Sonntag, 17. Mai 2020

Das Versagen des Utilitarismus in der Pandemiekrise


Richard Rorty schreibt an einer Stelle, dass allgemeine ethische Prinzipien, also Letztbegründungen des Guten, wie Kants kategorischer Imperativ, nur dafür gedacht sind, in Notfällen zum Einsatz zu kommen, in Situationen also, „in denen, es Gründe gibt, bisher unbezweifelte moralische Gemeinplätze zu beanstanden oder in denen wir völlig neuen Problemen gegenüberstehen.“ Nach dieser Ansicht verfügt unser gewöhnlicher, unreflektierter Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen, um in der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial kompetent zu handeln, ohne dabei auf ein allgemeines und daher abstraktes moralisches Prinzip zurückgreifen zu müssen.
Der aktuelle Corona-Ausnahmezustand ist ohne Frage solch ein Notfall, für dessen Bewältigung unsere gewohnten Alltagsroutinen nicht ausreichen. Ungeachtet der Vorgaben und Empfehlungen von Politik und Wissenschaft muss jeder einzelne für sich Entscheidungen über sein Verhalten in der Öffentlichkeit treffen, die das Leben vor Corona ihm nicht abverlangt hatte: Abstand halten? Mund-Nasen-Schutz tragen? Freunde treffen? ÖPNV oder Bahn benutzen? Gemeinsam Sport treiben? Wieder arbeiten gehen? Die Antworten auf derartige Fragen sind schon deshalb moralische Entscheidungen, weil die sich daraus ergebenden Folgen nicht primär uns selbst betreffen, sondern zuvörderst die anderen. Dass einige das nicht so sehen und für sich das Recht beanspruchen, durch unangemessenes Verhalten andere zu gefährden, zeigt nur, dass es bei den Betreffenden nicht so weit her ist mit Klugheit, Anstand und sozialer Kompetenz. Die Erinnerung an allgemeine moralische Prinzipien wäre hier durchaus angebracht, wenn man nicht ahnte, dass dies einigermaßen fruchtlos bliebe. Zivilisierte Verachtung (Carlo Strenger) ist daher wohl die angemessene Reaktion auf diese Zeitgenossen.
In einer anderen, verschärften Situation befinden sich die Beschäftigten der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die direkt mit den an Covid-19 Erkrankten konfrontiert sind, aber auch und vor allem die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Sie bestimmen wesentlich, nach welchen moralischen Prinzipien konkrete Entscheidungen etwa zur Behandlung von Covid-19-Patienten oder zum Schutz von Beschäftigten getroffen werden. In Deutschland wird dann sehr schnell Artikel 1 des Grundgesetzes gezogen, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieser sehr schöne, mit Ewigkeitsgarantie versehene Artikel 1 gibt nun allerdings keinerlei praktische Richtschnur für das Handeln in konkreten Notsituationen. Entspricht eine lang anhaltende apparatemedizinische Behandlung an der Beatmungsmaschine mit möglichen schweren organischen Folgeschäden eher meiner Menschenwürde als eine palliativmedizinische mit gesittetem Ableben? Entspricht der Schutz meines und des Lebens anderer durch monatelange soziale Isolation eher meiner Menschenwürde als die bewusste Übernahme des Infektionsrisikos durch maximales Ausnutzen der Lockerungsoptionen?
Von den zur Verfügung stehenden ethischen Theorien bzw. Konzepten, die grundlegende moralische Prinzipien im Angebot haben, kommen für die hier verhandelten Fragen nur der Utilitarismus und die kantische Ethik des Kategorischen Imperativs in Betracht. Tugendethik (Aristoteles) und Diskursethik (Habermas) sind dafür offensichtlich untauglich, die Mitleidsethik (Schopenhauer) kann auf die Christliche Ethik zurückgeführt werden, die hingegen, weil sie auf eine nicht mehr durchgängig akzeptierte außermenschliche Quelle unserer Moralvorstellungen rekurriert, keine breite Anerkennung mehr findet, auch wenn der derzeitige Vorsitzende des deutschen Ethikrates ein Theologe ist. Es zeigt sich nun aber, dass der Utilitarismus in der Pandemiekrise auf ganzer Linie versagt, weil die Anwendung seiner Grundprinzipien die Gefahr birgt, dass die Krise zur Katastrophe eskaliert.
Zur Erinnerung: Der Kategorische Imperativ als Grundprinzip der kantischen Ethik lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ So in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785. Im selben Text gibt Kant dem Kategorischen Imperativ eine zweite Formulierung, die für meine Zwecke besser geeignet ist: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Ernst Tugendhat hat die zweite Formulierung in die Kurzfassung „Instrumentalisiere niemanden!“ gegossen und deshalb Kants ethisches Konzept als Moral der universellen Achtung bezeichnet.
Sind beim Kategorischen Imperativ die Handlungsabsichten der Maßstab der Bewertung einer Handlung, so sind es beim Grundprinzip des Utilitarismus die Handlungsfolgen. Die ursprüngliche Formulierung des utilitaristischen Grundprinzips findet sich bereits 1725 im „Inquiry into the Original of Our Ideas of Virtue or moral Good“ des schottischen Aufklärers Francis Hutcheson. Sie lautet: „Diejenige Haltung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ Jeremy Bentham hat diesen Gedanken später weiterentwickelt, auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen und durch das egalitaristische Prinzip „Jeder zählt als einer und keiner für mehr als einen.“ ergänzt. Häufig wird den Vertretern des Utilitarismus ein banales Nützlichkeitsdenken unterstellt. Dieser Vorwurf hat gewiss seine Berechtigung, verkennt aber, dass es dessen aufgeklärten Vätern keineswegs nur um das Erreichen materiellen Wohlstandes ging, sondern generell um die Verfolgung von Interessen - nicht nur individuellen - bis hin zum, wie auch immer zu bestimmenden Allgemeinwohl der ganzen Menschheit. In der Praxis begegnen uns utilitaristische Argumente jedoch meist als reine Kosten-Nutzen-Abwägungen, bei denen die grundsätzliche Schwäche dieses ethischen Konzepts ganz offen zu Tage tritt – die Nichtberücksichtigung von individuellen und gruppenbezogenen Rechten. So gilt denn der Utilitarismus nicht zu Unrecht als die Moral des nutzenmaximierenden Homo oeconomicus.
