Sonntag, 23. Dezember 2012

Kann man wollen, was man will?

I

In seinem äußerst lesenswerten Buch „Geist, Sprache und Gesellschaft“1 befasst sich der amerikanische Philosoph John R. Searle hauptsächlich mit dem ersten der drei titelgebenden Phänomene und erläutert dabei auch seine Position zum Thema Wil­lensfreiheit. Die Frage nach der Möglichkeit und der Natur des freien Willens wird seit Jahrhunderten nicht nur in der Philosophie kontrovers diskutiert. Auch John Searle beantwortet die Frage nicht, er legt aber eine interessante Darstellung des Sachverhalts vor, die ich zum besseren Verständnis zunächst kurz referieren werde, um im Anschluss eigene Ansichten zu Searles Position und zur Frage selbst zu entwi­ckeln.
Dem Bewusstsein widmet John Searle die drei zentralen Kapitel von „Geist, Sprache und Gesellschaft“. Für Searle lässt sich das Bewusstsein biologisch als ein höherstufi­ges Merkmal des Gehirns mit der besonderen Eigenschaft der Subjektivität, also der Fähigkeit zur Ich-Perspektive verstehen. Neben der Subjektivität eignet dem Be­wusstsein Intentionalität. Mit diesem Terminus wird das Vermögen des Bewusst­seins bezeichnet, sich auf etwas zu beziehen. Gemeint ist damit schlichtweg, dass ein Gedanke einen gedachten Inhalt hat (Man denkt nicht einfach nur, man denkt et­was.), eine Wahrnehmung einen wahrgenommenen Gegenstand (Man sieht nicht einfach nur, man sieht etwas.), ein Wunsch eine gewünschte Sache (Man wünscht nicht einfach nur, man wünscht etwas.). Spätestens seit Descartes Meditationen stel­len Philosophen die Frage nach der Möglichkeit intentionaler Verursachung, danach also, wie intentionale psychische Zustände (Überzeugungen, Wünsche, Absichten) kausal in die reale Welt wirken und so materielle Phänomene2 verursachen können. Um zu einer Lösung zu gelangen, erklärt Searle zunächst sein Verständnis von Kau­salität, indem er sich vom mechanistischen Modell der Verursachung, wie es von Da­vid Hume vertreten wurde und nach Searles Meinung noch immer von einer Mehr­heit der Philosophen vertreten wird, klar abgrenzt, um anschließend zu erläutern, wie aus seiner Sicht intentionale Verursachung funktioniert.
Über den Körper hat das Bewusstsein eine basale Beziehung zur realen Welt. Inten­tionale Zustände repräsentieren die reale Welt oder sie imaginieren, wie die reale Welt sein sollte. Diese Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt bezeichnet Searle als Ausrichtung eines intentionalen Zustands. Die Beziehung der Ausrichtung kann eine Welt-auf-Geist-Ausrichtung oder eine Geist-auf-Welt-Ausrichtung sein: „Überzeugungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen haben die Geist-auf-Welt-Ausrichtung, weil es ihr Ziel ist, zu repräsentieren, wie die Dinge sind. Wünsche und Absichten haben die Welt-auf-Geist-Ausrichtung, weil es ihr Ziel ist, nicht zu repräsentieren, wie die Dinge sind, sondern wie wir sie gerne hätten bzw. wie wir sie zu machen gedenken.“3 Wie man weiß, kann das Bewusstsein auch auf sich selbst ausgerichtet sein – dann ist es Selbstbewusstsein und hat eine Null-Ausrichtung.
Entscheidend für das Verständnis der Ausrichtung von Intentionalität ist nach Searle der Begriff der Erfüllung: „Ein intentionaler Zustand ist erfüllt, wenn die Welt so ist, wie der intentionale Zustand sie repräsentiert.“4 Das bedeutet, bei Geist-auf-Welt-Ausrichtung ist der intentionale Zustand erfüllt, wenn er die Welt (weitgehend) rich­tig repräsentiert. Hier wirkt die kausale Verursachung von der Welt auf den Geist. Bei Welt-auf-Geist-Ausrichtung ist der intentionale Zustand erfüllt, wenn die Welt (weit­gehend) so ist, wie er sie haben wollte. Die kausale Verursachung wirkt also vom Geist auf die Welt.
So weit, so verständlich, so plausibel. Oder auch nicht.
Intentionale Verursachung sei entscheidend für das Verständnis unseres Verhaltens, schreibt Searle: „Wenn menschliches Verhalten rational ist, beruht es auf Gründen, aber die Gründe erklären das Verhalten nur, wenn die Beziehung zwischen dem Grund und dem Verhalten sowohl eine logische als auch eine kausale ist. In Erklärun­gen rationalen menschlichen Verhaltens wird somit wesentlich vom Werkzeug der in­tentionalen Verursachung Gebrauch gemacht.“5 Er verdeutlicht dies am Beispiel der rational nachvollziehbaren Beweggründe Hitlers, die Sowjetunion zu überfallen (d.i. Wunsch nach Lebensraum im Osten), die allerdings nicht ausreichend gewesen seien, dieses Vorhaben auch auszuführen, da Hitler sich trotz seiner Beweggründe auch an­ders hätte entscheiden können. Searle kommt zu dem Schluss, dass die Erklärung menschlichen Verhaltens mittels intentionaler Verursachung nicht deterministisch ist, es also keinen hinreichenden kausalen Zusammenhang zwischen intentionalen Zuständen und menschlichen Handlungen gibt, ausgenommen pathologische Fälle, wie Sucht oder Zwangsstörung: „Wenn ich mein eigenes Verhalten damit erkläre, daß ich die Überzeugungen und Wünsche angebe, die mein Handeln motiviert haben, dann impliziere ich damit normalerweise nicht, daß ich mich nicht hätte anders verhalten können.“6 Searle diagnostiziert eine Lücke zwischen den intentionalen Gründen der Entscheidung und der Entscheidung selbst, sowie eine weitere Lücke zwischen der Entscheidung und dem Vollzug der Handlung. Damit gemeint sind nicht zeitliche oder logische Lücken, sondern kausale Lücken, die Ausdruck dessen seien, was wir Willensfreiheit nennen. Unser Handeln ist nicht vollständig determiniert, weder durch äußere, objektive noch durch innere, subjektive Tatbestände. Searle, wie viele andere Philosophen, sieht eben darin eine Erklärungslücke.
Meiner Ansicht nach gibt es diese Lücke nicht. Es gibt offensichtlich das Phänomen des freien Willens und das der Handlungsfreiheit, und wir empfinden auch die von Searle festgestellten Lücken, nur eine Erklärungslücke kann ich nicht sehen. Ich be­streite, dass intentionale Zustände das Handeln nicht vollständig determinieren kön­nen, behaupte vielmehr, dass Willensfreiheit ein psychologisches Phänomen ist, nicht aber eine geistesphilosophische Kategorie und werde im Folgenden versuchen, dies zu begründen.

