Gedanken
im Anschluss an Samuel Scheffler
Die
Fakten sahen besser aus, als es der Wirklichkeit entsprach.
Otmar Issing
Große
Zeit ist immer dann, wenn´s beinahe schiefgeht.
Theodor Fontane
Das
Leben in Corona-Zeiten.
Quelle: Zeit Online |
Am
Ende des heutigen Tages wird man in Deutschland
über 60.000 mit Covid-19
Infizierte zählen.
Diese
befinden sich in Kliniken oder in Quarantäne, alle
anderen ertragen die verhängte Kontaktsperre und warten auf den
Einschlag. Was bleibt uns auch
übrig, solange es keinen Impfstoff und keine wirksamen Medikamente
gegen das Virus gibt? Nur warten, hoffen oder
beten, dass der Kelch erst mal an
einem
vorbeigehen möge, wenigstens für
die nächsten paar Wochen.
Laut
bisheriger Statistik werden etwa 99 % der Infizierten einigermaßen
glimpflich aus der Erkrankung herauskommen oder zumindest überleben.
Das sollte eigentlich optimistisch
stimmen, nichts desto trotz macht sich Endzeitstimmung breit, auch,
weil intuitiv klar ist, dass auch nach durchgestandener Pandemie
nichts mehr so sein wird wie bisher. Zwar wird wohl kaum das Ende des
Kapitalismus ausgerufen werden, das Ende unserer im Westen in den
vergangenen 75 Jahren kultivierten hedonistischen
Lebensweise aber schon. Was danach
kommt, ist ungewiss.
Da
hilft es vielleicht, sich mit einem Text des US-amerikanischen
Philosophen Simon Scheffler aus dem Jahr 2013 zu beschäftigen. Er
trägt den Titel Der Tod und
das Leben danach1
(orig.: Death and the Afterlife) und ist eine erweiterte Fassung der
Tanner-Lectures
on Human Values, die der Autor 2012 in Berkeley gehalten hatte.
Anders
als der Buchtitel zunächst suggeriert, beschäftigt sich
Scheffler in
diesem Text mit der Fragestellung, wie und wohingehend das Wissen um
die bevorstehende Totalkatastrophe
unser Denken und Handeln beeinflusst. Der Leser wird eingeladen,
einem Gedankenexperiment zu folgen:
Stellen Sie sich vor, Sie wüssten,
dass die Erde 30 Tage nach Ihrem Tod – wobei Ihr eigenes Leben von
normaler Dauer wäre – durch eine Kollision mit einem riesigen
Asteroiden vollständig zerstört würde. Welchen Einfluss hätte
dieses Wissen auf die Einstellungen, die Sie im Laufe Ihres
restlichen Lebens haben werden?
Zugegeben,
das von Scheffler skizzierte Katastrophenszenario entspricht
dem unsrigen und jetzigen nur entfernt. Weder wissen wir, dass
und ob überhaupt die Pandemie zur
Totalkatastrophe führen wird – wiewohl auch das, trotz der
wachsenden Zahl von Genesenen, nicht ausgeschlossen werden kann, wo
doch die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen für die
Überlebenden keineswegs absehbar sind, und so könnte es, aufgrund
eines weitgehenden ökonomischen Zusammenbruchs, zu dermaßen
gravierenden sozialen und politischen Verwerfungen kommen, dass
Nuklearwaffen zum Einsatz kommen und die verbliebene Menschheit sich
auf diese Weise selbst vernichtet – noch wissen
wir, wann und wie jeder einzelne
von uns sterben wird. Gleichwohl bieten Schefflers Überlegungen
interessante Einsichten, wie sich
unser Leben in und
nach dieser
Pandemie sowie
in Erwartung der nächsten gestalten könnte. Und
so werde ich im Folgenden auch versuchen, sie so zu interpretieren
und ggf. auch umzudeuten, dass ein Erkenntnisgewinn für die aktuelle
Situation möglich ist.
Zu
Beginn seiner Betrachtungen meint Scheffler, dass „die Aussicht auf
eine bevorstehende Zerstörung der Erde in uns Trübsal, Trauer und
Verzweiflung hervorrufen würde.“ Dieser Behauptung kann
man uneingeschränkt zustimmen, sofern man sie auf die übergroße
Mehrzahl der Menschen bezieht, die gerade nicht aktiv an der
Bewältigung der Krise arbeiten. Daraus
ergeben sich jedoch weitere Implikationen. Der Wert unserer
bisherigen Pläne und Projekte könnte sich verringern und damit auch
unsere Motivation, sie weiter zu verfolgen. Scheffler macht dafür
drei mögliche Gründe aus.