Eine sehr einflussreiche Spielart des Utilitarismus, der Präferenz-Utilitarismus, wird von dem vor allem als Tier-Ethiker bekannten australischen Philosophen Peter Singer vertreten. Demnach ist eine Handlung dann als gut anzusehen, wenn ihre Auswirkungen den Interessen (Präferenzen) aller davon betroffenen Wesen entsprechen, wobei der Begriff „Wesen“ ausdrücklich auch Tiere umfasst. Peter Singer nun verglich dieser Tage die Zahl der bisherigen Corona-Toten in den USA mit der Zahl der im Vietnam-Krieg gefallenen amerikanischen Soldaten (3Sat Kulturzeit, ab Minute 5:10). Diese hätten, so Singer, mindestens 40 Jahre ihres Lebens verloren, wohingegen die Corona-Toten meist über 65 seien. Die Älteren sollten sich deshalb fragen, ob sie sich nicht für die jüngeren Generationen opfern sollten, weil sonst die Kosten für diese zu hoch wären. Geschickt kleidet Singer seine Aufforderung zum Opfertod älterer Menschen in die rhetorische Figur der individuellen Überlegung in der ersten Person plural und suggeriert, dass dieses Opfer ein gemeinschaftliches Handeln der Älteren zum Wohle der Jüngeren wäre. Weniger geschliffen, dafür um so offenherziger hatte sich hierzulande Boris Palmer in ähnlicher Weise geäußert, als er wie beiläufig anmerkte, wir würden gerade Menschen retten, die in ein paar Monaten eh sterben würden.
Palmers und Singers Überlegungen haben m. E. nur sehr entfernt mit dem medizinethischen Problem der Triage zu tun. Die Triage ist eine akute Einzelfallentscheidung von Ärzten über die Behandlung oder Nichtbehandlung von Patienten bei vorliegendem Ressourcenmangel. Mit der Aufforderung zur Opferung der Älteren wird hingegen die Vorselektion einer ganzen Bevölkerungsgruppe vorgeschlagen und damit gerechtfertigt, dass dies im (materiellen) Interesse der Gesellschaft läge. Ganz im Sinne des utilitaristischen Prinzips wird damit eine moralische Frage zu einer ökonomischen quantifiziert. Mehr noch, die Rede vom (freiwilligen oder unfreiwilligen) Opfer führt zurück zu einem vormodernen, voraufklärerischen Menschen- und Gesellschaftsbild, wonach eben das Individuum Opfer für die Gemeinschaft zu bringen bereit sein müsse und auch die Gemeinschaft, um sich zu erhalten, des Opfers bedarf. Einige müssen geopfert werden, damit die vielen leben können bzw. so leben können, wie sie sich das erstreben. Bedenkt man die beiden Weltkriege und die anderen politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wird deutlich, dass der Opfermythos bis weit in die jüngere Geschichte wirksam war und für die Rechtfertigung der größten Menschheitsverbrechen von Entkulakisierung und GULag über Holocaust und Kulturrevolution bis hin zu Pol Pot instrumentalisiert wurde. Indem Peter Singer sich bei der Rechtfertigung seines Aufrufs zur Selbstopferung auf die im Vietnamkrieg gefallenen US-Soldaten beruft, macht er ganz nebenbei auch diese zu Opfern, allerdings nicht zu Opfern der amerikanischen Interventionspolitik, sondern zu Opfern für eine höhere Sache, welche immer das auch gewesen sein mag.
Der Utilitarismus versagt aber genauso an anderer Stelle. In der Corona-Pandemie sieht es bislang danach aus, dass gerade Großbritannien, das Mutterland des Utilitarismus und sein vormaliger Ableger, die USA, und damit die Heimatländer des ursprünglichen Laissez-faire-Kapitalismus wie auch von dessen neoliberaler Revitalisierung seit den 1970er Jahren (Thatcher, Reagan) die Krise um einiges schlechter bewältigen als die Länder, in denen andere Moralkonzepte vorherrschend sind. Gerade zu Beginn der Infektionswelle agierten Boris Johnson und Donald Trump offenkundig utilitaristisch, indem sie zunächst voll auf die Erreichung der Herdenimmunität setzten. Ziel war es, das normale Wirtschaftsleben so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Wie die aktuellen Zahlen zeigen, ist dieser Ansatz gehörig misslungen, denn nicht nur bei den Zahlen der Infizierten und der Toten stehen die beiden Länder weltweit an der Spitze, sondern auch bei den negativen Folgen für die eigene Wirtschaft. Für die USA wird ein Einbruch von 30% prognostiziert, für UK von 14%, beide Zahlen liegen weit über der Prognose von 7 bis 8% für die deutsche Wirtschaft. Hier zeigt sich offenkundig, dass rein utilitaristisches Denken und Handeln, das die Belange der Wirtschaft vor die Belange der Menschen stellt, selbst desaströse Folgen für die Wirtschaft haben kann.
Im Zuge der globalen Ausbreitung des Neo-Liberalismus in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch das utilitaristische Denken global verbreitet. Die Privatisierung des Gesundheitswesens und der Pflege sowie die staatlicherseits falsch gesetzten Ökonomisierungsanreize in diesen Bereichen (Stichwort: Lieber teure und schnelle Operationen als nachhaltige Behandlung.) haben zu jenem Mangel an Vorsorge, Personal und medizinischen Ressourcen geführt, der zu Beginn der Pandemie in einigen Ländern die Todesfallzahlen extrem schnell steigen ließ und uns katastrophale Bilder aus Italien und Frankreich bescherte. Der Bürgermeister der italienischen Stadt Bergamo bestätigte dies kürzlich in einem Interview beim Sender n-tv. Er räumte dort ein, das Virus völlig unterschätzt zu haben. Noch am 19. Februar habe er sich in Mailand das Spiel „Atlanta Bergamo gegen SC Valencia“ angeschaut – zusammen mit 45.000 Fußballfans. Aus Sorge um die Arbeitsplätze hätte er davor zurückgeschreckt, das öffentliche Leben lahmzulegen. Umso erschrockener sei er gewesen, als sich die Krankenhäuser rasend schnell mit Schwerkranken füllten“ und selbst zu Virenschleudern wurden.
Der Utilitarismus“, schreibt Ernst Tugendhat, „ist die Ideologie des Kapitalismus, denn er erlaubt es, das Wachstum der Ökonomie als solches ohne Rücksicht auf Verteilungsfragen moralisch zu rechtfertigen.“ (Vorlesungen über Ethik) Und ich würde hinzufügen, auch ohne Rücksicht auf das Leben jener, die das Wachstum erwirtschaften.