II

Das Gehirn, das menschliche zumal, ist ein hochkomplexes System. Der Hirnforscher Wolf Singer meint: "Das Gehirn ist ein klassisches komplexes System, weil es aus sehr vielen Elementen besteht, die miteinander verkoppelt sind und auf diese Weise eine Dynamik entwickeln können, die charakteristisch ist für komplexe Systeme. Es kommt noch hinzu, dass die Dynamik, die sich daraus entwickelt, eine nichtlineare Dynamik ist. Es ist ein nichtlineares komplexes System und wahrscheinlich das kom­plexeste, dass wir auf der Erde überhaupt kennen.“7
Komplexität bezeichnet die Eigenschaft eines Systems, dass man sein Gesamtverhal­ten selbst dann nicht beschreiben kann, wenn man vollständige Infor­mationen über seine Einzelkomponenten und ihre Wechselwirkungen besitzt. Die Komplexität eines Systems steigt mit der Anzahl an Elementen, der Anzahl der Verknüpfungen zwischen diesen Elementen sowie der Funktionalität dieser Verknüpfungen.
Aus der Systemtheorie weiß man, dass komplexe Systeme bzw. Modelle komplexer Systeme sich dadurch auszeichnen, dass ihre mathematische Beschreibung, wenn sie denn überhaupt bekannt ist, nichtlinear ist. Darauf bezieht sich auch Wolf Singer. Das wohl vertrauteste Beispiel eines nichtlinearen komplexen Systems ist die Erdat­mosphäre. Zu deren mathematischer Beschreibung dienen die Lorenz-Gleichungen, ein System nichtlinearer Differentialgleichungen, dessen numerische Lösungen ein grafisches Gebilde ergeben, das als Lorenz-Attraktor8 bekannt ist.
Ein wesentliches Verhaltenselement komplexer dynamischer Systeme sind Bifurka­tionen. Das sind zeitliche Verzweigungspunkte, an denen der weitere Prozess offen ist, d.h. er ist nicht eindeutig determiniert, hat gewissermaßen die freie Wahl. Unmit­telbar vor der Bifurkation ist die Chaoszone, die diese Wahl erlaubt. Bifurkationen entstehen aus geringfügen Fluktuationen in chaotischen Prozessen durch Rückkopp­lungs- und daraus resultierende Verstärkungseffekte. Dadurch wird eine der Zu­kunftsoptionen, die dem Prozess vor dem Verzweigungspunkt offen stehen, bevorzugt und eben realisiert.
Nebenbei, während meiner Doktorandenzeit in den 1980er Jahren gab es an unserer Uni eine mathematische Forschungsgruppe, die sich mit eben diesen Bifurkati­onsphänomenen in nichtlinearen dynamischen Prozessen befasst hat. Die Theorie vom Chaos und von Katastrophen, von Bifurkationen, Fraktalen und dissipativen Prozessen war damals dank der Arbeiten von Mandelbrot, Thom, Zeeman und Prigo­gine9 schwer in Mode. Ein paar Jahre später begegnete mir das Phänomen auch in praxi, als ich Strömungsvorgänge in Atomkraftwerksarmaturen zu berechnen hatte. Die mathematische Simulation des Schließprozesses einer Schnellschlussarmatur, deren Aufgabe es sein sollte, im Störfall selbsttätig, binnen einer Sekunde ein Kühl­rohr von 1 m Durchmesser abzuschotten, ließ keine zuverlässigen Vorhersagen des Systemverhaltens zu. Die numerischen Näherungsrechnungen bifurgierten und di­vergierten - und zwar desto stärker und desto schneller, je feiner das Näherungsgitter war.
Nun könnte man meinen, es läge nur an der Schwäche unserer physikalischen Model­le und mathematischen Methoden, dass solche nichtlinearen komplexen Systeme nicht prognostizierbar sind, und die Fortschritte der Wettervorhersage auf der Grundlage immer besserer Modelle und immer leistungsfähigerer Computer scheinen das zu bestätigen. Instabilität, Chaos, Bifurkationen und abrupte, ka­tastrophale Ver­änderungen des Systemverhaltens sind jedoch intrinsische Merkmale nichtlinearer dynamischer Prozesse. Der entscheidende Unterschied zwischen li­nearen und nichtli­nearen Systemen besteht darin, dass bei letzteren winzigste Verän­derungen der Aus­gangsparameter gravierende Konsequenzen für das Systemverhal­ten haben können. Der bekannte Butterfly-Effekt10 zeigt dies anschaulich.
In den Naturwissenschaften ist man sich weitgehend darüber einig, dass aus der Nichtvorhersehbarkeit nichtlinearer dynamischer Systeme nicht auf deren Indeter­miniertheit geschlossen werden kann. Vielmehr ist es wohl so, dass die in der Heisenb­ergschen Unbestimmtheitsrelation11 ausgedrückten absoluten Grenzen der Messgenauigkeit den Spielraum für die Ausgangsparameter liefern, der eben wegen der intrinsischen Systemeigenschaften zu Bifurkationen mit unvorhersehbarem Aus­gang führt. Auf einem mikroskopischen Raum-Zeit-Niveau sind Bifurkationen an­scheinend determiniert, weshalb auch von deterministischen chaotischen Prozessen gesprochen wird, nur lässt sich diese Determiniertheit nicht beobachten.

III

Doch zurück zur Willensfreiheit, zum Gehirn und zu John Searle. Es wurde versucht, die mit den diagnostizierten Lücken inkriminierte Indeterminiertheit unter Bezug auf die Quantenmechanik und deren statistische Interpretation zu deuten. Neurophysio­logische Prozesse seien ja elektrische und elektrochemische Prozesse auf molekularer und z.T. subatomarer Ebene, und da dort die Gesetze der Quantenphysik wirksam seien, wären auch die neurophysiologischen Prozesse im Hirn diesen unterworfen.12 Das heißt, in der Lücke zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung wie auch in der Lücke zwischen Entscheidung und Handlung würde der quantenphysikalische Zufall walten. Auch John Searle neigt zu solchen Überlegungen, wie er vor einigen Jahren in einem FAZ-Interview äußerte13.
Die rein quantenmechanische Argumentation leuchtet nicht so recht ein, denn das Gehirn besteht zwar wie alle materiellen Objekte dieser Welt aus Quanten, ist selbst jedoch ein makroskopisches und kein quantenmechanisches System. Ich glaube auch nicht, dass es der Berufung auf die Quantenphysik bedarf, um die Lücken zu schlie­ßen. Betrachtet man nämlich das Gehirn als dynamisches und als biologisches Sys­tem, sollten die folgenden Aspekte, die ich nachfolgend näher erläutern werde, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken:

(1) Biologische Systeme sind selbst organisierende Systeme fernab des thermo­dynamischen Gleichgewichtszustands.
(2)   Alle realen Prozesse haben eine Richtung in der Zeit.
(3)   Die Kausalität in der klassischen Physik ist zeitsymmetrisch.
Die letzte Feststellung ist Ausdruck der Tatsache, dass der Kausalitätsbegriff in der klassischen Physik zwar mit dem Zeitbegriff verwoben ist, in seiner Verwendung in klassischen physikalischen Modellen aber insofern zeitunabhängig, als die Gleichun­gen zeitsymmetrisch sind. Dies gilt für die klassische Mechanik wie auch für die Re­lativitätstheorie. Erst in der statistischen Thermodynamik und in der Quantenphysik wird diese formale Zeitsymmetrie aufgehoben. Mit den Gesetzen der klassischen (ma­kroskopischen) Physik können Prognosen in beide Zeitrichtungen angestellt werden. Aus dem bekannten Jetztzustand eines Systems können sowohl die Systemzustände in der Zukunft als auch die Systemzustände in der Vergangenheit zuverlässig berech­net werden. Aus dem Jetztzustand des Universums bspw. kann auf seine weitere Ent­wicklung geschlossen werden, es lassen sich aber auch seine früheren Zustände bis kurz nach dem Urknall rekonstruieren. Die Kausalität in der klassischen Physik ist also auch in dem Sinne zeitsymmetrisch, als nicht nur von einer bekannten Ursache auf eine Wirkung geschlossen werden kann, sondern auch umgekehrt von einem bekann­ten Zustand auf dessen Ursache.
Dass John Searle Lücken zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung sowie zwischen Entscheidung und Handlung sieht, zeigt, dass er diesen klassischen Kausa­litätsbegriff verwendet, was insofern verwundert als er ja selbst, wie oben angemerkt, das von Hume inspirierte mechanistische Verständnis von Verursachung als überholt charakterisiert hatte. Er möchte von der Handlung auf die Entscheidung schließen können und von der Entscheidung auf den intentionalen Zustand. Was wir bei anderen Menschen zuallererst wahrnehmen, ist ihr Handeln - alles Weitere ist Zuschreibung. Die Erklärung der kausalen Beziehung zwischen Handlung und Entscheidung muss also zunächst von der wahrgenommenen Handlung ausgehen, wozu auch das Sprechen über diese Handlung gehört. Die Erklärungslücke entsteht nur dann, wenn die Erklärung folgendermaßen von statten gehen soll:
  1. Wir sehen die Handlung H von Person P.
  2. Anhand der Handlung H stellen wir die Hypothese auf, Person P habe die Entscheidung Eh getroffen, Handlung H auszuführen.
  3. Anhand der Entscheidung Eh von Person P stellen wir wiederum die Hypo­these auf, Person P habe den intentionalen Zustand Ih gehabt, Handlung H ausführen zu wollen.
Eine Erklärung von Handlung H wäre nun, unter der Annahme des Vorhandenseins von Ih bei P zunächst Eh und daraus H kausal abzuleiten. Dies aber wäre die Anwen­dung des Kausalitätsverständnisses der klassischen Physik. Das moderne Verständnis von Kausalität berücksichtigt hingegen die Existenz von deterministischen chaoti­schen Systemen:
Man sagt, B hängt kausal von A ab (oder: A verursacht B), wenn
  1. A zeitlich vor B liegt,
  2. die Wahrscheinlichkeit dafür, dass B eintritt, wenn A eingetreten ist, höher ist als die Wahrscheinlichkeit dafür, dass B eintritt, ohne dass A eingetreten ist.
In dieser modernisierten Formulierung ist der Kausalitätsbegriff grundsätzlich asym­metrisch gegenüber der Zeitrichtung und damit adäquater zu der in (2) festgestellten zeitlichen Gerichtet­heit realer Prozesse: Aus dem Eintreten von B kann nun nichts Verlässliches mehr über das Ein­treten von A geschlussfolgert werden, denn B hätte auch ohne A eintreten können, nur wäre das womöglich sehr unwahrscheinlich gewe­sen. Dieses Verständnis von Kausalität vorausgesetzt, verschwinden die Erklärungs­lücken umgehend. Zur Erläu­terung werde ich (1) heranziehen.
Aussage (1) besagt, dass biologische Systeme - auch das Gehirn - Systeme sind, die
  • offen sind und permanent mit ihrer Umwelt Materie und Energie austauschen (Stoffwechsel),
  • mittels des Stoffwechsels ihre eigenen Strukturen aufrechterhalten (Struktur­bildung im thermodynamischen Nichtgleichgewicht sowie Homöostase),
  • sich selbst organisieren in dem Sinne, dass sie ihren Systemzustand selbststän­dig an Veränderungen äußerer oder innerer Faktoren anpassen (adaptive Selbstregulation).
Das dritte Merkmal ist hier das entscheidende, denn die Selbstregulation basiert auf Rückkopplung. Das System bewertet mehr oder weniger regelmäßig seinen eigenen Zustand und verändert diesen bei Bedarf mittels entsprechender Rückkopplungsme­chanismen so lange, bis wieder ein optimaler Zustand erreicht ist. Da das System auf dieser Ebene noch kein Gedächtnis im eigentlichen Sinne hat, muss es vom festge­stellten Jetztzustand auf die Gründe und Ursachen der Abweichung vom optimalen Zustand schließen. Dass dies im Regelfall zuverlässig funktioniert, ist der Evolution geschuldet, die dafür sorgt, dass eben nur zuverlässig arbeitende, stoffwechselnde und selbstregulierende Systeme überleben - das Gedächtnis ist ein genetisches. Feh­ler aufgrund von Fehlinterpretation sind dabei bekanntlich nicht ausgeschlossen. Man denke nur an Allergien und Autoimmunerkrankungen.
Auf der Ebene der höheren geistigen Funktionen, um die es ja bei der Fragestellung eigentlich geht, geschieht etwas Ähnliches: Um für sich die Begründung einer Hand­lung H aus einer Entscheidung Eh zu liefern und einer Entscheidung Eh aus einem in­tentionalen Zustand Ih, muss das Gehirn die Erklärungsschritte a, b und c vollzie­hen. Es muss Hy­pothesen über vorangegangene eigene Systemzustände anstell­en und bewerten, ob diese hypo­thetischen Zustände das Zustandekommen von H bewirkt haben könnten. Zum Glück haben wir nicht nur ein genetisches Gedächt­nis sondern auch ein neuronales, in dem vorangegangene Systemzustände als Erin­nerungen gespeichert sind. Das Gehirn ist aber ein nichtlineares komplexes System und als biologisches System zu allem Überfluss auch noch ein thermodynamisches Nichtgleichgewichtssystem. Jedes Aufstellen von Hypothesen, jede Suche im Ge­dächtnis und jedes Vergegenwärtigen von Gedächtnisinhalten und damit früheren Systemzuständen verändert, wie jede geistige Funktion, das System selbst, bewirkt Rückkopplungen, kurzzeitige chaotische Prozesse und Bifurkationen, deren Auslöser unklar und deren Ausgang unvorhersehbar ist. Dem Gehirn bleibt dann nur die Inter­pretation von plausiblen kausalen Zusammenhängen anhand von Wahrscheinlichkei­ten im Sinne von Teil 2 der obigen Kausalitätsdefinition.

