Sonntag, 12. März 2023

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung.
Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft
gibt ihm seinen Sinn und seine Gerechtigkeit.
Carl Schmitt


Der nun schon über ein Jahr andauernde Krieg in der Ukraine wird uns von politischer und sonstiger öffentlicher Seite als Krieg zwischen zwei souveränen Nationalstaaten unter Einsatz regulärer Streitkräfte, als zwischenstaatlicher Krieg präsentiert: Die ukrainische Armee kämpft gegen die russische. Aber ist das wirklich so einfach?

Diese Frage ist alles andere als irrelevant, denn von ihrer Beantwortung hängt ab, inwiefern auf diesen Krieg, auf die kämpfenden Seiten und auf die kämpfenden Personen das klassische Kriegsrecht in Gestalt der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention, vollumfänglich anwendbar ist.

Ich denke, weder für die ukrainische noch für die russische Seite kann diese Frage mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Dazu ist die Gemengelage von bewaffneten Einheiten, kämpfendem Personal sowie eingesetzten Waffen und nichtmilitärischen Mitteln zu unübersichtlich. Offensichtlich wird der Krieg auf beiden Seiten hybrid geführt, also unter Einsatz von regulären und irregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nichtmilitärischen Mitteln. Hinzu kommt, dass er nach meinem Dafürhalten eher den Charakter eines Bürgerkrieges hat. Nicht nur, weil Putin bereits vor dem Angriff die Ukraine und deren Bevölkerung zum historisch angestammten Teil Russlands erklärt hat, sondern auch, weil es sich faktisch um zweierlei Sezessionskrieg handelt. Zum einen wird mit Unterstützung Russlands in der Ostukraine seit 2014 ein mehr oder weniger offener Sezessionskrieg zur Ablösung des Donbas vom ukrainischen Staat geführt, zum anderen hatte der Angriff der russischen Armee am 24. Februar 2022 zum Ziel, eine seinerzeit friedlich verlaufene Sezession, die Herauslösung der Ukraine aus der Sowjetunion, mit militärischen Mitteln rückgängig zu machen. Aus Sicht der Ukraine ist der Krieg mithin ein um 30 Jahre „verspäteter“ Sezessionskrieg.

Der Charakter des Krieges als „versteckter“ Bürgerkrieg erklärt, jedenfalls in Teilen, die unglaubliche Brutalität der Kriegsführung, von der wir im Westen ja nur den russischen Anteil zu Gehör und zu Gesicht bekommen. Auf beiden Seiten agieren irreguläre Verbände, von denen die Wagner-Gruppe und das Asow-Regiment (im Stahlwerk Mariupol zerrieben) nur die bekanntesten sind. Auch die Separatistenverbände im Donbas sind irregulär, ebenso wie diverse, nur selten thematisierte ultranationalistische Freiwilligenkorps auf ukrainischer Seite. Irreguläre militärische Einheiten neigen, da meist leichter und schlechter bewaffnet als reguläre Truppen, zum Partisanentum. Auch wenn der Begriff des Partisanen etwas altmodisch erscheint - inzwischen wurde er vom Begriff des Terroristen abgelöst, scheint er mir doch der angemessene zu sein, um einerseits Erklärungen für die Art der Kriegsführung zu finden und andererseits Überlegungen über einen möglichen weiteren Verlauf des Krieges bis zu seiner möglichst baldigen Beendigung anzustellen.

Der moderne Partisan“, schrieb Carl Schmitt 1963, „erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung steigert.“ Ausdrücklich macht Schmitt diese Aussage auch für den Bürgerkrieg geltend. Dass dies berechtigt ist, haben nicht zuletzt die Balkankriege der 1990er Jahre gezeigt. Die zitierte Aussage entstammt der Schrift „Theorie des Partisanen“1 (TP). In dieser stellt Schmitt Überlegungen zum Charakter des modernen, entgrenzten Krieges zwischen Kombattanten an, die das klassische Kriegsrecht nicht oder kaum noch einhalten, also nahezu aller Kriege nach dem 1. Weltkrieg, die mir angesichts des Kampfgeschehens in der Ukraine höchst, um nicht zu sagen erschreckend aktuell zu sein scheinen.