Sonntag, 29. März 2020

Covid-19 und dann?


Gedanken im Anschluss an Samuel Scheffler

Die Fakten sahen besser aus, als es der Wirklichkeit entsprach.
Otmar Issing
Große Zeit ist immer dann, wenn´s beinahe schiefgeht.
Theodor Fontane
Das Leben in Corona-Zeiten.
Quelle: Zeit Online
Am Ende des heutigen Tages wird man in Deutschland über 60.000 mit Covid-19 Infizierte zählen. Diese befinden sich in Kliniken oder in Quarantäne, alle anderen ertragen die verhängte Kontaktsperre und warten auf den Einschlag. Was bleibt uns auch übrig, solange es keinen Impfstoff und keine wirksamen Medikamente gegen das Virus gibt? Nur warten, hoffen oder beten, dass der Kelch erst mal an einem vorbeigehen möge, wenigstens für die nächsten paar Wochen.
Laut bisheriger Statistik werden etwa 99 % der Infizierten einigermaßen glimpflich aus der Erkrankung herauskommen oder zumindest überleben. Das sollte eigentlich optimistisch stimmen, nichts desto trotz macht sich Endzeitstimmung breit, auch, weil intuitiv klar ist, dass auch nach durchgestandener Pandemie nichts mehr so sein wird wie bisher. Zwar wird wohl kaum das Ende des Kapitalismus ausgerufen werden, das Ende unserer im Westen in den vergangenen 75 Jahren kultivierten hedonistischen Lebensweise aber schon. Was danach kommt, ist ungewiss.
Da hilft es vielleicht, sich mit einem Text des US-amerikanischen Philosophen Simon Scheffler aus dem Jahr 2013 zu beschäftigen. Er trägt den Titel Der Tod und das Leben danach1 (orig.: Death and the Afterlife) und ist eine erweiterte Fassung der Tanner-Lectures on Human Values, die der Autor 2012 in Berkeley gehalten hatte. Anders als der Buchtitel zunächst suggeriert, beschäftigt sich Scheffler in diesem Text mit der Fragestellung, wie und wohingehend das Wissen um die bevorstehende Totalkatastrophe unser Denken und Handeln beeinflusst. Der Leser wird eingeladen, einem Gedankenexperiment zu folgen:
Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass die Erde 30 Tage nach Ihrem Tod – wobei Ihr eigenes Leben von normaler Dauer wäre – durch eine Kollision mit einem riesigen Asteroiden vollständig zerstört würde. Welchen Einfluss hätte dieses Wissen auf die Einstellungen, die Sie im Laufe Ihres restlichen Lebens haben werden?
Zugegeben, das von Scheffler skizzierte Katastrophenszenario entspricht dem unsrigen und jetzigen nur entfernt. Weder wissen wir, dass und ob überhaupt die Pandemie zur Totalkatastrophe führen wird – wiewohl auch das, trotz der wachsenden Zahl von Genesenen, nicht ausgeschlossen werden kann, wo doch die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen für die Überlebenden keineswegs absehbar sind, und so könnte es, aufgrund eines weitgehenden ökonomischen Zusammenbruchs, zu dermaßen gravierenden sozialen und politischen Verwerfungen kommen, dass Nuklearwaffen zum Einsatz kommen und die verbliebene Menschheit sich auf diese Weise selbst vernichtet –  noch wissen wir, wann und wie jeder einzelne von uns sterben wird. Gleichwohl bieten Schefflers Überlegungen interessante Einsichten, wie sich unser Leben in und nach dieser Pandemie sowie in Erwartung der nächsten gestalten könnte. Und so werde ich im Folgenden auch versuchen, sie so zu interpretieren und ggf. auch umzudeuten, dass ein Erkenntnisgewinn für die aktuelle Situation möglich ist.