IV

Was subjektiv als Willens- bzw. Handlungsfreiheit erscheint, könnte tatsächlich nichts weiter sein als eine Selbstzuschreibung aufgrund des Fehlens anderer Anhalts­punkte für das Zustandekommen von Entscheidungen und Handlungen. Die ent­scheidungsrelevanten Parameter sind aus den im Gedächtnis abgelegten Systemzu­ständen wegen ihrer ursprünglichen Irrelevanz für das Gesamtsystem nicht mehr re­konstruierbar. Auch dies eine Konsequenz der Komplexität des Systems. Wenn wir eine Entscheidung treffen, dann tun wir dies nicht nur aufgrund eines bestimmten in­tentionalen Zustands (z.B. Wünschen), sondern bewerten, welche Folgen die Hand­lung, für die wir uns zu entscheiden gedenken, für uns und für andere haben könnte. Wir stellen Prognosen über die Zukunft an, und je schwerwiegender die möglichen Folgen der Handlung erscheinen, desto langwieriger und konzentrierter ist der Ent­scheidungsprozess, desto mehr Parameter und Einflussfaktoren fließen ein und desto überlegter erscheint dann die Handlung. Nun weiß jeder, dass je schwerwiegender eine getroffene Entscheidung war, umso tiefer hat sie sich - und mit ihr der Entschei­dungsprozess mit all seinen Parametern und Einflussfaktoren - ins Gedächtnis ein­gegraben. Die Parameter und Einflussfaktoren könnten nämlich von höchster Relevanz für die künftige Bewertung von Systemzuständen sein, werden deshalb gespeichert und sind so später auch leichter rekonstruierbar. Solch schwerwiegende Entschei­dungen (z.B. zu heiraten) erscheinen retrospektiv als erheblich folgerichtiger, deter­minierter und subjektiv weniger frei getroffen als irgendwelche x-beliebigen All­tagsentscheidungen (z.B. ein Bier zu trinken). Andererseits kann es auch sein, dass, je mehr subjektive Gründe ich retrospektiv für meine Entscheidung anführen kann, umso selbstbestimmter, umso freier getroffen erscheint sie mir und anderen.
Das von John Searle diagnostizierte Problem der Willensfreiheit, die als Phänomen in kausalen Erklärungslücken zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung sowie Entscheidung und Handlung erscheint, ist nach meiner Überzeugung kein philoso­phisches sondern ein rein psychologisches Thema. Allenfalls kann sich noch die Neu­robiologie damit auseinander setzen. Wie so viele psychische Phänomene erschließt sich das Problem, das die Willensfreiheit für die Philosophie darstellt, aus der Selbs­treferenzialität unseres Denkens: Das Gehirn, ein komplexes nichtlineares System, interpretiert seine eigenen Systemzustände. Der Philosoph nun versucht, über die Welt und damit freilich auch über sich selbst als einem Vertreter der Gattung Mensch von einer möglichst objektiven Position aus nachzudenken. Thomas Nagel hat die­sem Grundwiderspruch allen Philosophierens seine fundamentale Abhandlung „Der Blick von Nirgendwo“14 gewidmet. Von Kurt Gödel und Alan Turing haben wir ge­lernt, dass Selbstreferenzialität unweigerlich zu Widersprüchen führt - so vergleichs­weise einfache Gedankengebäude wie die elementare Arithmetik oder die theoreti­sche Informatik scheitern bei dem Versuch, ihre eigene Schlüssigkeit nachzuweisen, an der Möglichkeit von Selbstreferenzialität. Besteht nicht umso mehr Grund zu der Annahme, dass der Mensch bei dem Versuch scheitern sollte, die Schlüssigkeit seiner eigenen Entscheidungen und Handlungen zu erklären?
Unser, auch psychisch wirksamer Selbsterhaltungstrieb hat sich den freien Willen wohl als Selbstzuschreibung konstruiert. Was schlussendlich nicht heißen soll, dass ich ein Gegner der Willensfreiheit bin. Im Gegenteil, subjektiv bestehe ich darauf, nur denke ich auch, dass diese Kategorie ihren Platz in der Moral- und Rechtsphilosophie hat und zwar genau in dem oben intendierten Sinn der Fähigkeit des Individuums, die Folgen des eigenen Handelns hinreichend prognostizieren und bewerten zu können. In diesem ju­ristischen und meinetwegen auch alltäglichen Kontext hat der Begriff der Willensfrei­heit einen Sinn und eine Berechtigung.

Und was die Eingangsfrage, "Kann man wollen, was man will?" betrifft, ich weiß es nicht, schätze aber, die Antwort lautet: Nein.

1 John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. Suhrkamp 2004
2 wie natürlich auch fremdpsychische Phänomene. Vgl. auch Thomas Nagel. Was bedeutet das alles? Reclam 1984, Kap. 3: Das Fremdpsychische
John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. S. 124
4 ebenda, S. 125
5 ebenda, S. 129
6 ebenda, S. 129f
12 u.a. Roger Penrose. Computerdenken. Spektrum 1991
14 Thomas Nagel. Der Blick von Nirgendwo. Suhrkamp 1992

Donnerstag, 15. November 2012

Viva la Philosophucion!