Schon vor dieser Schrift hatte Carl Schmitt die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts als Weltbürgerkrieg gedeutet, in dem es nicht um Ideologien, sondern nur noch um die Verteilung von Ressourcen geht. Nachdem mit dem Untergang der Sowjetunion der Weltbürgerkrieg offiziell für beendet erklärt und das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, erleben wir inzwischen sein offenes Wiederaufflammen, begleitet von vertrauten ideologischen Verbrämungen ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Wieder geht es um die Verteidigung des Westens, der freien Welt, der liberalen Demokratie gegen die Ansprüche autoritärer, totalitärer, diktatorischer Regime, nur dass diese, bis auf das chinesische und das nordkoreanische keine kommunistischen mehr sind. Und wieder verteidigt sich der Osten gegen die Weltherrschaftsansprüche der USA und die moralische Verkommenheit des Westens. Schmitts damalige, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gemachte Feststellung aber gilt heute noch mehr als damals: In letzter Konsequenz geht es um die Verfügung über endliche Ressourcen und die Verteilung endlicher Märkte im Rahmen eines global durchgesetzten Wirtschaftssystem, das auf unendliches Wachstum angelegt ist.

Doch zurück zum Partisanen. Nach Schmitt ist dieser ein Produkt bürgerlicher, später imperialistischer Eroberungskriege, beginnend mit dem spanischen Guerilla-Krieg gegen Napoleon 1808-1813. Im preußischen Landsturmedikt von 1813 wurde dem Partisanen vom König höchstselbst Legitimität zugesprochen: „Jeder Staatsbürger … ist verpflichtet, sich dem eindringenden Feind mit Waffen aller Art zu widersetzen.“ (TP, S. 47) Clausewitz übernahm diese Legitimation des Partisanen in sein posthum erschienenes Standardwerk „Vom Kriege“. Der legitime Verteidiger der Heimat gegen den Eroberer ist jedoch nur eine Gestalt des Partisanen. Im Weltbürgerkrieg (bis 1989) tritt er in einer weiteren Gestalt auf, der des „weltaggressiven, revolutionären Aktivisten“ (TP, S. 35). „Wo der Krieg auf beiden Seiten als ein nicht-diskriminierender Krieg von Staat zu Staat geführt wird, ist der Partisan eine Randfigur, die den Rahmen des Krieges nicht sprengt und die Gesamtstruktur des politischen Vorgangs nicht verändert.“, schreibt Schmitt. Und weiter: „Wird aber mit Kriminalisierungen des Kriegsgegners im ganzen gekämpft, wird der Krieg z.B. als Bürgerkrieg vom Klassenfeind gegen einen Klassenfeind geführt, ist sein Hauptziel die Beseitigung der Regierung des feindlichen Staates, dann wirkt sich die revolutionäre Sprengwirkung der Kriminalisierung des Feindes in der Weise aus, dass der Partisan zum wahren Helden des Krieges wird. Er vollstreckt das Todesurteil gegen den Verbrecher und riskiert seinerseits, als Verbrecher oder Schädling behandelt zu werden.“ (TP, S. 35f) Hier nun sind wir ganz nahe an dem, was das Kriegsgeschehen in der Ukraine ausmacht. Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, bedarf es noch einer Erläuterung hinsichtlich des Partisanen als „revolutionärem Aktivist“.

Carl Schmitt hat sehr luzide beobachtet, dass bereits vor der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch in dem an diese anschließenden russischen Bürgerkrieg der Berufsrevolutionär, wie Lenin ihn nannte, als Partisan im nationalen und internationalen Bürgerkrieg agiert. „Nur der revolutionäre Krieg ist für Lenin wahrer Krieg, weil er aus absoluter Feindschaft entspringt. Alles andere ist konventionelles Spiel… Sein konkreter absoluter Feind war der Klassenfeind, der Bourgeois, der westliche Kapitalist und dessen Gesellschaftsordnung in jedem Lande, in dem sie herrschte.“ (TP, S. 56) Im Großen Vaterländischen Krieg war es Lenins Nachfolger Stalin gelungen, die beiden beschriebenen Typen des Partisanen, den Verteidiger der Heimat und den Weltrevolutionär, zu verbinden.