Zu Beginn seiner Betrachtungen meint Scheffler, dass „die Aussicht auf eine bevorstehende Zerstörung der Erde in uns Trübsal, Trauer und Verzweiflung hervorrufen würde.“ Dieser Behauptung kann man uneingeschränkt zustimmen, sofern man sie auf die übergroße Mehrzahl der Menschen bezieht, die gerade nicht aktiv an der Bewältigung der Krise arbeiten. Daraus ergeben sich jedoch weitere Implikationen. Der Wert unserer bisherigen Pläne und Projekte könnte sich verringern und damit auch unsere Motivation, sie weiter zu verfolgen. Scheffler macht dafür drei mögliche Gründe aus. Erstens könnten die ursprünglichen Gründe für unsere Pläne und Projekte nicht mehr so gut erscheinen wie zuvor. Zweitens könnte unsere emotionale Beteiligung an ihnen nachlassen, so dass wir sie mit weniger Eifer und Begeisterung verfolgen. Und drittens könnte unsere Überzeugung nachlassen, dass es sich dabei um wirklich sinnvolle Tätigkeiten handelt.
Folgt man Scheffler, dann könnte es sein, dass der aktuelle weltweite Ausnahmezustand mit seinen Begleiterscheinungen für unseren Gedanken- und Gefühlshaushalt eine radikale Umwertung unserer bisherigen Prioritätensetzungen zu Folge hat. Scheffler selbst führt als Beispiele die Krebs-Forschung, den Kampf gegen den Klimawandel und den Einsatz für internationale Gerechtigkeit an. Und wahrlich steht zu befürchten, dass auch noch nach der Pandemie diese Projekte für eine gewisse Zeit in den Hintergrund gedrängt werden angesichts der Dringlichkeit der Lösung anderer medizinischer, ökonomischer und politischer Probleme. Das wären die negativen Folgen der Umwertung.
Die Umwertung könnte aber auch positive Konsequenzen haben. Wer einmal als Infizierter die Todesangst durchlebt hat, wird womöglich mit anderen persönlichen Wertsetzungen aus der Krise hervorgehen, weniger banale Lebens- oder Existenzängste mit sich herumtragen, ein selbstbewussteres Leben führen und bspw. Bullshit-Jobs (David Graeber) vermeiden.
Im Weiteren verhandelt Samuel Scheffler mögliche negative politische und soziale Folgen des Wissens um die Totalkatastrophe. Es sind dies das Wegbrechen gesellschaftlicher Regeln und Konventionen und die Ausbreitung von Anarchie sowie, als Gegenbewegung, die Übernahme der staatlichen Gewalt durch ein totalitäres Regime. Gerade letzteres ist der sprichwörtliche elephant in the room des Diskurses im und über den Ausnahmezustand. Auch wenn wir aktuell weit entfernt scheinen von Regellosigkeit oder gar Anarchie, besteht doch generell die Gefahr, dass autoritäre politische Kräfte vornehmlich rechter Couleur die Exekutive mit der Begründung übernehmen, unbeherrschbaren Zuständen vorbeugen zu wollen. Würden Legislative und Judikative durch das Virus zunehmend geschwächt und handlungsunfähig, könnten sich insbesondere solche Akteure als heroische Kämpfer für Recht und Ordnung positionieren, die, wie etwa Friedrich Merz, die Infektion bereits überstanden und Immunität erreicht haben. Es schlüge die Stunde des Volkstribunen, der zwar im legalen Verfassungsrahmen an die politische Macht käme, und sei es auch nur durch formelle Akklamation innerhalb seiner Partei und nachfolgende Absegnung durch den Bundespräsidenten, dessen oberstes Interesse aber darin bestünde, den Ausnahmezustand zum Zwecke des Machterhalts zu perpetuieren. Hier treffen sich Schefflers Überlegungen mit der, an Carl Schmitt und Michel Foucault anschließenden Behandlung der modernen Biopolitik und des Ausnahmezustands durch Giorgio Agamben.2 Ob eine in Rechte und Linke, in Gesunde und Kranke, in Immune und noch nicht Infizierte gespaltene Gesellschaft einem solchen Szenario etwas entgegenzusetzen hätte, wage ich nicht zu beurteilen. Bleiben wir vorerst optimistisch.
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1Samuel Scheffler. Der Tod und das Leben danach. Suhrkamp 2015
2Giorgio Agamben. Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp 2002
Ders. Ausnahmezustand. Suhrkamp 2004

