Die
Ahnung, dass der Tod unvermeidlich und das Leben sinnlos ist, macht
ihm [dem Menschen] Angst; zugleich klammert er sich an den tröstenden
Glauben, dass sein Leben ewig oder zumindest bedeutsam sei. Dies
führt zu einem inneren Konflikt, den man manchmal auch als
„existenzielle Angst“ oder anschaulicher als „das Trauma des
Nicht-Seins“ bezeichnet.
Existenzielle
Angst ist so verstörend, dass die meisten Menschen sie unter allen
Umständen vermeiden wollen. Sie konstruieren sich eine nicht
authentische, aber tröstende Realität aus Moralkodizes,
bürgerlichen Wertvorstellungen, Gewohnheiten, Bräuchen, Kultur
und wohl auch Religion...
Nach
dem Philosophen Jean-Paul Sartre (1905-1980) handelt eine Person in
„schlechtem Glauben“, wenn sie sich weigert, sich dem
„Nicht-Sein“ zu stellen. Und dasselbe gilt für ein Leben,
das nicht authentisch und nicht erfüllend ist. Wenn man sich
dem Nicht-Sein stellt, kann dies ein Gefühl von Ruhe, Freiheit, ja
sogar Vornehmheit vermitteln, und – ja – es kann auch
Unsicherheit, Einsamkeit, Verantwortung und folglich Angst mit
sich bringen. Diese Angst ist jedoch keineswegs pathologisch, sondern
vielmehr ein Zeichen von Gesundheit, Stärke und Mut. Freud
merkt dazu an, dass die meisten Menschen im Grunde genommen gar
keine Freiheit wollen, weil Freiheit Verantwortung bedeutet und
Verantwortung den meisten Menschen Angst macht...
Wenn
sich ein Mensch dem Nicht-Sein stellt, wird er dazu befähigt, sein
Leben in die richtige Perspektive zu rücken, es in seiner
Gesamtheit zu begreifen und ihm dadurch Richtung und Einheit zu
verleihen. Wenn der Ursprung der Angst letztendlich die Angst
vor der Zukunft ist, endet die Zukunft mit dem Tod; und wenn der
Ursprung der Angst letztendlich die Ungewissheit ist, dann ist
der Tod die einzige Gewissheit. Sich dem Tod zu stellen, seine
Unvermeidbarkeit zu akzeptieren und ihn ins Leben zu integrieren,
heilt den Menschen nicht nur von der Neurose, sondern befähigt ihn
auch dazu, das Beste aus seinem Leben zu machen...
Manchen
Menschen gelingt es, in der Religion Sinn zu finden, vielen anderen
jedoch nicht. Wenn ein Mensch keinen Sinn in der Religion finden
kann, kann er dann überhaupt einen Sinn finden? Erstens muss er die
Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Leben an sich keinen Sinn
hat. Das ermutigt ihn, sein Leben sub specie aeternitatis (unter dem
Gesichtspunkt der Ewigkeit) zu sehen und es auf diese Weise in
einen Kontext und in die richtige Perspektive zu rücken. Zweitens
muss er höhere Ziele und Impulse verfolgen, die nicht in ihm
selbst liegen, sondern universell sind, etwa indem er sich der
Menschheit oder der Philosophie widmet. Weil derartige Ziele und
Impulse unbegrenzt und zum Wohle anderer sind, bergen sie am ehesten
einen Anschein von Sinnhaftigkeit. Drittens müssen die ausgewählten
Ziele und Impulse eine in sich stimmige Beziehung zueinander haben
und Teil einer einenden Vision sein, die sie als etwas
erscheinen lässt, das mehr ist als nur eine bloße Aneinanderreihung
isolierter Erfahrungen. Eine solche einende Vision muss an reiflich
durchdachten Idealen ausgerichtet sein, damit der Versuch, sich
an ihnen zu orientieren und nach ihnen zu leben, sowohl als
inspirierend als auch als motivierend erlebt wird. Dabei verlagert
sich das Hauptaugenmerk von der Zukunft hin zum Hier und Jetzt, und
vom Ziel hin zum Prozess, der auf dieses Ziel zuführt. Indem man
sich in das Hier und Jetzt vertieft, tritt die Zukunft – der
ultimative Ursprung aller Angst – schlicht in den Hintergrund.
zitiert aus:
Neel Burton. Der Sinn des Wahnsinns. Heidelberg 2011. Kap. 5
Angst, Freiheit und Tod, S. 179ff