Dass die Ukrainer aufgrund ihrer quantitativen und bislang auch waffentechnischen Unterlegenheit z. T. gezwungen sind, einen Partisanenkrieg gegen die Russen zu führen bzw. für einen Partisanenkrieg typische Taktiken anzuwenden, ist nur allzu offensichtlich. Gleichwohl bewegt sich auch die russische Seite in diesem Narrativ, das sich aus der von Schmitt beschriebenen leninschen und stalinschen Traditionslinie speist und anscheinend auch in der russischen Bevölkerung noch tief verankert ist. Zwar ist von Revolution natürlich keine Rede mehr, doch Putins Propaganda beschwört das immer gleiche Feindbild: Der Westen, der Russland zu umklammern sucht, wird zum „absoluten Feind“ erklärt, die von ihm unterstützte ukrainische Regierung wird als nazistisch kriminalisiert, mithin auch jeder, der für die Ukraine kämpft. Deshalb ist es, folgt man Lenin, auch geradezu geboten, „sich ohne Dogmatismus oder vorgefaßte Prinzipien … anderer, legaler oder illegaler, friedlicher oder gewaltsamer, regulärer oder irregulärer Mittel und Methoden nach Lage der Sache“ zu bedienen (TP, S. 54). In der Traditionslinie des hybrid geführten Befreiungskriegs gegen Nazideutschland, in dem reguläre Truppen und Partisanenverbände, zumal auf ukrainischem und belorussischem Territorium, häufig koordiniert gegen den Feind vorgingen, kommen im aktuellen Krieg auf russischer Seite sowohl reguläre als auch irreguläre Verbände zum Einsatz, während das ukrainische Hinterland „nach Lage der Sache“ aus der Luft terrorisiert wird.

Welche Erkenntnisse lassen sich nun daraus über der weiteren Verlauf und ein mögliches Ende des Krieges gewinnen? Beide kriegführenden Seiten haben es auf der jeweils anderen mit Partisanen zu tun. Partisanen jedoch kann man nur mit Partisanenmethoden bekämpfen, so dass der Krieg, wenn er so weitergeht, zu einem Partisanenkrieg werden könnte. Hier ein mögliches Szenario: Schon jetzt ist ja von einem möglicherweise lang andauernden Abnutzungskrieg die Rede. Je länger die waffentechnische und die moralische Abnutzung auf russischer Seite andauert, desto stärker wird auch in deren Kampfhandlungen das partisanische Element. In den Straßen von Donezk und anderen Städten des Donbas werden sich zunehmend „nach Lage der Sache“ vermischte, aus regulären und irregulären Kämpfern bestehende Verbände gegenüber stehen. Ob die ukrainischen Verbände sich dauerhaft ihre „Zivilität“ bewahren werden, sei einmal dahin gestellt. In den zähen Kämpfen dieser Verbände werden alle, auch die grausamsten Mittel eingesetzt, denn es wird nicht mehr um Sieg oder Niederlage im Krieg gehen, sondern nur noch um das nackte Überleben der Kämpfenden. Angesichts der dabei auf beiden Seiten begangenen Verbrechen wird, so die Hoffnung, der internationale politische und moralische Druck auf die ursprünglichen Kriegsparteien so stark, dass diese sich genötigt sehen, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Ob es so kommt, ist ungewiss. Spekulation allenthalben.

