Sonntag, 29. März 2020

Covid-19 und dann?


Gedanken im Anschluss an Samuel Scheffler

Die Fakten sahen besser aus, als es der Wirklichkeit entsprach.
Otmar Issing
Große Zeit ist immer dann, wenn´s beinahe schiefgeht.
Theodor Fontane
Das Leben in Corona-Zeiten.
Quelle: Zeit Online
Am Ende des heutigen Tages wird man in Deutschland über 60.000 mit Covid-19 Infizierte zählen. Diese befinden sich in Kliniken oder in Quarantäne, alle anderen ertragen die verhängte Kontaktsperre und warten auf den Einschlag. Was bleibt uns auch übrig, solange es keinen Impfstoff und keine wirksamen Medikamente gegen das Virus gibt? Nur warten, hoffen oder beten, dass der Kelch erst mal an einem vorbeigehen möge, wenigstens für die nächsten paar Wochen.
Laut bisheriger Statistik werden etwa 99 % der Infizierten einigermaßen glimpflich aus der Erkrankung herauskommen oder zumindest überleben. Das sollte eigentlich optimistisch stimmen, nichts desto trotz macht sich Endzeitstimmung breit, auch, weil intuitiv klar ist, dass auch nach durchgestandener Pandemie nichts mehr so sein wird wie bisher. Zwar wird wohl kaum das Ende des Kapitalismus ausgerufen werden, das Ende unserer im Westen in den vergangenen 75 Jahren kultivierten hedonistischen Lebensweise aber schon. Was danach kommt, ist ungewiss.
Da hilft es vielleicht, sich mit einem Text des US-amerikanischen Philosophen Simon Scheffler aus dem Jahr 2013 zu beschäftigen. Er trägt den Titel Der Tod und das Leben danach1 (orig.: Death and the Afterlife) und ist eine erweiterte Fassung der Tanner-Lectures on Human Values, die der Autor 2012 in Berkeley gehalten hatte. Anders als der Buchtitel zunächst suggeriert, beschäftigt sich Scheffler in diesem Text mit der Fragestellung, wie und wohingehend das Wissen um die bevorstehende Totalkatastrophe unser Denken und Handeln beeinflusst. Der Leser wird eingeladen, einem Gedankenexperiment zu folgen:
Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass die Erde 30 Tage nach Ihrem Tod – wobei Ihr eigenes Leben von normaler Dauer wäre – durch eine Kollision mit einem riesigen Asteroiden vollständig zerstört würde. Welchen Einfluss hätte dieses Wissen auf die Einstellungen, die Sie im Laufe Ihres restlichen Lebens haben werden?
Zugegeben, das von Scheffler skizzierte Katastrophenszenario entspricht dem unsrigen und jetzigen nur entfernt. Weder wissen wir, dass und ob überhaupt die Pandemie zur Totalkatastrophe führen wird – wiewohl auch das, trotz der wachsenden Zahl von Genesenen, nicht ausgeschlossen werden kann, wo doch die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen für die Überlebenden keineswegs absehbar sind, und so könnte es, aufgrund eines weitgehenden ökonomischen Zusammenbruchs, zu dermaßen gravierenden sozialen und politischen Verwerfungen kommen, dass Nuklearwaffen zum Einsatz kommen und die verbliebene Menschheit sich auf diese Weise selbst vernichtet –  noch wissen wir, wann und wie jeder einzelne von uns sterben wird. Gleichwohl bieten Schefflers Überlegungen interessante Einsichten, wie sich unser Leben in und nach dieser Pandemie sowie in Erwartung der nächsten gestalten könnte. Und so werde ich im Folgenden auch versuchen, sie so zu interpretieren und ggf. auch umzudeuten, dass ein Erkenntnisgewinn für die aktuelle Situation möglich ist.