Heute, am 15. November 2012, ist der Welttag der Philosophie, ausgerufen vor 10 Jahren von der UNESCO. Den Lesern dieser Seite dürfte nicht entgangen sein, dass ich ein durchaus inniges Verhältnis zu dieser, wie Holm Tetens meint, Disziplin „höherer Ordnung“ [1] habe. (Unwillkürlich muss ich bei dieser Formulierung immer an den Film „Das fünfte Element“ denken, in dem Milla Jovovich von sich sagt: „Bin Wesen höherer Ordnung.“) Insofern ist der heutige Tag auch für mich ein Feiertag, und am liebsten würde ich mich auf eine Parkbank setzen und Wittgenstein lesen. Doch wir haben November, und trotz ungewöhnlich starker Sonneneinstrahlung ist dies in hiesigen Breiten nicht der Monat fürs Verweilen auf Parkbänken. Bei der Festsetzung des Datums hatte die UNESCO offenbar nicht berücksichtigt, dass sich, wie wir von Sokrates und den anderen alten Griechen gelernt haben, am besten im Freien philosophieren lässt und dass auf der Nordhalbkugel entschieden mehr philosophiert wird als auf der südlichen Hemisphäre. Aber vielleicht spielte bei der Datumsfestsetzung auch die besondere Rolle der Deutschen in der Geistesgeschichte eine Rolle, denn der November gilt ja gemeinhin als deutscher Schicksalsmonat. Zudem bietet der November gerade in den nördlicheren Breiten  angesichts der üblicherweise vorherrschenden Witterung ausgiebig Gelegenheit zu innerlichem Sinnieren über Sein oder Nichtsein, und manch ein Sinnierer zieht daraus  handfeste Konsequenzen, was in Einzelfällen auch der Bahn und ihren Passagieren Probleme bereiten kann.
Sei´s drum, es ist Feiertag für die UNESCO und für mich dann eben auch. Aber allzu viele Menschen dürften sich darüber hinaus wohl nicht davon angesprochen fühlen. Wie ich kürzlich  hier geschrieben habe, hat die Philosophie als Wissenschaftsdisziplin  nicht gerade Konjunktur – ganz im Widerspruch zu dem von ihren Vertretern beklagten Gebrauch des Begriffs, worauf ich hier aber nicht weiter eingehen möchte. Zur Unsinnigkeit des inflationären Ge- bzw. Missbrauchs des Philosophiebegriffs ist genug gesagt und geschrieben worden. Stattdessen möchte ich darüber plaudern, welche Rolle die Philosophie für mich ganz persönlich spielt und was mich an ihr seit Jahrzehnten fesselt.
Es begann mit der Physik. Ja, ich wollte mal Physiker werden. An der Physik faszinierten mich weniger die putzigen Experimente, die unsere Lehrer uns vorführten, oder, wie man vielleicht aus der Tatsache schließen könnte, dass später eine Art Mathematiker aus mir geworden ist, die Formeln, aus denen man schwuppdiwupp die Weltbewegungen herleiten konnte, nein, mich faszinierten die Großen Fragen nach Raum und Zeit, Materie und Energie, die Fragen danach, woher das alles kommt, wohin es geht und warum es so ist, wie es ist. Ich war ein Träumer, der seine Weltsicht nicht zuletzt aus den Geschichten und Romanen von Stanislaw Lem schöpfte, der über Neutronensterne und Schwarze Löcher las und versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl innerhalb einer Schwarzschildsphäre zugehen mochte.
Den ersten dezidiert philosophischen Disput hatte ich mit unserer Lehrerin im reichlich verrufenen Schulfach Staatsbürgerkunde, in dem uns u.a. auch marxistische Philosophie eingetrichtert wurde. Die Diskussion drehte sich um das Verhältnis von Geist und Materie. Ich stellte die Frage, warum man annehmen sollte, dass der Geist nicht materiell sei. Wenn man Materialist wäre, müsse es doch auch eine materialistische Erklärung für den Geist geben. Nun, Kenner der damaligen Verhältnisse wissen, dass dieser Disput nicht zu meinen Gunsten ausgehen konnte, was mir heute umso merkwürdiger erscheint, als, wie ich jetzt weiß, in jenen 1970er Jahren amerikanische und britische Philosophen verschiedene Theorien ausarbeiteten, deren Ziel gerade die Rückführung geistiger Phänomene auf materielle Ursachen war und die u.a. als reduktionistischer Naturalismus oder Physikalismus bekannt wurden. Unsere (pseudo-)marxistische Schulphilosophie steckte zu der Zeit noch tief im 19. Jahrhundert und war über Ernst Häckels „Welträtsel“ wohl noch nicht hinaus gekommen.
Die Philosophie begleitete mich in den folgenden Jahren sowohl als Studienpflichtfach als auch als private Passion. Dort, wo ich studierte, und das lag um einiges weiter östlich als Frankfurt an der Oder, nahm man es mit der Abgrenzung von „bürgerlicher Ideologie“ nicht so genau, und so las und referierte ich Hegels „Wissenschaft der Logik“ oder Spinozas „Ethik“, lernte Freuds Menschenbild kennen und befasste mich mit Ernst Machs Wissenschaftstheorie. Als Doktoranden hatten wir gar ein einsemestriges Seminar zu belegen, das sich in je vier Wochenstunden mit Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie befasste, und dort ging es beileibe nicht um Marxismus. Es wurde gestritten über philosophischen Konstruktivismus, erkenntnistheoretischen Behaviorismus, Utilitarismus u.d.g.m. Dank Poincare und anderen, über die philosophischen Grundlagen der Mathematik sinnierenden Autoren wurde ich schließlich Platoniker. Das heißt, ich glaubte und glaube es irgendwie bis heute, dass da draußen etwas ist, was unabhängig von uns existiert und harrt, als Formel oder Gleichung entdeckt zu werden.
Daneben entwickelte sich eine Vorliebe für philosophisch angehauchte Literatur, Literatur also, die die Großen Fragen stellt, Fragen nach der Natur des Menschseins, dem Verhältnis von geistiger Produktion zur natürlichen Körperlichkeit, der Identität des Subjekts, aber auch nach der Bestimmung der Menschheit als Gattung. Dazu gehörten vor allem die Werke von Jorge Luis Borges, Max Frisch und Fjodor Dostojewski.
Was mich an der Philosophie fasziniert, sind eben diese Fragestellungen. Es geht nicht um die Antworten, die Fragen sind das Entscheidende. Und es ist die Art, wie die Fragen gestellt werden, wie der Philosoph versucht, sich zunächst dem Kern der Frage zu nähern, sie wie ein Forensiker zu sezieren, von allen denkbaren Seiten zu betrachten, Zusammenhänge aufzudecken und sich langsam und behutsam möglichen Antworten zu nähern. Es ist dieser begehbare intellektuelle Prozess, der für mich die Faszination philosophischer Literatur ausmacht. Selten wird ein Ergebnis präsentiert, nie ein endgültiges Urteil. Gesetze gibt es nur als Werkzeuge, nicht als Wahrheiten. Wie die Mathematik ist die Philosophie eine Art Denksport. Es geht darum, seinen Geist maximal zu beanspruchen, um daraus ein Höchstmaß an intellektueller Befriedigung zu gewinnen. Die Metapher vom Denksport passt auch insofern, als es bspw. großes Vergnügen bereitet, beim Laufen auf der Hausrunde nach 20-30 Minuten den Mindflow anspringen zu lassen und dann genüsslich vor sich hin zu denken, während die Beine sich wie von selbst bewegen.
Ich war immer ein Freund eher essayistischer Philosophie, die ja gerade in Deutschland u.a. mit Peter Sloterdijk voluminös (was sich nicht auf die Person bezieht) und öffentlichkeitswirksam vertreten ist. Zur Faszination des Denkens gehört eben auch die Sprache, denn wir denken nun mal in Sprache. Und die Wirksamkeit eines Gedankens hängt nicht unerheblich an seinem sprachlichen Ausdruck. In letzter Zeit aber hat sich ein Interesse am analytischen Zweig der Philosophie entwickelt, also hin zur akademischen und theoretischen Philosophie, die wohl in Kant ihren Stammvater hatte. Dieses neue Interesse hängt damit zusammen, dass sich inzwischen die Großen Fragen ohne Rückgriff  auf die sprachsezierenden Methoden der analytischen Philosophie nicht einmal mehr sinnvoll stellen lassen.  Das alte Körper-Geist-Problem, mit dem (s.o.) auch bei mir alles begann, ist so eine Fragestellung, die sowohl der analytischen Durchdringung (Was ist Geist?) als auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis (Was ist Körper?) bedarf.  Und manchmal zeigen sich dabei ganz spannende Zusammenhänge.
Gestern z.B. kam mir (beim Laufen) der Gedanke, dass die kommunistische Idee von der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln schon deshalb nicht realisierbar sein könnte, weil dem psycho-philosophische Erkenntnisse widersprechen. Aus den Neuro- und Biowissenschaften weiß man, dass jeder Mensch (wie auch jedes hinreichend entwickelte Lebewesen) über ein Körpermodell verfügt. Unsere Selbstwahrnehmung und folglich unser Selbstbewusstsein basieren auf diesem Körpermodell. Gebraucht man ein Werkzeug, und zwar systematisch und zielgerichtet, dann findet ein Prozess der immer besseren Integration dieses Werkzeugs in das Körpermodell statt. Auf einer neuronalen Ebene wird das Werkzeug schließlich zu einem Teil des Körpermodells und damit auch funktional zu einem Teil des Körpers. Sollte man sich nicht fragen, wie es sein kann, dass man mit einem Fahrrad ziemlich genau auf eine enge Durchfahrt zusteuert und dann auch noch ohne anzuecken durch sie hindurch kommt, oder dass man mit einem 1,5 Tonnen wiegenden Auto ohne Einparkhilfe aus einem fast zugestellten Parkplatz wieder hinaus manövriert? Und das sind nur Alltagsbeispiele, die jeder nachvollziehen kann. Akrobaten und Spitzensportler zeigen, wie  perfekt Körper und Werkzeug zu einer funktionalen und auch mentalen Einheit zusammen wachsen können.
Jeder von uns hat Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Gedanken, ja auch Träume. Und er weiß  oder empfindet es zumindest, dass diese mentalen Phänomene seine eigenen sind. Eigen in dem ganz einfachen Sinn, dass sie privat und nicht öffentlich sind, dass sie mit niemandem geteilt werden müssen. Man kann darüber reden, muss es aber nicht. In der Philosophie gibt es dafür den (nicht wirklich) schönen (und typisch deutschen) Begriff der Meinigkeit [2].  Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Qualia und meint damit die individuelle, zutiefst subjektive Qualität eines mentalen Zustands. Zugegebenermaßen habe ich mich längere Zeit schwer getan, diese Qualia als real zu akzeptieren. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass sich jemand anders selbst anders anfühlt als ich mich selbst anfühle, oder konkret ausgedrückt, dass das Gefühl, ein Paar Langlaufski an den Füßen zu haben, für Petter Northug ein anderes sein könnte als für mich. Doch wenn man Petter Northug so langlaufen sieht, besteht kein Zweifel: Für ihn sind die Bretter definitiv Teil seines Körpermodells geworden und zwar auf eine Weise, die man sich als Außenstehender eben nicht vorstellen kann. 
Wenn es nun in unserer Natur liegt, Werkzeuge in unser Körpermodell zu integrieren und sie uns so anzueignen, wenn es noch dazu unser Bestreben ist, dies immer besser zu tun, und wenn sich in diesem Körpermodell die Meinigkeit des Individuums manifestiert, dann kann von Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln keine Rede mehr sein. Was sind Produktionsmittel anderes als Werkzeuge? Sie müssen ja nicht immer materieller Natur sein. Wie uns die Banker und Anleger zeigen, kann auch Geld ein solches Werkzeug sein, das mental in das eigene Selbstmodell (das Körpermodell ist Teil des Selbstmodells) integriert wird: „Ich bin mein Geld.“ Es ist wohlfeil, von der Natur des Menschen zu sprechen, wenn es um die Begründung der Wettbewerbsökonomie geht. Wenn die Dinge aber so liegen, dass wir nur Mensch sein können, in dem wir uns die Dinge aneignen und sie insofern privatisieren, dass wir sie zu immer integrierteren (meinigeren) Bestandteilen von uns selbst machen (egal ob materiell oder ideell), dann erübrigt sich jede Diskussion um Privateigentum: "Ich bin, was ich mir aneigne." Umgekehrt bleibt mir das fremd, was ich mir nicht aneignen kann, sei es aus Unvermögen oder weil man mich nicht lässt. So gedacht, würde - ganz gegen Marx - eher die kommunistische Idee zur Entfremdung führen.
Heute also ist der Welttag der Philosophie. Und das ist gut so, denn die Philosophie, vielleicht das zweitälteste Gewerbe der Welt, hat diesen Feiertag verdient. Dann wollen wir doch feiern, jeder auf seine (Seinigkeits-)Weise, und mit dem bedeutenden TV-Philosophen Oliver Kalkofe ausrufen: „Stösschen!“[3]