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1 Carl Schmitt. Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 2002 (1963)


Freitag, 3. März 2023

Die kommende Gemeinschaft. Teil 3

 Subjektkonstitution bei G. H. Mead und A. N. Leontjew

Die Ausgangsfrage dieser Aufsatzreihe lautete: Wenn infolge des wahrscheinlich zu erwartenden Kollapses staatlicher Strukturen auch die Gesellschaft als solche nicht bestehen bleibt, wie kann dann menschliches Über- und Zusammenleben in Gemeinschaft(en) gestaltet werden?

Dass ich im Zuge der bisherigen Untersuchung marxistisches Gedankengut diskutiert habe, hat den einfachen Grund, dass es zwar die Gesellschaft, nämlich die kapitalistische Gesellschaft war, die zentraler Gegenstand der marxschen philosophischen, ökonomischen und politischen Analysen war, der institutionalisierte Sozialismus hingegen, der sich doch schon immer als praktizierter Marxismus verstand, mit dem Kommunismus das Ideal der allumfassenden Gemeinschaft, der communio, seiner (Staats)Bürger anstrebte, worauf ich bei der Erörterung gelebter Moral im institutionalisierten Sozialismus bereits kurz eingegangen war.1 Es lässt sich also im Marxismus ein Keim kommunistischen (was offensichtlich ist) oder, wenn man so will, auch kommunitaristischen Gedankengutes finden, der für meine Zwecke nutzbar gemacht werden soll. Als Kommunismus wurde die angestrebte Gemeinschaft von ihren geistigen Vätern zwar benannt, doch bis auf einige wenige Allgemeinaussagen nicht so recht thematisiert.

Um einen angestrebten Zustand bewusst herzustellen, muss man seine Konstitutionsbedingungen ermitteln. Wenn also die Gemeinschaft das Ziel ist, dann muss geklärt werden, wie Gemeinschaft zustande kommt, d. h. wie es dazu kommt, dass Individuen sich vergemeinschaften. Diese Frage muss aber so lange im Dunkeln bleiben, wie nicht geklärt ist, was eigentlich das menschliche Individuum ist und wie wiederum dieses sich konstituiert.

Im vorangegangenen Teil 2 dieser Aufsatzreihe hatte ich drei vom Marxismus unterbelichtete Theorieaspekte thematisiert – Individuum, Ethik und Demokratie. Der Grund dafür ist, dass meines Erachtens nach keine Sozialtheorie, die eine überzeugende Alternative zum aktuellen, in die Katastrophe steuernden Kapitalismus bieten will, diese Themen aussparen kann. Ganz im Gegenteil ist die ehedem versuchte Alternative des institutionalisierten Sozialismus auch und nicht zuletzt an der offiziellen Geringschätzung von Individuum, Ethik und Demokratie gescheitert. Wie erwähnt, hatte man noch versucht, zumindest zwei der Leerstellen – Individuum und Ethik - zu schließen, indem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einerseits ein Hochschul-Lehrbuch der Ethik erschien und andererseits an der Akademie der Wissenschaften der DDR ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Titel „Biopsychosoziale Einheit Mensch“ initiiert wurde.2 Beides kam zu spät.

G. H. Mead – Die soziale Konstitution des Individuums

Nach Marx (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Thesen über Feuerbach, Die Deutsche Ideologie) war der amerikanische Sozialwissenschaftler George Herbert Mead (1863 – 1931) wohl der erste, der – natürlich in Unkenntnis der marxschen Schriften - wieder einen Versuch unternahm, den spätestens seit René Descartes in der Philosophie vorherrschenden Dualismus von Geist und Materie zu überwinden, und an dessen Stelle ein monistisches Konzept der Subjektkonstitution aus der materiellen, praktischen Lebenswirklichkeit der Menschen zu setzen. Grundlegend für Meads Ansatz ist seine Auffassung vom Bewusstsein als „funktional, nicht substantiv“, das „in der objektiven Welt und nicht im Gehirn lokalisiert werden“ muss.3 Mit dieser Positionierung befindet sich Mead in unmittelbarer Nähe zur 8. Feuerbachthese und zur „Deutsche Ideologie“:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.4

Der wirkliche Lebensprozess, die menschliche Praxis, ist immer schon sinnbehaftet, ist bedeutungsgeladene Lebenswirklichkeit, in der Geist als reflexive, selbstreferentielle Intelligenz, als Selbstbewusstsein entsteht und tätig wird.

