Richard Rorty schreibt an
einer Stelle, dass allgemeine
ethische
Prinzipien, also Letztbegründungen
des Guten, wie Kants kategorischer
Imperativ, nur dafür gedacht sind, in Notfällen zum Einsatz zu
kommen, in Situationen also, „in denen, es Gründe gibt, bisher
unbezweifelte moralische Gemeinplätze zu beanstanden oder in denen
wir völlig neuen Problemen gegenüberstehen.“ Nach
dieser Ansicht verfügt unser gewöhnlicher, unreflektierter
Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen, um in
der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial
kompetent zu handeln, ohne dabei
auf ein allgemeines und daher
abstraktes moralisches Prinzip zurückgreifen zu müssen.
Der
aktuelle Corona-Ausnahmezustand ist ohne Frage solch ein Notfall, für
dessen Bewältigung unsere gewohnten
Alltagsroutinen nicht ausreichen.
Ungeachtet der Vorgaben und
Empfehlungen von Politik und Wissenschaft muss jeder einzelne
für sich Entscheidungen über sein Verhalten in der Öffentlichkeit
treffen, die das Leben vor Corona ihm nicht abverlangt hatte: Abstand
halten? Mund-Nasen-Schutz tragen?
Freunde treffen? ÖPNV oder
Bahn benutzen?
Gemeinsam Sport treiben? Wieder
arbeiten gehen? Die Antworten auf derartige Fragen sind schon
deshalb moralische Entscheidungen,
weil die sich daraus ergebenden Folgen nicht primär uns selbst
betreffen, sondern zuvörderst die anderen.
Dass einige
das nicht so sehen und für sich das Recht beanspruchen,
durch unangemessenes Verhalten andere
zu gefährden, zeigt nur, dass es bei den Betreffenden nicht so weit
her ist mit Klugheit, Anstand und sozialer Kompetenz. Die Erinnerung
an allgemeine moralische Prinzipien wäre hier durchaus angebracht,
wenn man nicht ahnte, dass dies einigermaßen fruchtlos bliebe.
Zivilisierte Verachtung (Carlo Strenger) ist daher wohl die angemessene Reaktion auf diese
Zeitgenossen.
In
einer anderen, verschärften Situation befinden sich die
Beschäftigten der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die direkt
mit den an Covid-19 Erkrankten konfrontiert sind, aber auch und vor
allem die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Sie
bestimmen wesentlich, nach welchen moralischen Prinzipien konkrete
Entscheidungen etwa zur Behandlung von Covid-19-Patienten oder zum
Schutz von Beschäftigten getroffen werden. In Deutschland wird dann
sehr schnell Artikel 1 des Grundgesetzes gezogen, nach dem die Würde
des Menschen unantastbar ist. Dieser sehr schöne, mit
Ewigkeitsgarantie versehene Artikel 1 gibt nun allerdings keinerlei
praktische Richtschnur für das Handeln in konkreten Notsituationen.
Entspricht eine lang anhaltende apparatemedizinische Behandlung an
der Beatmungsmaschine mit möglichen schweren organischen
Folgeschäden eher meiner Menschenwürde als eine
palliativmedizinische mit gesittetem Ableben? Entspricht der Schutz
meines und des Lebens anderer durch monatelange soziale Isolation
eher meiner Menschenwürde als die bewusste Übernahme des
Infektionsrisikos durch maximales Ausnutzen der Lockerungsoptionen?
Von
den zur Verfügung stehenden ethischen Theorien bzw. Konzepten, die
grundlegende moralische Prinzipien im Angebot haben, kommen für die
hier verhandelten Fragen nur der Utilitarismus und die kantische
Ethik des Kategorischen Imperativs in Betracht. Tugendethik
(Aristoteles) und Diskursethik (Habermas) sind dafür offensichtlich
untauglich, die Mitleidsethik (Schopenhauer) kann auf die Christliche
Ethik zurückgeführt werden, die hingegen, weil sie auf eine nicht
mehr durchgängig akzeptierte außermenschliche Quelle unserer
Moralvorstellungen rekurriert, keine breite Anerkennung mehr findet,
auch wenn der derzeitige Vorsitzende des deutschen Ethikrates ein
Theologe ist. Es zeigt sich nun aber, dass der Utilitarismus in der
Pandemiekrise auf ganzer Linie versagt, weil die Anwendung seiner
Grundprinzipien die Gefahr birgt, dass die Krise zur Katastrophe
eskaliert.