[1] Holm Tetens. Philosophisches Argumentieren: Eine Einführung. C.H.Beck 2010
[2] Thomas Metzinger, Subjekt und Selbstmodell. Mentis 1999
[3] Seinerzeit als Aufmunterung geprostet anlässlich eines misslungenen „Wort zum Sonntag“ am Vorabend des Muttertags.

Donnerstag, 1. November 2012

Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann von Herbert Schnädelbach


Die akademische Philosophie steckt offenbar in einer Krise. Es ist eine Legitimationskrise, der nicht unähnlich, die den institutionalisierten christlichen Glaubensgemeinschaften seit Jahren zu schaffen macht. Es geht dabei um den Verlust an Deutungsmacht und Deutungshoheit, an Wahrheitsanspruch und realitätstauglicher Sinngebung bzw. schlicht um den Verlust an Bedeutung für und Ansehen in der breiten Öffentlichkeit. Diese Diagnose mag bestreiten, wer auf die als philosophisch deklarierte Ratgeber- und Erzählliteratur (Precht, Schmid) verweist oder sich auf die lauten Großdenker (Sloterdijk, Žižek) beruft. Mir allerdings scheint, dass das gehäufte Auftauchen von Erklärungs- und Rechtfertigungsliteratur in einer Wissenschaftsdisziplin ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass ihre Vertreter einen öffentlichen Bedeutungsverlust befürchten bzw. bereits wahrnehmen. Man muss dem Volk erklären, was man tut in seinem (angeblichen) Elfenbeinturm und wozu das gut sein soll. Hier ist nicht der Platz über die Ursachen und Gründe des Bedeutungsverlusts zu räsonieren. Bei den Geisteswissenschaften, zu denen die Philosophie wohl gehört, könnte man u.a. auf den Bologna-Effekt verweisen, sicher aber ist es eine Gemengelage aus vielen politischen, sozialen und auch innerwissenschaftlichen Faktoren.
Zum Genre der Erklärungs- und Rechtfertigungsliteratur gehört in jedem Fall das hier zu besprechende Buch „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“ des emeritierten Professors der Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität Herbert Schnädelbach. Für ein breiteres Publikum hatte sich Schnädelbach vor allem als veritabler Religionskritiker hervorgetan, als er 2000 mit seinem Beitrag „Der Fluch des Christentums“ in der Wochenzeitung Die Zeit zum Auslöser einer öffentlichen Debatte wurde, die er später  mit dem 2009 erschienenen Buch „Religion in der modernen Welt“, voll im Trend (Dawkins & Co.) liegend, weiter beförderte.
Herbert Schnädelbach ist wohl ein Philosoph, der sein Fachgebiet mit heiligem Ernst beackert. Sein Porträtfoto auf dem Schutzumschlag von „Was Philosophen wissen…“ zeigt uns einen Mann, mit dem man - ganz ehrlich - nicht wirklich streiten möchte. 

