Freitag, 20. April 2012

Vom Umgang mit dem Tod

Gemeinhin gilt der Tod als das Ende des Lebens, des Lebens jedenfalls, wie wir es zu leben gewohnt sind. Über das Danach wissen wir eigent­lich nichts. Unbestritten ist, dass der Tod das Ergeb­nis der end­gültigen Desin­tegration lebensnotwendiger Körperfunktio­nen ist. Geht man davon aus, dass Körper und Geist (Seele, Bewusst­sein, Psyche etc.) zusammen gehören, muss man zu dem Schluss kom­men, dass mit dem Tod des Körpers auch der Geist stirbt. Bei nähe­rer Betrachtung erweist sich, dass es im eigentlichen Sinne der Geist ist, der stirbt, während der Körper nur zu funktionieren aufhört, um nach und nach zu zerfallen. (Daher wohl die Fixierung auf den Hirntod als medizinisches Kriterium.) Der Tod bildet die Grenze zwischen menschli­cher Existenz und menschlicher Nicht-Existenz bzw., ontologisch ge­sprochen, zwischen Sein und Nichtsein. Bis zum Tod ist Etwas, danach – Nichts.
Rein rational betrachtet, gibt es keinen Grund, sich mit dem Tod zu be­fassen. Was sollte das Nichts uns sagen können? Und doch ist der Tod zentrales The­ma menschlicher Kultur. Seit ihren Anfängen fragt die Philoso­phie nach ihm. Alle Religionen beschäftigen sich auf irgendeine Weise damit. In Gestalt des Kreuzes stellt das Christentum den Tod ins Zentrum seiner Theologie. Bei Paulus heißt es im 1. Korintherbrief:
Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet wer­den, ist es Gottes Kraft.
Die Christen sehen Gott gewissermaßen durch das Kreuz, mithin durch den Tod. Freud, kein Christ, sah im To­destrieb und damit in der kontin­genten Anwesenheit des Todes eine Grund­konstante der Psyche. In der christlichen Aufforde­rung, Jesus zu folgen, mit ihm bereitwill­ig auch in den Tod zu gehen und nur so zur erhofften Erlö­sung zu ge­langen, mag der Todestrieb seine radi­kalste religiöse Aus­prägung gefun­den ha­ben. Man kann, sicherlich mit guten Gründen, diese letzte Konse­quenz christli­cher Dogmatik welt­fremd und lebensfern finden, anzuerkennen bleibt jedoch: Der Tod ist unser ständiger Begleiter.
Epikur hat wohl eine wirklich philosophische Haltung zum Tod gefund­en, wenn er im Brief an Menoikeus schreibt:
Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod für uns ein Nichts ist. Be­ruht doch alles Gute und alles Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist Aufhe­bung der Empfin­dung. Darum macht die Erkenntnis, dass der Tod ein Nichts ist, uns das ver­gängliche Leben erst köstlich. Dieses Wissen hebt natür­lich die zeitli­che Gren­ze unseres Daseins nicht auf, aber es nimmt uns das Ver­langen, uns­terblich zu sein, denn wer einge­sehen hat, dass am Nichtleben gar nichts Schreckliches ist, den kann auch am Leben nichts schrecken. Sagt aber einer, er fürchte den Tod ja nicht deshalb, weil er Leid bringt, wenn er da ist, sondern weil sein Be­vorstehen schon schmerzlich sei, der ist ein Tor; denn es ist doch Unsinn, dass etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird!
So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solan­ge wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.
Wenn es doch nur so einfach wäre. Epikur selbst zeigt einen Grund, warum es eben nicht so einfach ist, und warum uns der Tod, un­geachtet höhe­rer Erkenntnis, nicht los lässt: „...wer eingesehen hat, dass am Nichtleben gar nichts Schreckliches ist, den kann auch am Le­ben nichts schrecken.“ Dies ist die große Einsicht, derer es bedarf, um sich von der Angst vor dem Nichts zu befreien. Es bedarf der Fähigkeit, sich selbst nicht zu denken, sich selbst weg zu denken. Man muss sich eine Welt ohne das eigene Ich vorstellen kön­nen, erst dann verliert der Tod seinen nihilistischen Schrecken. Aber wer kann das schon? Wo uns doch Kognitionspsychologen und Neurologen mittlerweile erklä­ren können, dass unsere Welt- und damit auch Selbstwahrnehmung ein Konstrukt des Nervensystems ist, oder, um ein Gedankenexperi­ment des Philosophen Thomas Nagel zu bemühen, dass wir allein schon des­halb keine objektive Weltsicht haben, weil wir uns nicht in den Empfindungsmodus ei­ner Fledermaus versetzen können, es also eine unabhängige Objektivität für uns gar nicht gibt. Wenn wir die Welt immer nur durch uns selbst wahrnehmen und erleben können, wie könnte dann der Einzelne eine Vorstellung von einer Welt haben, in der er selbst nicht vorkommt?