Erstens könnten die ursprünglichen Gründe für unsere Pläne und
Projekte nicht mehr so gut erscheinen wie zuvor. Zweitens könnte
unsere emotionale Beteiligung an ihnen nachlassen, so dass wir sie
mit weniger Eifer und Begeisterung verfolgen. Und drittens könnte
unsere Überzeugung nachlassen, dass es sich dabei um wirklich
sinnvolle Tätigkeiten handelt.
Folgt
man Scheffler, dann könnte es sein, dass der aktuelle
weltweite Ausnahmezustand mit
seinen Begleiterscheinungen für unseren Gedanken- und
Gefühlshaushalt eine
radikale Umwertung unserer
bisherigen Prioritätensetzungen zu Folge hat. Scheffler
selbst führt als Beispiele die Krebs-Forschung,
den Kampf gegen den Klimawandel und den Einsatz für internationale
Gerechtigkeit an. Und wahrlich steht zu befürchten, dass auch noch
nach der
Pandemie diese Projekte für eine gewisse Zeit in den Hintergrund
gedrängt werden angesichts der
Dringlichkeit der Lösung anderer medizinischer, ökonomischer und
politischer Probleme. Das wären die negativen Folgen der Umwertung.
Die
Umwertung könnte aber auch positive Konsequenzen haben. Wer einmal
als Infizierter die Todesangst durchlebt hat, wird womöglich mit
anderen persönlichen Wertsetzungen aus der Krise hervorgehen,
weniger banale Lebens- oder Existenzängste mit sich herumtragen, ein
selbstbewussteres Leben führen und bspw. Bullshit-Jobs (David
Graeber) vermeiden.
Im
Weiteren
verhandelt Samuel
Scheffler mögliche negative
politische und soziale Folgen des
Wissens um die Totalkatastrophe. Es sind dies das Wegbrechen
gesellschaftlicher Regeln und Konventionen und die Ausbreitung von
Anarchie sowie, als Gegenbewegung, die Übernahme der staatlichen
Gewalt durch ein totalitäres Regime. Gerade letzteres ist der
sprichwörtliche elephant in
the room des
Diskurses im und über den
Ausnahmezustand. Auch wenn wir
aktuell weit entfernt scheinen
von Regellosigkeit oder gar Anarchie, besteht doch generell die
Gefahr, dass autoritäre politische Kräfte vornehmlich rechter
Couleur die Exekutive mit der Begründung übernehmen,
unbeherrschbaren Zuständen vorbeugen zu
wollen. Würden
Legislative und Judikative durch das Virus zunehmend geschwächt und
handlungsunfähig, könnten sich insbesondere solche Akteure als
heroische Kämpfer für Recht und Ordnung positionieren, die, wie
etwa Friedrich
Merz, die Infektion bereits überstanden und Immunität erreicht
haben. Es schlüge die Stunde des
Volkstribunen, der zwar im legalen
Verfassungsrahmen an die politische Macht käme, und sei es auch nur
durch formelle Akklamation innerhalb seiner Partei und nachfolgende
Absegnung durch den Bundespräsidenten, dessen oberstes Interesse
aber darin bestünde, den Ausnahmezustand zum Zwecke des Machterhalts
zu perpetuieren. Hier treffen sich Schefflers Überlegungen mit der,
an Carl Schmitt und Michel Foucault anschließenden Behandlung der
modernen Biopolitik und des Ausnahmezustands durch Giorgio Agamben.2
Ob eine in Rechte und Linke, in Gesunde und Kranke, in Immune und
noch nicht Infizierte gespaltene Gesellschaft einem solchen Szenario
etwas entgegenzusetzen hätte, wage ich nicht zu beurteilen. Bleiben
wir vorerst optimistisch.
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1Samuel
Scheffler. Der Tod und das Leben danach. Suhrkamp 2015
2Giorgio
Agamben. Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben.
Suhrkamp 2002
Ders. Ausnahmezustand. Suhrkamp 2004
Ders. Ausnahmezustand. Suhrkamp 2004