Herbert Schnädelbach
(c) C.H. Beck

Und so geht es dem Autor in „Was Philosophen wissen...“ darum, der geneigten Leserschaft zu erläutern, dass, anders als noch Kant im „Streit der Fakultäten“ meinte, es zwar viele Philosophen und damit auch viele Philosophien, es aber doch einen knappen Kanon von allgemein akzeptierten und mithin für wahr erachteten grundlegenden philosophischen Tatsachen gäbe, auf den sich alle Philosophen dieser Welt, ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen, einigen könnten.  Wo Thomas Nagel in seinen ähnlich angelegten Betrachtungen „Was bedeutet das alles?“ sich in angelsächsischem Understatement darauf beschränkt, die Probleme zu skizzieren, verschiedene Meinungen zu referieren, um jedes Mal zu dem erfahrungsgemäß sicher sinnvollen Schluss zu kommen, dass es noch viel zu denken gäbe, scheint Schnädelbach, dem Leser gesichertes philosophisches Wissen, um nicht zu sagen philosophische Gewissheit vermitteln zu können.
Dem Autor ist die eingangs erwähnte Rechtfertigungsproblematik der akademischen Philosophie sehr wohl bewusst, und er benennt auch Gründe, wenn er in seiner Einleitung (S.9f) schreibt: „Dass das öffentliche philosophische Interesse und das Interesse an der Philosophie als Fachwissenschaft so weit auseinandergetreten sind, ist darauf zurückzuführen, dass wir in einer wissenschaftlich-technischen Welt leben, in der nur das Gehör findet, was solchen Standards auch genügt. Je stärker die Philosophie bemüht ist, dem zu entsprechen, umso mehr scheint sie dieses öffentliche Gehör gerade zu verlieren – aus Gründen der Verständlichkeit…“ Was in diesen Worten mitschwingt, ist wohl nicht nur ein leichter Hauch von Wehmut  und Nostalgie.
In den folgenden 14 Kapiteln referiert und analysiert Herbert Schnädelbach ausgewählte Problemstellungen der theoretischen Philosophie, wie Sinn und Bedeutung, Subjekt – Objekt, Werte und Normen. In den einzelnen Kapiteln werden zunächst Problembestimmungen und Problemdeutungen vorgenommen, die z.T. auch sprachanalytische Erläuterungen umfassen. Es folgen philosophiehistorische Betrachtungen der Problem- und Erkenntnisevolution, bei denen meist Aristoteles, Hume, Kant und Wittgenstein als stützende Referenzen herhalten. Je nach Betrachtungsgegenstand wird das Kapitel mit einer Diskussion des aktuellen Erkenntnisstandes abgeschlossen, wobei der Autor angibt, was davon gesichertes Wissen ist und dies mit den Worten: „Philosophen können wissen, dass…“ ausdrückt. Schnädelbach ist sich also seiner Sache doch nicht so sicher, wie im Buchtitel behauptet, und das ist gut so. Denn „unser Wissen ist fehlbar“, wie er selbst in der Einleitung (S.14)  betont.
Die Präsentation des Materials und der Darlegungsstil lassen den erfahrenen Hochschullehrer erkennen, wirken mit der immer gleichen Kapitelstruktur aber auf die Dauer etwas ermüdend. Auch wenn Schnädelbach versucht, seiner Darstellung einen propädeutischen Charakter zu verleihen und verständlich zu argumentieren, dem philosophischen Einsteiger ist das Buch nicht unbedingt zu empfehlen. Zu komplex sind die Sachverhalte, zu mäandernd die Argumentationslinien. Auch ist es keineswegs geeignet, der eingangs erwähnten Legitimationskrise der akademischen Philosophie abzuhelfen. Während der Lektüre hat sich bei mir hingegen der Eindruck verfestigt, dass in der deutschen akademischen und theoretischen Philosophie Kant immer noch (oder schon wieder?) das Maß aller Dinge ist. Ob dieser Eindruck hinreichend zu begründen ist, kann ich wegen mangelnder Sachkenntnis nicht beurteilen. Empfehlenswert ist „Was Philosophen wissen…“ für den interessierten und kundigen Leser allemal und trotzdem. Er sollte allerdings bereit sein, Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit zu investieren.
Abschließend sei erwähnt, dass Herbert Schnädelbach für sein Buch den diesjährigen Essay-Preis "Tractatus" des Philosophicum Lech erhalten hat.

Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann. C.H. Beck, 2012

Donnerstag, 11. Oktober 2012

Unter uns?

In der altägyptischen Religion mussten die Götter durch immer wieder kehrende, zyklische Rituale nicht nur gnädig gestimmt, sondern geradezu dazu bewegt werden, da zu bleiben.[1] Man befürchtete, bei Vernachlässigung der Rituale könnten die Götter die Welt der Menschen verlassen. Dieser Glaube ging so weit, dass die ägyptischen Priester meinten, mit ihren Verrichtungen den Tag-Nacht-Zyklus in Gang zu halten.
Mit dem Monotheismus des abrahamitischen und später des mosaischen Bundes stellte sich der Mensch außerhalb der Natur und gewissermaßen auch außerhalb seiner eigenen Natur. Im Bund hat sich Gott dazu verpflichtet immer da zu sein. Ohne Wenn und Aber hat er sich an Abraham und damit an die Menschheit gebunden. Gott kümmert sich - mal strafend, mal verzeihend, mal belohnend, aber er verschwindet nicht. Egal was der Mensch tut, Gott ist immer da. Er kann aber nur da bleiben, weil er sich unabhängig gemacht, sich externalisiert hat. Auch wenn manch alttestamentarischer Prophet oder Psalmverfasser seine Gottverlassenheit beklagen mochte, war er doch überzeugt, dass Gott die Klage hört, also nicht wirklich verschwunden sein konnte. Im Bund hat sich Gott verpflichtet, da zu sein und da zu bleiben, sich nicht zurück zu ziehen und uns zu ertragen, wie wir ihn ertragen.
In der Gestalt Jesu kommt Gott zu uns. Er will die Menschen nicht länger von oben herab behandeln wie ein paternalistischer Hausvorstand seine Kinder, sondern will sie zu sich hinauf ziehen. Deshalb muss Jesus beides sein – Mensch und Gott. Für einen historischen Moment ist Gott mehr als nur da, er wirkt direkt unter den Menschen. Bei Paulus jedoch wird Gott wieder externalisiert. Nach seinem Gang durchs Kreuz wähnen wir ihn zwar wieder unter uns, doch sind nun wir nicht mehr bei ihm. Und nur wegen dieser Externalisierung konnte Nietzsche Gott für tot erklären.
So lange Gott externalisiert ist, bleibt auch die Schöpfung externalisiert. So lange bleibt die Natur uns fremd, und auch wir selbst bleiben uns fremd.  Uns wieder in die volle Verantwortung für die Dinge da draußen zu setzen, das könnte, vielleicht eher als der strenge Gott-Mensch-Dualismus, eine Grundhaltung, wie sie die alten Ägypter hatten. Also das Bewusstsein dafür und der Glaube daran, dass der Mensch mit seinem Tun den Weltenlauf in Gang hält und dafür sorgt, dass die Götter nicht verschwinden. Vielleicht gediehe der ökologische Gedanke ja besser auf dem Boden eines archaischen Poly- oder Pantheismus? Denn wo bliebe Gott, wenn wir uns und die Welt zerstört hätten?