Mittwoch, 1. Januar 2020

Personen, Rollen, Bedeutungen

Über geschlechtergerechte Sprache

Der Mensch ist im wesentlichen jenes Tier, das Rollen übernimmt.
Charles W. Morris

Gemäß einer verbreiteten Ansicht beschäftigt sich die Philosophie nicht mit der wirklichen Welt – diese ist Gegenstand der Fachwissenschaften, sondern mit unserem Sprechen über die wirkliche Welt. War die Philosophie im objektiv-idealistischen System Hegels noch die „Arbeit des Begriffs“, so muss nach dem linguistic turn in der Nachfolge von Wittgensteins Tractatus wohl konstatiert werden, dass zeitgenössische Philosophie vielmehr Arbeit am Begriff (engl. concept) ist. Begriffe werden dabei verstanden als sprachliche Entitäten, die Teil von Propositionen sind, also von Sätzen, denen ein Wahrheitswert zugewiesen werden kann. Begriffe haben eine Bedeutung. Einem jüngeren Konzept zufolge erschließt sich die Bedeutung eines Begriffes aus den Regeln seiner korrekten Verwendung.1 In der Philosophie der normalen Sprache (engl. ordinary language philosophy) steht hierfür Wittgensteins paradigmatischer Satz: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“
Ich befasse mich im Folgenden mit der geschlechtergerechten Sprache und werde meine Ausführungen von dem philosophischen Standpunkt aus führen, den ich gerade zu skizzieren versucht habe. Unter geschlechtergerechter Sprache (im Folgenden kurz Gendersprache) wird dabei ausdrücklich nicht die gleichberechtigte Verwendung von weiblicher und männlicher Wortform in mündlicher und schriftlicher Rede verstanden, wie etwa in „Bürgerinnen und Bürger“ oder „Freundinnen und Freunde“, sondern der generelle Verzicht auf das generische Maskulinum und dessen Ersatz durch Zeichenkonstrukte wie großes Binnen-I, Gendersternchen u.ä., sowie die geschlechtsneutrale Verwendung eines substantivierten Partizips I, wie etwa bei „Mitarbeitende“. Es geht mir dabei nicht um die realen Geschlechterverhältnisse, auch nicht um Feminismus oder Genderstudies; dazu habe ich nichts zu sagen. Mir geht es ausschließlich um das Sprechen über Personen, denn deren Anerkennung und politisch korrekter Behandlung in der Sprache soll ja die Verwendung der Gendersprache dienen.
Mir scheint, dass der z. T. recht aufgeregt geführte Diskurs über geschlechtergerechte Sprache vor dem Hintergrund zweier grundsätzlicher Denkfehler der Gendersprachaktivisten zu sehen ist. Denkfehler Nr. 1 ist ein Kategorienfehler, bestehend in der Verwechselung von Rolle und Person. Denkfehler Nr. 2 ist die Annahme, Sprache bestimme das Denken. Fehler Nr. 2 beruht auf einem einseitigen, mechanistischen Verständnis dessen, wie das menschliche Denken funktioniert und in welchem Verhältnis es zur Sprache steht, Fehler Nr. 1 hingegen darauf, dass der Sprachdiskurs nur allzu häufig auf einer personalen Ebene geführt wird, wo es doch in Wirklichkeit um soziale Rollen geht. Beide Fehler sind allerdings typisch für ein postmodernes Denken, bei dem „Unterschiede zwischen Rolle und Person verdampfen und semantisch die Kämpfe um Bedeutung und Macht anheben.“ (Armin Nassehi)
Im Folgenden werde ich zu begründen versuchen, dass es sich um wirkliche Fehler handelt.