Angst vor dem Tod ist auch Angst vor dem Verlust des Ich und da­mit der Selbstempfindung. Man denke nur an die Angstzustände von Ampu­tierten oder von Menschen, die nur wahnhaft meinen, Körperteile ver­loren zu haben. Selbst motorische Störungen, die zu einem zeitweiligen Kontrollverlust über einzelne Gliedma­ßen führen, können den Betroffe­nen in äußerste Panik versetzen. Um wie viel stärker sollte da die Angst vor dem Ver­lust der gesamten Körperlich­keit und jeglicher Emp­findungen sein? Mithin geht es auch um Weltverlust. Den natür­lichsten Um­gang zeigen klei­ne Kinder, wenn sie, die Augen schließend, mei­nen, nicht mehr gese­hen zu werden: Ich bin weg, denn ich sehe dich nicht. Nicht allein ich verschwinde, die Welt verschwindet mit mir. Bei Peter Rühm­korf liest sich das so:
'n Ich hat irgendwie jeder, und das ist auch gar nicht so ungewal­tig. / Wenn es die Augen zuklappt, / geht die Erde unter, / sind die Sterne aus.
Dies entspricht wohl auch dem Weltempfinden vor­christlicher Kulturen und Reli­gionen. Aus heutiger Sicht mag es zugleich naiv und anmaßend er­scheinen, dass die Menschen in früheren Kulturen glaubten, die Welt ginge unter, wenn sie die überlieferten Rituale nicht ausüben würden. Aber könnte dieser tief verwurzelte Glaube an die entscheidende Rolle des Einzelnen im und für das Weltgebäude nicht die Angst davor erklä­ren, als Toter diese Rolle nicht mehr ausfüllen zu können? Würde dies nicht eine Erklärung für die Grabbeilagen liefern, die Verstorbenen mitgegeben wurden, damit sie ihre Aufgabe als Jäger, Bauer, Krieger, Priester oder Pharao auch im Jenseits erfüllen? Könnte unsere Angst vor dem Tod nicht ein Nachhall, ein Residuum jener Urangst vor dem Verschwinden der Menschheit überhaupt sein, wie sie unse­re in klei­nen, meist voneinander isolierten Horden lebenden Vorfahren empfun­den haben mögen? Alles nur Spekulation - natürlich.
Trotzdem ist die Aufforderung Epikurs bedenkenswert. Um ihr nach zu kommen, müsste man über die Fähigkeit verfügen, sich selbst zu objek­tivieren, ne­ben sich zu treten und sich als dritte Person zu sehen. In der Psychologie wird dies als Depersonalisation bezeichnet und in schwereren Fällen zu den psychi­schen Störungen gerechnet. Deperso­nalisation kann aber auch als unbewuss­te Schutzreaktion bei seelischem oder körperlichem Stress auftreten, z.B. kurzzeitig in Unfall­situationen (was mir selbst schon mehrfach widerfahren ist) oder lan­ganhaltender bei physischen Misshandlungen, wie etwa Prügel­strafen, Fol­ter oder Vergewaltigung. Wenn ich es richtig verstanden habe, trägt die buddhistische Vorstellung vom Nirwana ebenfalls Züge von Deper­sonalisation.
Kann man also dem Tod nur gelassen entgegen sehen, wenn man sich bereits von seinem Ich losgelöst bzw. losgesagt hat? Der Rockmusi­ker Maynard James Keenan hat diese Frage in zwei Texten für sei­ne Bands Tool und A Perfect Circle  (in einer möglichen Interpretation) thematisiert. In Schism (Tool, 2001) heißt es:
I know the pieces fit / 'Cause I watched them fall away / Mildewed and smoulde­ring / Fundamental differing
und in Vanishing (APC, 2003):
Disappear / Disappear / Thinner / thinner / Into the air / Never really here / What that never / Like a thought brushing up against a sigh / Floating away. 
Das auseinander gefallene Ich auf der einen Seite, auf der anderen der Wunsch zu verschwinden, als wäre man nie da gewesen. Todessehn­sucht in dissoziativer Todesge­lassenheit?
Verbreitet ist das Bild vom Tod als Tor, das man durch­schreitet, um in ein anderes, hoffentlich besseres Leben einzutre­ten, etwa so wie in Stargate. Womöglich haben ja all diese Ideen von Wurmlöchern, Fal­träumen, transdimensionalen Reisen ihren tiefe­ren Ur­sprung in der Meta­pher vom Tod als Tor. Die Religionen haben über das, was einen auf der anderen Sei­te erwartet, unterschiedliche Ansichten, häufig aber erzählen sie davon, dass man auf der anderen Seite nicht allein sein wird. Es warten die Vorfahren, mythi­sche Gestal­ten und Volkshelden, Engel oder Gott selbst. Es sind dies sehr tröstli­che Ideen, die den unvermeidlichen Gang durch das Tor erleichtern sol­len.