Zu Beginn seiner Betrachtungen meint Scheffler, dass „die Aussicht auf eine bevorstehende Zerstörung der Erde in uns Trübsal, Trauer und Verzweiflung hervorrufen würde.“ Dieser Behauptung kann man uneingeschränkt zustimmen, sofern man sie auf die übergroße Mehrzahl der Menschen bezieht, die gerade nicht aktiv an der Bewältigung der Krise arbeiten. Daraus ergeben sich jedoch weitere Implikationen. Der Wert unserer bisherigen Pläne und Projekte könnte sich verringern und damit auch unsere Motivation, sie weiter zu verfolgen. Scheffler macht dafür drei mögliche Gründe aus. Erstens könnten die ursprünglichen Gründe für unsere Pläne und Projekte nicht mehr so gut erscheinen wie zuvor. Zweitens könnte unsere emotionale Beteiligung an ihnen nachlassen, so dass wir sie mit weniger Eifer und Begeisterung verfolgen. Und drittens könnte unsere Überzeugung nachlassen, dass es sich dabei um wirklich sinnvolle Tätigkeiten handelt.
Folgt man Scheffler, dann könnte es sein, dass der aktuelle weltweite Ausnahmezustand mit seinen Begleiterscheinungen für unseren Gedanken- und Gefühlshaushalt eine radikale Umwertung unserer bisherigen Prioritätensetzungen zu Folge hat. Scheffler selbst führt als Beispiele die Krebs-Forschung, den Kampf gegen den Klimawandel und den Einsatz für internationale Gerechtigkeit an. Und wahrlich steht zu befürchten, dass auch noch nach der Pandemie diese Projekte für eine gewisse Zeit in den Hintergrund gedrängt werden angesichts der Dringlichkeit der Lösung anderer medizinischer, ökonomischer und politischer Probleme. Das wären die negativen Folgen der Umwertung.
Die Umwertung könnte aber auch positive Konsequenzen haben. Wer einmal als Infizierter die Todesangst durchlebt hat, wird womöglich mit anderen persönlichen Wertsetzungen aus der Krise hervorgehen, weniger banale Lebens- oder Existenzängste mit sich herumtragen, ein selbstbewussteres Leben führen und bspw. Bullshit-Jobs (David Graeber) vermeiden.
Im Weiteren verhandelt Samuel Scheffler mögliche negative politische und soziale Folgen des Wissens um die Totalkatastrophe. Es sind dies das Wegbrechen gesellschaftlicher Regeln und Konventionen und die Ausbreitung von Anarchie sowie, als Gegenbewegung, die Übernahme der staatlichen Gewalt durch ein totalitäres Regime. Gerade letzteres ist der sprichwörtliche elephant in the room des Diskurses im und über den Ausnahmezustand. Auch wenn wir aktuell weit entfernt scheinen von Regellosigkeit oder gar Anarchie, besteht doch generell die Gefahr, dass autoritäre politische Kräfte vornehmlich rechter Couleur die Exekutive mit der Begründung übernehmen, unbeherrschbaren Zuständen vorbeugen zu wollen. Würden Legislative und Judikative durch das Virus zunehmend geschwächt und handlungsunfähig, könnten sich insbesondere solche Akteure als heroische Kämpfer für Recht und Ordnung positionieren, die, wie etwa Friedrich Merz, die Infektion bereits überstanden und Immunität erreicht haben. Es schlüge die Stunde des Volkstribunen, der zwar im legalen Verfassungsrahmen an die politische Macht käme, und sei es auch nur durch formelle Akklamation innerhalb seiner Partei und nachfolgende Absegnung durch den Bundespräsidenten, dessen oberstes Interesse aber darin bestünde, den Ausnahmezustand zum Zwecke des Machterhalts zu perpetuieren. Hier treffen sich Schefflers Überlegungen mit der, an Carl Schmitt und Michel Foucault anschließenden Behandlung der modernen Biopolitik und des Ausnahmezustands durch Giorgio Agamben.2 Ob eine in Rechte und Linke, in Gesunde und Kranke, in Immune und noch nicht Infizierte gespaltene Gesellschaft einem solchen Szenario etwas entgegenzusetzen hätte, wage ich nicht zu beurteilen. Bleiben wir vorerst optimistisch.
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1Samuel Scheffler. Der Tod und das Leben danach. Suhrkamp 2015
2Giorgio Agamben. Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp 2002
Ders. Ausnahmezustand. Suhrkamp 2004

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