[1] Jan Assmann. Ägypten: Eine Sinngeschichte. Fischer 2005

Montag, 17. September 2012

Geld, Geld, noch mehr Geld


Meine Güte! Ist das ein Medien- und Volksseelenbohei! Der ESM ist grundsätzlich rechtens, und die EZB wird (höchstwahrscheinlich) auch nach deutschem Recht machen können, was sie will. Am meisten bringen mich ja die Vertreter zum Schmunzeln, deren Denk- und Verständnishorizont maximal bis zur Kreditbürgschaft der Kreissparkasse Osterholz für den örtlichen Bauunternehmer zwecks Vorfinanzierung einer Fassadensanierung reicht. Die Kanzlerin hat es ja vorgemacht mit ihrem Insistieren auf den Tugenden der schwäbischen Hausfrau.
Aber anscheinend verstehen viele, auch aus Politik und Medien, die Euro-Problematik wirklich nur auf diesem Niveau.  Anders ist mir jedenfalls nicht erklärlich, warum z.B. das Thema der angeblichen Haftungssummen im ESM oder das der Inflationsgefahren durch den Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB so hoch gehängt wird. Versuchen wir (zum wievielten Mal eigentlich?), die Problematik von ganz vorn und ganz unten aufzurollen.
Beginnen wir mit dem Geld. Für Otto Normalbürger, wozu i.Ü. auch die meisten Politiker und Journalisten gehören, ist Geld ausschließlich Zahlungsmittel – er bekommt es monatlich aufs Girokonto und begleicht damit, nach Abzug von Steuern und Abgaben natürlich, seinen Lebensunterhalt, d.h. er konsumiert. Bleibt am Ende des Monats auf dem Konto etwas übrig, legt er es beiseite, für schlechte Tage z.B. So ist der Deutsche: Er spart, wenn es denn irgend geht, wobei es egal ist, ob er das mit Sparbuch, Bausparvertrag, Kapitallebensversicherung, Riestervertrag oder Investmentfond macht. Otto Normalbürger ist kein Spekulant, er denkt nur gern an Morgen oder Übermorgen – da ist er ganz schwäbische Hausfrau. Sein Geld bleibt für ihn Zahlungsmittel, auch wenn er es erst in ferner Zukunft oder vielleicht überhaupt nicht auszugeben gedenkt. Gespart wird natürlich nicht im Sparstrumpf unter der Matratze, für die Aufbewahrung des Ersparten ist die Bank resp. Sparkasse zuständig. Ihr vertraut Otto sein sauer verdientes Geld an, und sie soll gefälligst dafür sorgen, dass es nicht wegkommt und sich dabei möglichst noch vermehrt. Dafür sind Banken schließlich da, und wie sie das bewerkstelligen, ist ihm gemeinhin herzlich wurscht. Kurzum, Otto erwartet, dass sein Geld bei der Bank mindestens seinen Wert behält. Aber was erwartet Otto da eigentlich? Was ist der Wert des Geldes oder auch nur seines Geldes?
Früher war natürlich alles einfach und eindeutig. Da gab es den Goldstandard der Reichsbank oder der Federal Reserve Bank (Fed), und der Wert einer Reichsmark oder eines Dollars bemaß sich daran, welche Menge Gold man dafür kaufen konnte. Abgesehen von den Zeiten der Großen Depression, hielt dieses System eine ganze Weile, einschließlich der Weltwährungsordnung der Nachkriegszeit von Bretton Woods. Da aber der Unternehmer zum Unternehmen stets mehr Geld benötigt, als gerade vorhanden ist (denn die Wirtschaft soll ja wachsen, damit sich auch Ottos Geld vermehrt), gab es irgendwann nicht mehr genug Gold, um einer Mark oder einem Dollar noch einen sinnvollen Wert zuzuteilen, wohl gemerkt jeder Mark und jedem Dollar, die als Zahlungsmittel genutzt werden sollen. Wir reden hier schließlich von dem, was für Otto Geld ist und was bei den Banken Sichteinlage heißt. Dies geschah in den 1960er Jahren und wurde 1971 offiziell vom damaligen US-Präsidenten Richard Nixon verkündigt..  Also stieg man um vom Gold aufs Öl.  Öl ist ein wichtiger, manch einer sagt sogar der wichtigste Rohstoff der kapitalistischen Wirtschaft. Vor Jahrhunderten wurden Kriege ums Gold geführt, dem entsprechend glänzten auch die Schwerter und Rüstungen. Bei den modernen Kriegen geht es meist ums Öl, so wird denn in denen auch megatonnenweise Benzin und Kerosin in verdreckten Kriegsmaschinen verbrannt. Der Wert einer Mark oder eines Dollars bemaß sich also fortan an der Menge Rohöl, die man dafür kaufen konnte, inoffiziell natürlich, d.h. anders als beim Gold wurde ein solcher Zusammenhang nie dekretiert. Da Öl weltweit aber praktisch nur in Dollar gehandelt wird, bemaß sich der Wert einer Mark unversehens nur noch an der Menge Dollars, die man dafür kaufen konnte. Allen anderen europäischen, asiatischen, lateinamerikanischen Währungen ergeht es genau so, ihr Wert bemisst sich am Kurs gegenüber dem Dollar, so dass auch der Euro diesen, eigentlich ja Bretton-Woods-Geburtsfehler seiner Elternwährungen übernommen hat. (Manch einer behauptet gar, dass der Irak-Krieg deshalb geführt wurde, weil Saddam Hussein angekündigt hätte, die irakischen Ölverkäufe auf dem Weltmarkt in Euro zu fakturieren.) Seit geraumer Zeit nun, scheint auch das Öl knapp zu werden, zumindest nimmt die weltweite Fördermenge nicht mehr signifikant zu, so dass der unternehmende Unternehmer und mit ihm Otto Normalbürger irgendwann vor dem gleichen Problem standen wie zig Jahre zuvor: Die Wirtschaft sollte wachsen, es sollte investiert und konsumiert werden, doch das dafür nötige Geld reichte wiederum nicht aus, da es mit der relativ stabilen Ölfördermenge korrelieren sollte. Hinzu kam, dass das Öl gegenüber dem Gold einen gravierenden Nachteil hat: Es wird verbraucht und eignet sich somit nicht als Reserve. Das CO2 und die anderen Verbrennungsrückstände beim Ölverbrauch sind als Währungsäquivalent denkbar ungeeignet und meist völlig wertlos. Man erinnerte sich nun daran, dass es in den alltäglichen Finanzgeschäften ja gar nicht das Öl war, an dem man die Preise und den Wert des Geldes bemessen hatte, sondern der Dollar. Warum dann also nicht gleich den Dollar zum einheitlichen Wertmaßstab, zum Eichmaß des Geldes machen?
Woran bemisst sich nun aber der Wert des Dollars? An nichts: Ein Dollar ist ein Dollar ist ein Dollar. Es gibt keine Dollarability, wie Idlewild [1] vielleicht singen würden, anhand der festzustellen wäre, welchem leidlich unabhängigen Äquivalent genau ein Dollar entspricht. Der Dollar und all die anderen Währungen sind einfach ungedeckt, ihr Wert bemisst sich ausschließlich gegeneinander, und das heißt dann schlichtweg, dass ein Dollar genau einen Dollar wert ist. Oder drastischer ausgedrückt: Für sich genommen ist ein Dollar gar nichts wert. Damit erklären sich auch die riesigen Geldmengen, die seit den 1970er Jahren weltweit in Umlauf gekommen sind: Wenn das Wertäquivalent des Dollars der Dollar selbst ist und alle anderen Währungen ihren Wert am Dollar messen, dann ist es völlig gleichgültig, wie viele Dollars zirkulieren. Für die kapitalistische Wachstumslogik ist nur wichtig, dass jeder der Dollars braucht, sie auch zu erträglichen Konditionen bekommt. Und wenn die Wirtschaftslage einmal so ist, dass keiner rechte Lust zum Investieren hat, weil die Gewinnaussichten nicht rosig genug erscheinen, dann werden billig Dollars in die Welt gepustet, nur um wie beim ordinären Schlussverkauf Anreize zum unvernünftigen Geldausgeben zu schaffen – Jetzt zugreifen! Zwei zum Preis von einem!
Nun werden Dollars und die anderen Währungen nicht einfach gedruckt, wie uns die eingangs erwähnten Interpreten der Finanzpolitik nach schwäbischer Hausfrauenart erzählen möchten, auch nicht von der Fed oder der EZB. Wer Geld braucht, muss zur Geschäftsbank oder Sparkasse gehen und sich dort einen Kredit geben lassen. Den lässt die Bank sich mit Zins bezahlen und holt das für die Sichteinlage benötigte Geld von der Zentralbank. Wie das alles genau von statten geht, kann man sehr schön bei der Bundesbank nachlesen, die vor Jahren (als Axel Weber noch ihr Chef war) eine Informationsbroschüre für Schüler aufgelegt hat. Ab Seite 67 erfährt man dort, wie Geschäftsbanken und Zentralbank unser Geld produzieren.