Epikur zufolge, wäre auf der anderen Seite jedoch nichts. Ist schon eine Welt ohne einen selbst kaum vorstellbar, so das Nichts noch weni­ger. Erst recht nicht ein Tor oder eine Tür, hinter der, wenn wir sie öff­nen, nichts, abso­lut nichts ist. Was wir uns vorstellen können, ist Leere, so wie die Leere ei­nes Alls ohne Sterne, Planeten, Gaswolken etc. Eine Hülle ohne Inhalt - das ist unsere Vorstellung von Leere. Doch diese Leere ist nicht das Nichts. Sie ist Et­was, nur ohne Inhalt. Aber auch das ist nicht ganz kor­rekt, weil wir uns die leere Hülle nicht ohne einen sie umge­benden Raum denken können. Außerdem wäre diese Leere, sobald wir in sie hinein treten würden, ja nicht mehr leer. Sie enthielte ein empfin­dendes Bewusstsein. Wie sonst könnten wir sie wahrnehmen? Offenbar kann man sich den eigenen Tod zwar sprach­lich-abstrakt denken, ihn sich jedoch nicht bildhaft-kon­kret vor­stellen. Wer weiß, ob Epikur es wirklich konnte.
Wohin aber will Maynard James Keenan verschwinden? Vermutung: Der emotionale Teil des dissoziierten Bewusst­seins sehnt sich nach Auf­lösung in dessen rationalem Teil. Das fühlen­de Ich flüchtet in die Arme des denkenden Ichs, um dem unaus­weichlich bevorstehenden Schmerz des Selbstverlusts im Tode zu ent­gehen. In einem Akt vorausei­lenden Gehorsams vor dem Unaus­weichlichen handelt es letztmalig in freier Entscheidung und beschließt zu verschwinden, sich nötigenfalls selbst auszulöschen. Es ist ein spurloses Verschwinden, ein rück­standsfreies Ausbrennen, denn es spielt sich ausschließlich im In­nern ab. Äußerlich bleibt der Mensch er selbst. So kann das dissoziier­te Be­wusstsein, sich selbst dabei zusehend, in rationaler Gelassenheit und ohne Angst den Tod auf sich zukommen lassen oder ihm selbstbe­wusst entgegen gehen.
Der Preis dafür ist freilich der Verlust des füh­lenden Ichs oder zumindest seine Entkopplung vom denkenden Ich, so dass ein unmittelbares Fühlen im bewussten Sein nicht mehr stattfin­det. Emotionen zeigen sich, wenn überhaupt, so vom rationalen Be­wusstsein verarbeitet, reflektiert und kontrolliert. Das Unmittelbare und Spontane verschwindet, und selbst wenn es doch sporadisch ein mal auftauchen sollte, wirkt es falsch und aufgesetzt, wie von einem schlechten Schauspieler auf die Bühne getragen. Zuweilen mag das fühlende Ich sein selbstgewähltes Gefängnis verlassen, und die einge­pferchten, angestauten Emotionen entladen sich in einem wilden, unge­zügelten Gefühlsausbruch, in Zorn, in Euphorie, in Theatralik, in Me­lancholie, in Tränen und schließlich in To­dessehnsucht. Nur nicht in Glück. Man höre Tool.
Für den rationalen Verstand liegt hinter dem Tod das Nichts. Das Chris­tentum sieht dort Auferstehung und ewiges Leben als hoffnungsvolle Vor­stellung, um im irdischen Leben dem Nichts den ihm eigenen läh­menden Schrecken zu nehmen. Seit langem gefällt mir die Idee der Noosphäre des rus­sischen Geologen Wernadskij, die von Theilhard de Chardin aufgenom­men und theologisch ausgestaltet wurde. Kurz ge­fasst beschreibt dieser Begriff eine die Erde umschließende Sphäre der menschlichen Gedan­ken, ursprünglich aller gedachten Gedanken, spä­ter aber auch, vor al­lem in der digitalen Esoterik, aller denkbaren. (Letzterer Auffassung möchte ich mich ausdrücklich nicht anschließen.) Die Noosphäre bezeich­net also den Raum reinen Geistes, bevölkert von den Re­sultaten menschlicher Denktätigkeit. Anders als bei Platon ist diese Welt der Ideen nicht ein für alle mal gegeben und harrt der Erkenntnis, sondern evolutioniert: Die Noosphäre ent­steht und wächst nur mit und durch den Menschen. Sie ist der Ort, an den der Geist gehen kann, nachdem sich die Körperfunktionen des­integriert haben. Das Sympathi­sche an dieser Idee besteht darin, dass sie auch denen Trost spenden kann, die nicht an Gott glauben und auch mit dem Nirvana nichts anzufangen wissen. Andererseits, und das hat Theilhard de Chardin getan, lässt sich die Noosphäre durchaus mit christlichen Jenseits­vorstellungen vereinbaren, etwa bei der Frage, wo sich die Toten bis zur Auferste­hung aufhalten. So wäre das Universum ein sowohl göttlich als auch menschlich beseelter Raum: Nichts wäre nichts. Nichts ginge verloren. Nichts wäre vergeblich. Und der Tod keineswegs das Ende.