Und so ist es denn nach Mead auch „absurd, Geist einfach aus der Sicht des einzelnen menschlichen Organismus zu sehen.“ Vielmehr muss „die subjektive Erfahrung des Einzelnen … mit der natürlichen, sozial-biologischen Tätigkeit des Gehirns verknüpft werden, wenn man Geist annehmbar erklären will; und das kann nur dann geschehen, wenn die gesellschaftliche Natur des Geistes anerkannt wird.“5

Wo Marx von „sozialer Tätigkeit“ spricht, ist bei Mead von „gesellschaftlicher Handlung“ die Rede – beides meint offenkundig ein und das selbe und kann nach Ansicht des Nürnberger Philosophen Horst Müller unter dem Begriff der Praxis subsumiert werden.6 In einem dialektisch zu verstehenden Wechselverhältnis zwischen Individuum und sozialer Wirklichkeit bewirkt diese Praxis die Entstehung sowohl von Bewusstsein im marxschen Verständnis als gesellschaftlichem Bewusstsein als auch von individuellem Bewusstsein, um das es Mead zu tun ist. Entscheidend ist, dass die Praxis bedeutungsgeladen ist, oder, wie Mead es ausdrückt, sinnhaftig. Sinn ist „in der Struktur der gesellschaftlichen Handlung impliziert“.7

Zu seiner Zeit konnte Marx die individualpsychologischen Aspekte der Subjektkonstituierung nicht thematisieren, und er wollte es wohl auch nicht. Er konzentrierte sich gleichsam auf die Umkehrung der Verhältnisse im Kopf als Bedingung der Umkehrung der Verhältnisse in der materiellen Realität. Diese Selbstbeschränkung sollte anscheinend davor bewahren, das monistische Geist-Materie-Konzept wieder dem Idealismus anheim fallen zu lassen. Gerechterweise muss allerdings festgehalten werden, dass eben zu jener Zeit (1844 – 1848) die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin noch gar nicht existent war. Erste Ansätze waren im 18. Jahrhundert bei Christian Wolff und im 19. bei Franz Brentano zu finden. So findet sich denn in der Deutschen Ideologie nur die vage Aussage: „Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen.“

Laut Mead ist die Entwicklung des Geistes eng mit der Entwicklung der Sprache verbunden, allerdings ist dieser dialektische Prozess eingebettet in die Strukturen gesellschaftlichen Handelns. Durch Sprache sind Individuen in der Lage, Symbole zu erstellen und zu verwenden, um Objekte, Ideen und Ereignisse darzustellen, und sich auf komplexe Formen der Kommunikation und des Denkens einzulassen. Jedoch:„Sprache ist nie in dem Sinn willkürlich, dass einfach ein reiner Bewusstseinsinhalt durch ein Wort benannt wird“8 Mit der Herausarbeitung der zentralen Stellung sprachlicher Interaktion für die Subjektkonstitution und damit auch für Gemeinschaften als Sprachgemeinschaften erweist sich Meads Theorie mithin als grundlegend auch für neuere konstitutionstheoretische Ansätze, wie bspw. jene von Jürgen Habermas oder John Searle9. Es wäre jedoch verfehlt, sie auf den so genannten Symbolischen Interaktionismus zu reduzieren, wie dies bspw. bei Hans Joas in seinen ansonsten sehr verdienstvollen Arbeiten zu Mead und zum Pragmatismus10, aber auch bei Habermas mit seiner gekünstelten und gänzlich realitätsfremden Unterscheidung zwischen kommunikativem und instrumentellem Handeln der Fall ist.

