisierung und auf den Schlachtfeldern des Großen Vaterländischen Krieges zu höheren Zwecken vernutzt.

Allerdings entsteht Mitte der 1920er Jahre, jenseits der großen ideologischen Linien die Kulturhistorische Schule der Psychologie mit ihren wichtigsten Vertretern Lew Semjonowitsch Wygotski, Alexander Romanowitsch Lurija und Alexej Nikolajewitsch Leontjew sowie später auch Sergei Leonidowitsch Rubinstein. Sie entwickeln eine Tätigkeitstheorie der Entstehung des Bewusstsein und der Persönlichkeit auf nominell marxistischer Grundlage. In der beginnenden Stalin-Ära mit ihren zunehmenden Repressionen gegen jeden, der auch nur im Geringsten von irgendeinem, aus welchen Gründen auch immer offiziell dekretierten Kurs abweicht, sieht sich insbesondere Wygotski scharfen ideologischen Angriffen auf seine Theorie ausgesetzt, deren Folge nicht nur ein Publikationsverbot ist. Bis nach Stalins Tod ist Wygotskis Name aus der Literatur verschwunden, und sein Hauptwerk „Denken und Sprechen“5 kann erst 1956 wieder erscheinen. In „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ hat Leontjew die Tätigkeitstheorie weiterentwickelt, während Rubinstein in den „Grundlagen der allgemeinen Psychologie“ eine Theorie der historischen Entwicklung des Bewusstseins vorlegt. Außerhalb der Sowjetunion wird die Tätigkeitstheorie erst in den 1960er Jahren wahrgenommen. In den Ländern des Ostblocks hat sie bis 1989 kaum genug Zeit, wirksam zu werden.

Etwa zur gleichen Zeit wie Wygotski in Moskau und Leningrad entwickelt George Herbert Mead in Chicago eine handlungsorientierte, interaktionistische Theorie der Bewusstseins- und Individualentwicklung, auf die später noch zurück­zukommen sein wird.

1Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus, Berlin 2017, S. 62f

2Panajot Gindev, Die Diktatur des Proletariats und ihre ›Kritiker‹, Berlin und Frankfurt/M. 1973, S. 85

3Zitiert nach: Helga Hörz u.a., Ethik, Berlin 1989

4Helga Hörz u.a., Ethik, Berlin 1989, S. 132

5Lev Semenovic Vygotskij, Denken und Sprechen, Weinheim und Basel, 2017

Die kommende Gemeinschaft. Teil 1

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