Zum Verhältnis von Rolle und Person

Wenn ich von Person spreche, dann in einem durchaus landläufigen Sinn. Gemeint ist ein menschliches Individuum, das eine Reihe physischer, psychischer und sozialer Eigenschaften (Attribute) aufweist, mittels derer es von anderen Menschen (oder neuerdings auch von Maschinen) unterschieden und als genau diese konkrete Person identifiziert werden kann. Zu diesen Attributen gehören die spezifische Körperlichkeit, individuelle charakterliche Züge, die personale Identität im Sinne einer erkennbaren, zeitlichen Kontinuität der identifizierenden Attribute wie bspw. das episodische Gedächtnis oder der Name, aber auch die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, in die das Individuum eingewoben ist und die zur individuellen Ausprägung der personalen Attribute beitragen. Eine Person nimmt verschiedene soziale Rollen ein, so z. B. einen Beruf, ein Amt (z. B. als Beamter, Richter), eine Herkunft (z. B. Volksgruppenzugehörigkeit, Ethnie).
Soziale Rollen sind offensichtlich nichts physisch Existierendes. Sie sind keine rohen Tatsachen, sondern vielmehr institutionelle Tatsachen. Der US-amerikanische Philosoph John R. Searle hat die Unterscheidung zwischen rohen und institutionellen Tatsachen eingeführt, um damit „die Beziehungen zwischen denjenigen Eigenschaften der Welt, die Sache der rohen Physik und Biologie sind, einerseits, und denjenigen Eigenschaften der Welt, die Sache der Kultur und Gesellschaft sind“, zu untersuchen. „Rohe Tatsachen“, schreibt er, “existieren unabhängig von allen menschlichen Institutionen; institutionelle Tatsachen können nur innerhalb von menschlichen Institutionen existieren.“2 Rollen als institutionelle Tatsachen sind Teil unseres Sprechens über die soziale Realität.
Die institutionelle Tatsache, dass Donald Trump gerade Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (POTUS) ist, bedeutet nichts anderes, als dass die Person Donald Trump aktuell die Rolle des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika einnimmt. Nicht nur das: Das Amt POTUS ist selbst eine institutionelle Tatsache. Es wurde von Menschen geschaffen, den amerikanischen Verfassungsvätern, und existiert nur, weil es in der Verfassung der USA festgeschrieben ist und die Mehrheit der US-amerikanischen Staatsbürger die Verfassung anerkennt. Die institutionelle Tatsache POTUS existiert auch, ohne dass eine konkrete Person dieses Amt besetzt. Es genügt , dass die Mehrheit der US-amerikanischen Staatsbürger davon überzeugt ist, dass das Amt von einer Person und nur von einer Person besetzt werden sollte.
Es bedarf keiner weiteren Erklärung zu erkennen, dass rohe und institutionelle Tatsachen zwei disjunkte Kategorien darstellen. Werden beim Sprechen diese beiden disjunkten Kategorien verwechselt, liegt ein Kategorienfehler vor. Der Begriff des Kategorienfehlers stammt vom britischen Philosophen Gilbert Ryle. Ein Kategorienfehler wird von einem Sprecher begangen, wenn er einen sprachlichen Ausdruck auf eine Weise verwendet, die nicht dem logischen Typ des Ausdrucks entspricht. Der logische Typ eines Ausdrucks ist die Klasse seiner logisch richtigen Verwendungsweisen. Zwei Ausdrücke A und B sind vom gleichen logischen Typ, wenn ein Satz der Form „x ist ein P“ bei Einsetzung von A für x und B für x gleichermaßen wahr ist. Der Kategorienfehler der Gendersprachaktivisten besteht nun gerade darin zu behaupten, dass im Fall einer Rollenzuschreibung P die Wahrheit des Satzes „x ist ein P“ davon abhängig ist, ob an die Stelle von x eine männliche oder eine weibliche Person gesetzt wird, das heißt, nach dieser Ansicht sind die Ausdrücke „weibliche Person“ und „männliche Person“ nicht vom gleichen logischen Typ. Der Satz „Frau Müller ist Professor für Philosophie.“ hätte demnach eine anderen Wahrheitswert als der Satz „Herr Meier ist Professor für Philosophie.“ Der Satz „Herr Meier ist Professor für Philosophie.“ ist offensichtlich dann wahr, wenn Herr Meier eine Professur für Philosophie inne hat. Der Satz „Frau Müller ist Professor für Philosophie.“ wäre hingegen falsch, selbst wenn Frau Müller wirklich eine Professur für Philosophie inne hätte, also Professorin ist. Und das ist natürlich Unsinn.
Laut John Searle ist die Sprache selbst eine institutionelle Tatsache und zwar diejenige, die allen anderen institutionellen Tatsachen voraus geht, ihnen zu Grunde liegt. Nur vermittels der Sprache können institutionelle Tatsachen überhaupt geschaffen werden, existieren und auch wieder verschwinden. Der Begriff Gender stammt aus der englischen Sprache, die damit, anders als die deutsche, den Unterschied zwischen biologischem Geschlecht und sozialem Geschlecht markiert. In der eingeführten Terminologie ist das biologische Geschlecht einer Person eine rohe Tatsache, das soziale Geschlecht hingegen eine institutionelle. Letzteres entspricht einer spezifischen Rolle, die die Person einnehmen kann, die in modernen, aufgeklärten Gesellschaften jedoch nicht eindeutig festgelegt sein muss. In der Sprache, zumal der deutschen, kommt das grammatikalische Geschlecht (Genus) ins Spiel, das als Element der Sprache ebenfalls eine institutionelle Tatsache darstellt. Genus und Gender haben den gleichen Wortstamm, und aus der Etymologie ist bekannt, dass der Begriff des Geschlechts im genealogischen Sinne, also als Bezeichnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie, historisch noch vor dem Begriff des Geschlechts in seiner grammatikalischen Bedeutung entstanden ist.
Im Zentrum des Diskurses um die geschlechtergerechte Sprache steht das Verhältnis von und die Wechselwirkung zwischen den drei Kategorien biologisches Geschlecht, grammatikalisches Geschlecht und soziales Geschlecht. Der benannte Kategorienfehler rührt daher, dass in diesem Diskurs wild zwischen diesen drei sehr unterschiedlichen Kategorien hin und her gesprungen wird, und das übrigens nicht nur von den Gendersprachaktivisten. Bewusst oder unbewusst wird mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs Geschlecht hantiert. Wie eingangs angemerkt, ist ein Begriff jedoch mehr als bloß ein Wort, er umfasst auch die Regeln seiner korrekten Verwendung. Werden die Regeln der korrekten Verwendung missachtet, kommt es zu Fehldeutungen, Missverständnissen und letztlich inhaltslosen Kontroversen.