A.N. Leontjew – Die Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit

Für Horst Müller ist Georg Herbert Mead das „missing link“ der von Marx inspirierten Praxisphilosophie, in dem dieser, wie eben kurz dargestellt, die theoretische Lücke befüllt, die Marx´Selbstbeschränkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein gelassen hatte. Diese Fixierung auf Mead erscheint mir jedoch etwas einseitig zu sein und die Rolle der kulturhistorischen Schule der Sowjetpsychologie zu vernachlässigen, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass diese sich dem Problemkreis der Subjektkonstitution nicht von originär philosophischer Seite näherte, sondern ihre Theorie offiziell unter dem Dach der Fachwissenschaft Psychologie entwickelte und daraus auch keine Gesellschaftstheorie abzuleiten versuchte. Dies kann auch nicht verwundern, lief doch in den Jahren des Stalinismus bekanntlich jedes offene Philosophieren Gefahr, mit dem Revisionismusvorwurf belegt zu werden, was wiederum geradewegs ins GuLAG oder den Lubjankakeller führen konnte. Die Vertreter der kulturhistorischen Schule der Psychologie - Wygotski, Luria, Leontjew - blieben davon zwar verschont, sahen sich gleichwohl schon früh Repressalien und Publikationsverboten ausgesetzt. Die grundlegenden Texte „Denken und Sprechen“ von Wygotski und „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ von Leontjew konnten erst weit nach Stalins Tod veröffentlicht werden. Ich werde mich im folgenden auf Leontjew konzentrieren, da, wie ich meine, dessen Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit als weiteres “missing link“ im o. g. Sinne angesehen werden kann.

Als Mitbegründer und exponierter Vertreter der Kulturhistorischen Schule konzentrierte sich der Psychologe Alexei Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) auf die Erforschung des Bewusstseins und seiner Beziehung zu Kultur und Gesellschaft. Er interessierte sich besonders für die Rolle von Sprache und Kommunikation bei der Gestaltung der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, und seine Arbeit trug wesentlich dazu bei, das Verständnis der kulturhistorischen Schule darüber zu erweitern, wie soziale und kulturelle Faktoren die kognitive Entwicklung beeinflussen. Leontjew bewegte sich ausdrücklich und offensiv auf dem Boden des historischen Materialismus. Zentraler Bestandteil seiner Entwicklungstheorie der Persönlichkeit ist die Tätigkeitstheorie, mit der er, wie Klaus Holzkamp es ausdrückt, das Konzept der "Dreigliedrigkeit", das heißt der Vermitteltheit der Außenwelteinwirkungen auf das Subjekt durch die gegenständliche Tätigkeit einführte und sich damit explizit vom klassischen „zweigliedrigen“ Subjekt-Objekt-Schema der bürgerlichen Philosophie und Psychologie abgrenzte. Anschließend an die 1. und die 8. Feuerbachthese entwickelte Leontjew seine zentralen Thesen in der Schrift „Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit“11, die 1974 erstmals publiziert wurde.

Darin beleuchtet Leontjew die drei, seiner Ansicht nach, wichtigsten Kategorien einer wissenschaftlichen, und das heißt für ihn marxistischen Psychologie: gegenständliche Tätigkeit, menschliches Bewusstsein und Persönlichkeit. Menschliche Tätigkeit ist stets gegenständliche Tätigkeit, denn, auch wenn sie sich als innere, als Denktätigkeit nicht an einem materiellen Objekt vollzieht, ist sie doch intentional, d. h. auf einen Gegenstand bezogen. Gegenständliche Tätigkeit ist eingebettet in soziale Kontexte und Strukturen. Bezugnehmend auf eine der Schlüsselpassagen der Deutschen Ideologie schreibt Leontjew:

Unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sich die Tätigkeit des Menschen jedoch auch immer vollzogen hat, welche Struktur sie auch immer annimmt, man kann sie niemals isoliert von den gesellschaftlichen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft betrachten. Bei all ihrer Vielfalt stellt die Tätigkeit; des menschlichen Individuums ein System dar, das in das System der gesellschaftlichen Beziehungen eingeschlossen ist. Außerhalb dieser Beziehungen existiert keine menschliche Tätigkeit. Wie sie existiert, das bestimmen jene Formen und Mittel des materiellen und geistigen Verkehrs, die durch die Entwicklung der Produktion erzeugt werden und die sich nur in der Tätigkeit der konkreten Menschen realisieren können.12