Donnerstag, 12. April 2012

Was bedeutet das alles? von Thomas Nagel

Gutes Philosophieren beginnt mit dem Staunen. Gute Philosophen stellen erst einmal Fragen, das heißt, sie stellen in Frage. Oft machen sie sich damit unbeliebt, manchmal - meist erst nach ihrem Ableben - werden sie berühmt, selten aber verstanden. Sokrates war so einer, Kant ebenso und Jesus irgendwie auch.
Ob der Amerikaner Thomas Nagel dereinst zu den ganz großen seines Fachs zu zählen sein wird, ist schwer zu sagen. Ein guter ist er in jedem Fall. Nagel ist Rationalist im besten Sinne des Wortes, also zutiefst überzeugt von der Kraft des menschlichen Verstandes. Deshalb glaubt er auch, dass die Titel gebende Frage „Was bedeutet das alles?“ grundsätzlich beantwortet werden kann. Als Autor gelingt es ihm, in jeder Zeile seines Buchs dem Leser das Staunen darüber zu vermitteln, dass der menschliche Verstand sich diese und andere grundlegende Fragen, wie z.B. die neun von ihm ausgewählten, überhaupt zu stellen vermag.
In der Einleitung schreibt Thomas Nagel: „Im Zentrum des Philosophierens stehen gewisse Fragen, die ein reflektiertes menschliches Bewusstsein auf natürliche Weise verwunderlich findet, und am besten beginnt man sein philosophisches Nachdenken, indem man sich ihnen unmittelbar zuwendet.“ Man muss allerdings zugeben, dass nicht alle Fragen, denen sich Nagel zuwendet, eine gleichermaßen natürliche Verwunderung auslösen. So gehören gleich die ersten zwei Probleme: „Woher wissen wir etwas?“ und „Das Fremdpsychische“, sowie das fünfte: „Die Bedeutung von Wörtern“, wohl zu den dem Alltagsbewusstsein eher fern liegenden, erkenntnistheoretisch elaborierten Themen, die gleichwohl fundamentale Fragen des Menschseins behandeln. Um einiges näher „an der Basis“ sind hingegen die Fragen nach der Moral, nach dem Tod oder dem Sinn des Lebens.
Thomas Nagel gibt keine Antworten. Er behandelt verschiedene, auch widerstreitende Standpunkte, darunter stets auch den eigenen, und vermittelt so, dass es auf die gestellten Fragen bislang keine befriedigenden Antworten gibt. Dies und der in seiner lakonischen Sachlichkeit und Schlichtheit fast poetisch anmutende Stil des Autors machen „Was bedeutet das alles?“ zu einer intellektuell anregenden und sprachlich angenehmen Lektüre. Das Buch ist nicht neu, es erschien erstmals 1987, hat aber seither, wie es sich für gute Philosophie gehört,  nichts an Substanz verloren. Denn, Zitat Nagel: „Über diese Probleme wird seit tausenden von Jahren geschrieben...“
Mir wurde Thomas Nagel bekannt durch seinen Aufsatz "What is it like to be a bat"1, in dem er begründet, dass, egal wie viel wir über das Gehirn eines Wesens wissen, z.B. über das einer Fledermaus (daher der Titel), wir doch nie dessen Erlebnisperspektive erschließen können2. Schon dieser Denkansatz lässt erahnen, worauf man sich einlässt, wenn man Thomas Nagel folgt, was unbedingt zu empfehlen ist, denn, wie Einstein einst sinngemäß anmerkte, ist das Denken eine der schönsten Vergnügungen der menschlichen Spezies.