Was aber hat das mit den Erwartungen von Otto Normalbürger zu tun? Nun, wenn Otto vom Werterhalt seines Geldes spricht, meint er etwas völlig anderes als die Europäische Zentralbank. Ihm geht es darum, dass er sich in Zukunft für sein der Bank überlassenes Geld mindestens das Gleiche kaufen kann wie heute, für ihn bedeutet Geldwertstabilität ganz praktisch Preisstabilität bzw. stabil bleibende Kaufkraft. Für die EZB hingegen bedeutet Geldwertstabilität, dass das Wertverhältnis des Euro zum Dollar stabil bleibt, ihr geht es um einen stabilen Wechselkurs. Für die EZB zählt nur der Wert des Geldes, sie hat keinen politischen Auftrag und muss sich nicht um die Kaufkraftrelationen in den einzelnen Euro-Mitgliedsländern kümmern, das ist Aufgabe der Fiskal- und nicht der Geldpolitik. Wäre es anders, wir hätten wohl keine Kaufkraftunterschiede in der Eurozone. Den Geldwert des Euro stabil zu halten, heißt für die EZB aber nicht nur, dafür zu sorgen, dass der Euro gegenüber dem Dollar nicht abgewertet wird, sondern auch, dass der Euro nicht zu stark wird, denn das würde unserer Wirtschaft ebenso schaden, besonders der Exportwirtschaft (Automobile, Flugzeuge, Maschinenbau, Rüstung etc.) und gerade in Zeiten, wo sich Asien und Lateinamerika als Wachstumsregionen erweisen, während die Wirtschaft im Euroraum seit 2008 eher auf der Stelle tritt. Die Situation ist jedoch die, dass die Amerikaner selbst wirtschaftliche Probleme haben und die Fed deshalb billig Dollar in die Welt pustet. Das nennt sich im Jargon „Bereitstellen von Liquidität“. Kann die Fed ja auch machen, denn wie wir gesehen haben, ist der Dollar für sich genommen, rein theoretisch also, nichts wert und sein praktischer Wert ergibt sich einzig aus seiner Rolle als „Schmiermittel“ der Weltökonomie über die Fakturierung z.B. der Ölgeschäfte. Wenn also die Fed die „Liquiditätsschleusen“ öffnet, ist die EZB gezwungen nachzuziehen, das heißt, sie muss Dollar kaufen, um ihrem Auftrag der Sicherung der Geldwertstabilität nachzukommen. Die Dollars kauft sie natürlich mit Euros, die sie mit ebenso billigen Krediten an die europäischen Geschäftsbanken in Umlauf bringt. Eine erhöhte Dollarliquidität bei den Geschäftsbanken muss von der EZB durch teilweisen Austausch der liquiden Dollars gegen liquide Euros und nachfolgender vorübergehender „Stilllegung“ der gekauften Dollars bei der EZB ausgeglichen werden [2]. Wenn Mario Draghi in den letzten gut zwölf Monaten mehrfach mehrere hundert Milliarden Euro auf den Markt geworfen hat, dann aus diesem Grund, und es fiel ihm nicht schwer, denn diese Aktionen entsprachen voll  und ganz dem EZB-Auftrag. Die Schweizer, denen das Bankgeheimnis bekanntermaßen fast heilig ist, machen aus diesen Zusammenhängen weniger Hehl als die Euro-Europäer – ihre Zentralbank erklärte ganz offen, einer zu starken Aufwertung des Franken mit Euro-Aufkäufen entgegen zu wirken. Auch die Amerikaner gehen sehr offen mit dem Thema um, wenn etwa Ben Bernanke oder Timothy Geithner die Europäer in schöner Regelmäßigkeit auffordern, in die monetären Puschen zu kommen. Wie sich gerade zeigt, funktioniert dieser Zusammenhang auch in der entgegengesetzten Richtung: Nachdem kürzlich die EZB ihre Absicht vermeldet hatte, nötigenfalls uneingeschränkt Anleihen der Eurokrisenstaaten aufzukaufen, verkündete nun Ben Bernanke, dass die Fed praktisch Gleiches mit amerikanischen Staatsanleihen vorhabe.
Hat das etwas mit Inflation im Sinne von massiver Geldentwertung zu tun? Ich denke nicht, denn auf die Kaufkraft von Otto Normalbürger hat das alles überhaupt keinen Einfluss. Was im Zusammenhang mit der Bindung an den Dollar Einfluss hat, sind die steigenden Energie- und Rohstoffpreise, die Spekulationen an den Warenterminbörsen oder die kontinuierlich steigenden Prämien für Versicherungen. Und so vermeldet denn auch das Statistische Bundesamt, dass die Preissteigerungen der letzten Jahre ganz vornehmlich von den steigenden Sprit- und Heizölpreisen herrühren. Mit der Menge des umlaufenden Geldes (Geldmenge M2) hat das wenig bis gar nichts zu tun. Zu beobachten ist vielmehr ein Prozess, den manche als Biflation bezeichnen – gleichzeitig Inflation und Deflation in unterschiedlichen Wirtschafts- und Konsumsektoren, und im Spiel ist dabei wohl mehr Psychologie als Ökonomie.
Wenn nun weder Dollar noch Euro noch Yen oder Yüan irgendeinen Wert außerhalb des reinen Konsums oder der finanzwirtschaftlichen Zirkulation besitzen, worin, so sollte man wohl fragen, besteht dann die Euro-Krise? Ich glaube, das ganze Gerede von der Krise des Euro als gemeinsamer Währung eines Wirtschaftsraums ist nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver der globalen Finanzindustrie, deren vorrangiges Interesse darin besteht, das „Business as usual“ der Jahrzehnte vor dem Lehman-Zusammenbruch so lange wie nur möglich aufrecht zu erhalten. Die Politik, aus deren Reihen sich nach 2008 wohl einige ernsthaft daran gemacht hatten, das „Casino“ auszuräuchern, soll so auf einen, aus Sicht der Finanzmarktakteure, Nebenkriegsschauplatz geschickt werden, der sie langfristig bindet und auf dem sie sich nicht sonderlich auskennt, weshalb sie dort auf die Fachkompetenz eben jener Finanzexperten angewiesen ist, die den Schlamassel maßgeblich verursachten. Womit wir es aber zu tun haben, ist m.E. eine ganz normale kapitalistische Wirtschaftskrise aus Überproduktion und Absatzschwäche - die erste seit der Euroeinführung, und aufgrund mehrerer Faktoren kann sie nicht mehr mit den klassischen fiskalpolitischen Instrumenten bearbeitet werden.
Zum einen gibt es in der Eurozone faktisch keine nationalstaatlich organisierte Ökonomie mehr. Was vormals Import/Export hieß, ist dort nun nicht von Handel und Wandel innerhalb eines Staates zu unterscheiden. Das aber bedeutet, dass klassische nationalstaatliche Fiskal-und Konjunkturpolitik auf Eurozonenebene schlichtweg verpufft. Das ist hierzulande bislang nur nicht aufgefallen, weil Deutschland ca. ein Viertel der Eurozone ausmacht. Bei den kleineren Euro-Ländern ist dies jedoch offensichtlich. Genauso ergeht es staatlichen Konjunkturprogrammen, die sich wegen der hohen Staatsverschuldung eh keiner mehr leisten will oder kann. Erst recht nicht, wenn, wie z.B. im Fall Nokia oder in der Solarbranche, die Fördergelder und Steuervorteile zwar gern mitgenommen werden, eine langfristige Wachstumswirkung aber ausbleibt und die „geschmierten“ Unternehmen einfach abwandern oder billig nach Fernost veräußert werden.
Zum anderen gibt es seit der letzten Krise, der New Economy Krise der Jahrtausendwende, für das frei flottierende Finanzkapital keine wirklich lukrativen Anlagemöglichkeiten mehr in der Realwirtschaft. Selbst die ehedem gehypte Internetwirtschaft wirft zu wenig Profit ab, um kurzfristig interessierte Investoren anzulocken, wie zuletzt der Fall Facebook gezeigt hat. Das marxsche Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate schlägt voll durch. Die letzten Profitmaximierungsreserven wurden in der deutschen Wirtschaft in den nuller Jahren mit Arbeitsmarktflexibilisierung, Niedriglohnsektor und Rückgang der inflationsbereinigten Nettoeinkommen bereits ausgeschöpft. Die amerikanische Immobilienblase und der spanische Bauboom waren vielleicht die letzten Versuche dieser Staaten, Kapital in die Realwirtschaft zu locken.
Mir scheint, wir erleben eine Art Krieg zwischen zwei Fraktionen des globalisierten Kapitals – Produktivkapital vs. Finanzkapital. Das Finanzkapital sucht nach sinnigen Möglichkeiten der Geldvermehrung, findet sie aber fast nur noch in Spekulationsgeschäften. Damit kommt es dem Produktivkapital ständig in die Quere, weil dieses natürlicherweise kein Interesse an andauernden Preisschwankungen für Energie, Rohstoffe, Nahrungsmittel usw. hat. Aufgabe des Staates bzw. der Staaten wäre, diesen Konflikt, den man auch als Auseinandersetzung zwischen den eigentlichen Kapitalproduzenten und den Kapitalverwertern bzw. Kapitalkonsumenten ansehen könnte und den es immer gegeben hat, seit es kapitalistisches Wirtschaften gibt, einzuhegen und zu regulieren. Das Fatale ist nur, dass der Staat genau das nicht mehr kann, denn durch die Verschuldung an den Kapitalmärkten hat er sich in die Abhängigkeit vom Finanzkapital begeben und ist inzwischen selbst zum Spekulationsobjekt geworden.
Ich bin kein Anhänger von Verschwörungstheorien, doch dass es im politischen Raum Interessenverflechtungen mit den genannten Kapitalfraktionen gibt, ist sicher nicht zu leugnen. Den Fraktionen lassen sich offenbar jeweils ganze Staatengruppen zuordnen, die deren Interessen mehr oder weniger offen vertreten. Das Produktivkapital wird eindeutig von der Mehrheit der Euro-Länder, allen voran Deutschland, sowie den Exportnationen China und Japan vertreten, wohingegen das Finanzkapital seine Unterstützer in den USA und Großbritannien findet. Wenn es stimmt, dass EZB-Präsident Mario Draghi ein ehemaliger Goldman-Sachs-Mann ist, dann wäre zu fragen, auf wessen Seite er in diesem Konflikt steht. Egal wie, beiden staatlichen Seiten fällt in dieser Krise jedenfalls bislang nichts weiter ein, als die Welt mit Geld zuzuschütten, um das große Rad weiter in Bewegung zu halten. Ganz so wie einst Hafferloher, aka Mario Adorf, in der wunderbaren Serie „Kir Royal“: „Ich scheiß dich so was von zu mit meinem Geld, dass du keine ruhige Minute mehr hast.“



[1] Idlewild. Roseability auf 100 Broken Windows. Parlophone 2000
[2] Diese vorübergehend stillgelegten Dollars könnte die EZB i.Ü. zum Aufkauf von Staatsanleihen verwenden, und vielleicht tut sie das auch.

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...