Entscheidend für die Rolle der Tätigkeit bei der Entstehung und Entwicklung des Bewusstseins ist für Leontjew, dass sie Bedeutung hat, und: „Die Bedeutungen sind auch die wichtigsten ‚Konstituenten‘ des menschlichen Bewußtseins.“ Hier nun kommt die Sprache ins Spiel:

Wenn auch der Träger der Bedeutungen die Sprache ist, ist doch die Sprache nicht der Demiurg der Bedeutungen. Hinter den sprachlichen Bedeutungen verbergen sich die gesellschaftlich erarbeiteten Verfahren (Operationen) der Handlung, in deren Prozeß die Menschen die objektive Realität verändern und erkennen. Mit anderen Worten, in den Bedeutungen ist die in die Sprachmaterie umgestaltete und eingekleidete ideelle Existenzform der gegenständlichen Welt, ihrer Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen repräsentiert, die durch die gesamte gesellschaftliche Praxis entdeckt wurden.13

Geist, Bewusstsein ist also nicht etwas, das in irgendwelchen Hirnarealen oder neurophysiologischen Prozessen verortet werden kann. Auch auf individualpsychologischer Ebene entsteht und existiert Bewusstsein nur in gegenständlicher Tätigkeit. Bewusstes Handeln ist gegenständliches Handeln, und die Sprache ist die Existenzform des Bewusstseins, indem sie Träger der Bedeutung des bewussten Handelns ist. Das entscheidend Neue der Tätigkeitstheorie gegenüber den Einsichten von Marx und Engels ist die Erkenntnis der zentralen Rolle der Sprache für die Ausbildung und die Erklärung des Bewusstseins. Zusammen mit dem berühmten Satz von Wygotski (auf den Leontjew sich natürlich beruft): „Der Gedanke drückt sich im Wort nicht aus, sondern vollzieht sich im Wort.“, markiert dies quasi einen linguistic turn in der marxistischen Philosophie. Ganz nebenbei werden so die Mysterien der bürgerlichen Philosophie des Geistes (Leib-Seele-Problem u. a.) abgeräumt; zugleich wird der Behaviorismus überwunden, der das Bewusstsein als aktive Komponente menschlichen Verhaltens schlicht negiert.

Aus den bereits erwähnten Gründen wurde Leontjews Tätigkeitstheorie der Subjektkonstitution von der marxistischen Philosophie kaum wahrgenommen. Ihre Wirkung beschränkte sich auf den Bereich der Erziehungswissenschaften. In dieser Hinsicht teilt sie das Schicksal der meadschen Theorie.


1 So sieht es auch der Philosoph Peter Ruben, wenn er schreibt: „Gemeinschaft, so können wir sagen, wird durch die unmittelbare Kooperation in der Produktion realisierbarer (absetzbarer) Güter oder Dienste hervorgebracht. Sie ist wesentlich durch Produktion begründet. Gesellschaft dagegen wird durch den Austausch, durch den Handel fundiert.“ Peter Ruben, Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet.

2 Herbert Hörz. Der Mensch als biopsychosoziale Einheit – Wesen, Genese und Determinanten, 1988. http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/HoerzMensch.pdf

3 George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp 1973, S. 153

4 MEW, Bd. 3, S.

5 a. a. O., S. 174

6 Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert, Kap. 5

7 a. a. O., S. 121

8 a. a. O., S. 113

9 John R. Searle. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Suhrkamp 2011

10 Hans Joas. Praktische Intersubjektivität. Suhrkamp 1989, ders. Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Suhrkamp 1992

11 A. N. Leontjew. Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit. Abrufbar im Max-Stirner-Archiv: http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/Leontjew-TaetigkeitBewusstseinPersoenlichkeit.pdf

12 a. a. O., S. 40 (83)

13 a. a. O., S. 65 (135)

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...