Zum Verhältnis von Denken und Sprache

Im Roman 1984 beschreibt George Orwell, wie in einem totalitären Überwachungsstaat vom herrschenden System eine künstliche Sprache, das Neusprech, vorgeschrieben wird. Der Wortschatz soll so reduziert werden, dass ein differenziertes Denken unmöglich wird. „Sprache formt das Denken.“, lautet die zu Grunde liegende These, die zurückgeht auf die Sprachtheorie von Sapir und Whorf. Diese besagt, dass die Sprache unser Denken dadurch bestimmt, dass sie Kategorien für die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, also Weltsichten, vorgibt.3
Nach meinem Verständnis kann die These der Gendersprachaktivisten folgendermaßen formuliert werden:
Das grammatikalische Geschlecht (Genus) des Wortes, mit dem eine soziale Rolle bezeichnet wird, determiniert das soziale Geschlecht (Gender) der potenziellen Rolleninhaber und damit auch das biologische Geschlecht (Sexus) der Personen, die als potenzielle Rolleninhaber in Betracht kommen.
Die Amtsbezeichnung „der Präsident“ im generischen Maskulinum (Genus) bestimmt demnach das soziale Geschlecht „männlich“ (Gender), wonach eben nur Personen männlichen Geschlechts (Sexus) dieses Amt besetzen können. Gemeint ist damit natürlich kein strenger Determinismus im Sinne einer Ursache-Wirkung-Kausalität, sondern eine bestimmte Erwartungshaltung der Sprecher, die darin zum Ausdruck kommt, dass das Amt „Präsident“ von vornherein als mit einer männlichen Person zu besetzen assoziiert wird. Einem solchen Assoziationsautomatismus soll mit der Verwendung des Gendersternchens oder des substantivierten Partizips I vorgebeugt werden. Ungeachtet des damit verbundenen Kategorienfehlers, der oben in Rede stand, ist kritisch nachzufragen, ob es zum einen eine solche Determiniertheit unseres Denkens durch Sprache wirklich gibt und ob zum anderen eine Änderung unseres Sprechens über Rollen und Personen zu einer Änderung unseres Denkens über institutionelle Tatsachen führen kann.
Linguistik, Kognitionswissenschaften und Sprachphilosophie sind sich inzwischen weitgehend darüber einig, dass weder das Denken die Sprache determiniert, noch umgekehrt die Sprache das Denken, vielmehr handelt es sich um eine komplexe Wechselbeziehung beider. Unser Denken findet seinen Ausdruck in sprachlichem und nichtsprachlichem Handeln, und nur der bewusste Teil unseres Denkens findet selbst in Sprache statt. Insofern ist die Sprache zwar ein Werkzeug unseres Denkens und schränkt unsere Artikulationsmöglichkeiten auf die je verfügbaren sprachlichen Mittel (Wortschatz, Grammatik, Logik etc.) ein, sie legt aber nicht fest, was und wie wir denken. Andernfalls wären kognitive Leistungen wie Ideen, Träume, Phantasien (i. Ü. auch Mehrsprachigkeit) nicht erklärbar. Nicht erklärbar wäre mithin, wie das Neue in die Welt kommt, erst recht nicht, wie neue Wörter und Begriffe entstehen. Wer jemals ernsthaft Kunst oder Wissenschaft betrieben hat, wird bestätigen können, dass es ein unbewusstes, nicht sprachgebundenes Denken ebenso gibt wie ein unbewusstes, nicht sprachgebundenes Handeln. Neue Gedanken, Ideen, Assoziationen tauchen scheinbar aus dem Nichts auf aus dem unbewussten Teil unserer Psyche und müssen, um sie anderen verständlich zu machen, häufig erst mühsam in Worte gefasst werden. In der Kunst (ausgenommen die Literatur) gelingt das so gut wie nie, in der Wissenschaft ist dazu ein z. T. enormer Übersetzungsaufwand erforderlich. Exemplarisch sei auf den physikalischen Begriff Quark verwiesen. Unter einem Quark wird in der Quantentheorie ein Elementarteilchen verstanden, aus dem die Bausteine des Atomkerns, die Protonen und Neutronen, zusammengesetzt sind. Vereinfacht gesprochen bestehen Proton und Neutron aus je drei Quarks. Der Begriff Quark wurde vom US-amerikanischen Physiker Murray Gell-Mann Anfang der 1960er Jahre aufgrund einer theoretischen Notwendigkeit eingeführt. Gell-Mann entnahm das deutsche Wort Quark dem Roman Finnegans Wake von James Joyce, der es seinerseits während einer Deutschlandreise aufgeschnappt hatte. Was ist damit gesagt? Gell-Mann war in seiner theoretischen Forschung zu der Einsicht gelangt, dass sich bestimmte Eigenschaften der seinerzeit bekannten Elementarteilchen nur befriedigend erklären lassen, wenn man postuliert, dass sie aus noch „elementareren“ Teilchen zusammengesetzt sind. Es fehlte jedoch ein Wort, um diese Teilchen zu bezeichnen. Die Idee war vorhanden, sie konnte allerdings nicht sprachlich ausgedrückt werden. Dass Gell-Mann