Zur
Erinnerung: Der Kategorische Imperativ als Grundprinzip der
kantischen Ethik lautet: „Handle
nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß
sie ein allgemeines Gesetz werde.“ So in der „Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten“ von 1785. Im selben Text gibt Kant dem
Kategorischen Imperativ eine zweite Formulierung, die für meine
Zwecke besser geeignet ist: „Handle so, dass du die Menschheit,
sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen,
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.
Ernst
Tugendhat hat die zweite Formulierung in die Kurzfassung
„Instrumentalisiere niemanden!“ gegossen und deshalb Kants
ethisches
Konzept als Moral der universellen
Achtung bezeichnet.
Sind
beim Kategorischen Imperativ die Handlungsabsichten der Maßstab der
Bewertung einer Handlung, so sind es beim Grundprinzip des
Utilitarismus die Handlungsfolgen. Die ursprüngliche Formulierung
des utilitaristischen
Grundprinzips findet sich bereits
1725 im „Inquiry into the Original of Our Ideas of Virtue or moral
Good“ des schottischen Aufklärers Francis
Hutcheson.
Sie lautet: „Diejenige Haltung ist die beste, die das größte
Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ Jeremy
Bentham hat diesen Gedanken später weiterentwickelt, auf die
Gesellschaft als Ganzes bezogen und durch das egalitaristische
Prinzip „Jeder
zählt als einer und keiner für mehr als einen.“ ergänzt. Häufig
wird den Vertretern des Utilitarismus ein banales Nützlichkeitsdenken
unterstellt. Dieser Vorwurf hat
gewiss seine Berechtigung, verkennt
aber, dass es dessen
aufgeklärten Vätern
keineswegs nur um das Erreichen materiellen
Wohlstandes
ging, sondern
generell um die Verfolgung von Interessen - nicht nur individuellen -
bis hin zum, wie auch immer zu
bestimmenden Allgemeinwohl der
ganzen Menschheit. In der Praxis
begegnen uns utilitaristische Argumente jedoch meist als reine
Kosten-Nutzen-Abwägungen, bei denen die grundsätzliche Schwäche
dieses ethischen Konzepts
ganz offen zu Tage tritt – die Nichtberücksichtigung von
individuellen und
gruppenbezogenen Rechten. So gilt
denn der Utilitarismus nicht zu Unrecht als die Moral des
nutzenmaximierenden Homo oeconomicus.
Eine
sehr einflussreiche Spielart des Utilitarismus, der
Präferenz-Utilitarismus, wird von
dem vor allem als Tier-Ethiker
bekannten australischen Philosophen Peter
Singer vertreten. Demnach
ist eine Handlung dann als gut anzusehen, wenn ihre Auswirkungen den
Interessen (Präferenzen) aller davon betroffenen Wesen entsprechen,
wobei der Begriff „Wesen“ ausdrücklich auch Tiere umfasst. Peter
Singer nun verglich dieser Tage die Zahl der bisherigen
Corona-Toten in den USA mit der
Zahl der im Vietnam-Krieg gefallenen amerikanischen Soldaten (3Sat
Kulturzeit, ab Minute 5:10).
Diese hätten, so Singer,
mindestens 40 Jahre ihres Lebens
verloren, wohingegen die Corona-Toten meist über 65 seien. Die
Älteren sollten sich deshalb fragen, ob sie sich nicht für die
jüngeren Generationen opfern sollten, weil sonst die Kosten für
diese zu hoch wären. Geschickt
kleidet Singer seine Aufforderung zum Opfertod älterer Menschen in
die rhetorische Figur der
individuellen Überlegung in der ersten Person plural und suggeriert,
dass dieses Opfer ein gemeinschaftliches Handeln der
Älteren zum Wohle der Jüngeren
wäre. Weniger geschliffen, dafür
um so offenherziger
hatte sich hierzulande Boris Palmer in
ähnlicher
Weise geäußert, als
er wie beiläufig anmerkte, wir würden gerade Menschen retten, die
in ein paar Monaten eh sterben würden.
Palmers
und Singers Überlegungen haben m. E. nur sehr entfernt mit dem
medizinethischen Problem der Triage
zu tun. Die Triage ist eine akute
Einzelfallentscheidung von Ärzten über die Behandlung oder
Nichtbehandlung von Patienten bei vorliegendem Ressourcenmangel. Mit
der Aufforderung zur Opferung der
Älteren wird hingegen die
Vorselektion einer ganzen Bevölkerungsgruppe vorgeschlagen
und damit gerechtfertigt, dass
dies im (materiellen) Interesse der Gesellschaft läge. Ganz im Sinne
des utilitaristischen Prinzips wird damit eine moralische Frage zu
einer ökonomischen quantifiziert. Mehr noch, die Rede vom
(freiwilligen oder unfreiwilligen) Opfer führt zurück zu einem
vormodernen, voraufklärerischen Menschen- und Gesellschaftsbild,
wonach
eben das Individuum
Opfer für die Gemeinschaft zu bringen bereit sein müsse und
auch die Gemeinschaft, um sich zu erhalten, des Opfers bedarf. Einige
müssen geopfert werden, damit die vielen leben können bzw.
so leben können, wie sie sich das erstreben.