Thomas Nagel. Was bedeutet das alles? Stuttgart, 2008


1 http://organizations.utep.edu/Portals/1475/nagel_bat.pdf
2 zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Nagel_(Philosoph)

Montag, 2. April 2012

Agamben und das Wünschen

Giorgio Agamben ist zweifelsohne populär. Seine Texte werden breit bespro­chen und vom Fachpublikum weidlich auseinander genommen. Ich mag sie trotzdem. Mir gefällt einfach sein Stil. Sein freier, spekulativer Umgang mit den Themen sagt mir mehr zu, als manches tiefschürfende Abarbeiten an der Faktizität des Gegenstands.
Das schmale Sammelbändchen Profanierungen[1] aus dem Jahr 2005 enthält fol­genden kurzen Text:

Wünschen
Wünschen ist das Einfachste und Menschlichste, was es gibt. Warum kön­nen wir uns dann ausgerechnet unsere Wünsche nicht eingestehen, warum fällt es uns so schwer, sie zur Spra­che zu bringen? So schwer so­gar, daß wir sie schließlich ver­borgen halten, irgendwo in uns eine Krypta für sie bauen, wo sie einbalsamiert liegen und warten. 
Wir können unsere Wünsche nicht zur Sprache bringen, weil sie Einbildun­gen von uns sind. Die Krypta enthält in Wirklichkeit nur Bilder, wie ein Buch für Kinder, die noch nicht lesen können, wie die Images d‘Epinal ei­nes Volkes, das weder lesen noch schreiben kann. Der Körper der Wün­sche ist ein Bild. Und was wir uns an einem Wunsch nicht eingestehen können, ist das Bild, das wir uns von ihm ge­macht haben.
Jemandem unsere Wünsche ohne die Bilder mitzuteilen ist brutal. Ihm unsere Bilder ohne die Wünsche mitzuteilen ist fad (wie das Erzählen von Träumen oder Reisen). Aber leicht in beiden Fällen. Die Wünsche als Ein­bildungen und die Bilder als Wünsche mitzuteilen ist die schwierigste Auf­gabe. Deshalb verschieben wir sie. Bis zu dem Augenblick, in dem wir zu verstehen beginnen, daß sie für immer unge­löst bleiben wird. Und daß der Wunsch, den wir uns nicht eingestehen können, wir selbst sind, für immer in der Krypta eingeschlossen.
Der Messias kommt wegen unserer Wünsche. Er trennt sie von den Bil­dern, um sie zu erfüllen. Oder eher, um zu zei­gen, daß sie schon erfüllt sind. Was wir uns eingebildet haben, haben wir schon bekommen. Uner­füllt — bleiben die Bilder des Erfüllten. Aus den erfüllten Wünschen baut er die Hölle, aus den unerfüllbaren Bildern den Limbus. Und aus dem eingebildeten Wunsch, dem reinen Wort, baut er die Seligkeit des Para­dieses.

Man kann diesen Text auch als Spekulation darüber lesen, warum wir uns einen Messias wünschen:
Paradies ist ein Wort für ein Bild, das in der Genesis wiederum mit Wor­ten beschrieben ist. Das Bild vom Paradies ist für uns also ausschließlich durch den Wortlaut der Genesis-Erzählung gegeben. Hinter der Sehnsucht nach dem Paradies verbirgt sich ein Wunsch, den wir uns nicht selbst einbil­den wie unsere anderen Wünsche, sondern dessen Einbildung uns die Bibel (wie auch der Khoran) im Wort vom Paradies vorgibt. Denn: Im Anfang war das Wort. 
Profanierung des Wünschens hieße dann, sich von der definitorischen, bildne­rischen Macht des gegebenen Wortes frei zu machen und seine Wunschbilder selbst in die Worte zu fassen, die es dem Messias am Ende der Zeit ermögli­chen, jedem von uns sein eigenes Paradies zu übergeben.


[1] Giorgio Agamben, Profanierungen, Suhrkamp 2005

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...