sich gerade bei James Joyce bediente, braucht hier nicht thematisiert zu werden. Entscheidend ist lediglich, dass er ein Wort fand, dass im Englischen bis dahin mit keinerlei Bedeutung aufgeladen war, da es ein originär deutsches Wort und, anders als bspw. Blitzkrieg oder Wanderlust, auch nicht als Lehnwort adoptiert worden ist. So bekam das Wort Quark im Englischen eine konkrete Bedeutung, die es bis dahin nicht hatte. Ungeachtet verschiedener sprachphilosophischer Bedeutungstheorien dürfte unstrittig sein, dass viele Wörter ihre Bedeutung dadurch erhalten, dass mit ihnen je nach Kontext bestimmte Bilder und Vorstellungen assoziiert werden. Mit dem Wort Baum assoziiere ich normalerweise das Bild eines konkreten Baums aus Holz in der Landschaft. Bewege ich mich im Bereich der Mathematik oder Informatik, assoziiere ich mit dem Begriff Baum das Bild eines Graphen eines bestimmten Typs4, ein abstraktes Strichgebilde also.
Nehmen wir z. B. das Wort Forschende, das seit geraumer Zeit Eingang in die Berichterstattung über wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa auf Deutschlandfunk Nova, gefunden hat. Es heißt dann, Forschende hätten dies und jenes herausgefunden oder dies und jenes behauptet. Der Begriff Forschende wird hier offensichtlich als gendersprachlicher Ersatz für den traditionellen Begriff Wissenschaftler verwendet, um so das generische Maskulinum zu vermeiden. Das gelingt deshalb, weil das substantivierte Partizip I keine grammatikalische Geschlechtsformen kennt: Der Forschende, die Forschende, das Forschende und die Forschenden. Statt von den Forschenden könnte man gewiss auch von den Wissenschafttreibenden oder Wissenschaft Treibenden (laut Duden geht beides) sprechen, nur klingt dies irgendwie sehr umständlich und gekünstelt. Führt nun das Sprechen von den Forschenden zu einer Änderung meiner Assoziationen in Bezug auf die Personen, die man bis vor kurzem noch Wissenschaftler nannte? In gewissem Sinne schon, denn der Begriff der Forschung ist per se weiter gefasst als der Begriff der Wissenschaft. Forschung kann im akademischen Raum stattfinden, aber auch in der Industrie oder ganz privat, ohne institutionelle Anbindung. So nennt sich der auch aus dem Philosophischen Quartett bekannte Autor Rüdiger Safranski (u.a. Romantik. Eine deutsche Affäre, Zeit, was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen) einen Privatgelehrten. Er ist gewiss ein Forscher, aber sicher kein Wissenschaftler im eigentlichen Sinn. Forschung ist eine Tätigkeit, Wissenschaft ist institutionalisierte Forschung, und ein Wissenschaftler ist ein Angehöriger des institutionalisierten Wissenschaftssystems. Zu guter Letzt kann man auch Wissenschaftler sein, ohne zu forschen, bspw. als Uni-Professor, der lediglich seinen Lehrauftrag erfüllt.
In jüngster Zeit ist der Begriff Mitarbeitende in Gebrauch gekommen. Mit diesem verhält es sich meiner Ansicht nach noch problematischer, denn die Diskrepanz zwischen intendierter und assoziierter Bedeutung des Wortes erscheint noch größer als beim o.g. Beispiel. Die intendierte Bedeutung des Wortes umfasst Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Institution (Unternehmen, Behörde etc.), also schlicht deren Arbeiter und Angestellte. Mache ich mir eine Vorstellung von einem Mitarbeitenden, dann erscheint vor meinem inneren Auge eine Gruppe von Personen, die gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten, die an der Lösung der Aufgabe mitarbeiten. Diese Assoziation entspricht offensichtlich nicht der eigentlich intendierten Bedeutung des Begriffs, die doch die Rolle bzw. den Status von Personen innerhalb einer Institution umfassen soll. Es zeigt sich auch in diesem Fall, dass die Verwendung des substantivierten Partizips I eben nicht, wie beabsichtigt, zu Rollen- sondern zu Tätigkeitsassoziationen führt und die damit verfolgte Bedeutungszuweisung nicht erreicht wird. Insofern führt das andere Sprechen wirklich zu einem anderen Denken, doch gewiss nicht in dem von den Gendersprachaktivisten beabsichtigten Sinne.
1 Nach Ansicht von Robert Brandom kann dieses Konzept auf Kant zurückgeführt werden. Robert Brandom, Wiedererinnerter Idealismus. Berlin 2015, S. 23ff
2 John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt/M. 2005
3 Siehe auch Wittgensteins Satz: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“
4 Genauer gesagt: Ein Baum ist ein zusammenhängender Graph ohne Zyklen.


Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...