Bedenkt man die beiden Weltkriege
und die anderen politischen
Katastrophen des 20. Jahrhunderts,
wird deutlich, dass der Opfermythos bis weit
in die jüngere Geschichte wirksam war und für die Rechtfertigung
der größten Menschheitsverbrechen von Entkulakisierung und GULag
über Holocaust und
Kulturrevolution bis hin zu Pol Pot instrumentalisiert
wurde. Indem Peter Singer sich bei
der Rechtfertigung seines Aufrufs zur Selbstopferung auf die im Vietnamkrieg gefallenen US-Soldaten beruft, macht er ganz
nebenbei auch diese zu Opfern, allerdings nicht zu Opfern der
amerikanischen Interventionspolitik, sondern zu Opfern für eine
höhere Sache, welche immer das auch gewesen sein mag.
Der Utilitarismus versagt aber genauso an
anderer Stelle. In der Corona-Pandemie sieht es bislang danach aus,
dass gerade Großbritannien, das Mutterland des Utilitarismus und
sein vormaliger Ableger, die USA, und damit die Heimatländer des
ursprünglichen Laissez-faire-Kapitalismus
wie
auch
von
dessen
neoliberaler
Revitalisierung seit den 1970er Jahren (Thatcher, Reagan) die Krise
um einiges schlechter bewältigen als die Länder, in denen andere
Moralkonzepte vorherrschend sind. Gerade zu Beginn der
Infektionswelle agierten Boris Johnson und Donald Trump offenkundig
utilitaristisch, indem sie zunächst voll auf die Erreichung der
Herdenimmunität setzten. Ziel war es, das normale Wirtschaftsleben
so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Wie die aktuellen Zahlen
zeigen, ist dieser Ansatz gehörig misslungen, denn nicht nur bei den
Zahlen der Infizierten und der Toten stehen die beiden Länder
weltweit an der Spitze, sondern auch bei den negativen Folgen für
die eigene Wirtschaft. Für die USA wird ein Einbruch von 30%
prognostiziert, für UK von 14%, beide Zahlen liegen weit über der
Prognose von 7 bis 8% für die deutsche Wirtschaft. Hier zeigt sich
offenkundig, dass rein utilitaristisches Denken und Handeln, das die
Belange der Wirtschaft vor die Belange der Menschen stellt, selbst
desaströse Folgen für die Wirtschaft haben kann.
Im
Zuge der globalen Ausbreitung des Neo-Liberalismus in den vergangenen
Jahrzehnten
hat sich auch das utilitaristische Denken global verbreitet. Die
Privatisierung des Gesundheitswesens und der Pflege sowie die
staatlicherseits
falsch gesetzten
Ökonomisierungsanreize in
diesen Bereichen (Stichwort: Lieber teure und schnelle Operationen als nachhaltige Behandlung.) haben zu jenem Mangel an Vorsorge, Personal und
medizinischen Ressourcen geführt, der zu Beginn der Pandemie in
einigen Ländern die Todesfallzahlen extrem schnell steigen ließ und
uns katastrophale Bilder
aus Italien und
Frankreich bescherte. Der Bürgermeister der italienischen Stadt
Bergamo bestätigte dies kürzlich in einem Interview beim Sender
n-tv.
Er
räumte dort ein, das
Virus völlig unterschätzt zu
haben. Noch am 19. Februar habe er
sich in Mailand das Spiel „Atlanta Bergamo gegen SC Valencia“
angeschaut – zusammen mit 45.000 Fußballfans. Aus Sorge um die
Arbeitsplätze hätte er davor zurückgeschreckt, das öffentliche
Leben lahmzulegen. Umso erschrockener sei er gewesen, als sich die
Krankenhäuser „rasend
schnell mit Schwerkranken füllten“ und selbst zu Virenschleudern
wurden.
„Der
Utilitarismus“, schreibt Ernst Tugendhat, „ist die Ideologie des
Kapitalismus, denn er erlaubt es, das Wachstum der Ökonomie als
solches ohne Rücksicht auf Verteilungsfragen moralisch zu
rechtfertigen.“ (Vorlesungen über Ethik) Und ich würde
hinzufügen, auch ohne Rücksicht auf das Leben jener, die das
Wachstum erwirtschaften.