Gemeinhin gilt der Tod als das Ende des Lebens, des Lebens jedenfalls, wie wir es zu leben gewohnt sind. Über das Danach wissen wir eigentlich nichts. Unbestritten ist, dass der Tod das Ergebnis der endgültigen Desintegration lebensnotwendiger Körperfunktionen ist. Geht man davon aus, dass Körper und Geist (Seele, Bewusstsein, Psyche etc.) zusammen gehören, muss man zu dem Schluss kommen, dass mit dem Tod des Körpers auch der Geist stirbt. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass es im eigentlichen Sinne der Geist ist, der stirbt, während der Körper nur zu funktionieren aufhört, um nach und nach zu zerfallen. (Daher wohl die Fixierung auf den Hirntod als medizinisches Kriterium.) Der Tod bildet die Grenze zwischen menschlicher Existenz und menschlicher Nicht-Existenz bzw., ontologisch gesprochen, zwischen Sein und Nichtsein. Bis zum Tod ist Etwas, danach – Nichts.
Rein rational betrachtet, gibt es keinen Grund, sich mit dem Tod zu befassen. Was sollte das Nichts uns sagen können? Und doch ist der Tod zentrales Thema menschlicher Kultur. Seit ihren Anfängen fragt die Philosophie nach ihm. Alle Religionen beschäftigen sich auf irgendeine Weise damit. In Gestalt des Kreuzes stellt das Christentum den Tod ins Zentrum seiner Theologie. Bei Paulus heißt es im 1. Korintherbrief:
Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.
Die Christen sehen Gott gewissermaßen durch das Kreuz, mithin durch den Tod. Freud, kein Christ, sah im Todestrieb und damit in der kontingenten Anwesenheit des Todes eine Grundkonstante der Psyche. In der christlichen Aufforderung, Jesus zu folgen, mit ihm bereitwillig auch in den Tod zu gehen und nur so zur erhofften Erlösung zu gelangen, mag der Todestrieb seine radikalste religiöse Ausprägung gefunden haben. Man kann, sicherlich mit guten Gründen, diese letzte Konsequenz christlicher Dogmatik weltfremd und lebensfern finden, anzuerkennen bleibt jedoch: Der Tod ist unser ständiger Begleiter.
Epikur hat wohl eine wirklich philosophische Haltung zum Tod gefunden, wenn er im Brief an Menoikeus schreibt:
Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod für uns ein Nichts ist. Beruht doch alles Gute und alles Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist Aufhebung der Empfindung. Darum macht die Erkenntnis, dass der Tod ein Nichts ist, uns das vergängliche Leben erst köstlich. Dieses Wissen hebt natürlich die zeitliche Grenze unseres Daseins nicht auf, aber es nimmt uns das Verlangen, unsterblich zu sein, denn wer eingesehen hat, dass am Nichtleben gar nichts Schreckliches ist, den kann auch am Leben nichts schrecken. Sagt aber einer, er fürchte den Tod ja nicht deshalb, weil er Leid bringt, wenn er da ist, sondern weil sein Bevorstehen schon schmerzlich sei, der ist ein Tor; denn es ist doch Unsinn, dass etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird!
So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.
Wenn es doch nur so einfach wäre. Epikur selbst zeigt einen Grund, warum es eben nicht so einfach ist, und warum uns der Tod, ungeachtet höherer Erkenntnis, nicht los lässt: „...wer eingesehen hat, dass am Nichtleben gar nichts Schreckliches ist, den kann auch am Leben nichts schrecken.“ Dies ist die große Einsicht, derer es bedarf, um sich von der Angst vor dem Nichts zu befreien. Es bedarf der Fähigkeit, sich selbst nicht zu denken, sich selbst weg zu denken. Man muss sich eine Welt ohne das eigene Ich vorstellen können, erst dann verliert der Tod seinen nihilistischen Schrecken. Aber wer kann das schon? Wo uns doch Kognitionspsychologen und Neurologen mittlerweile erklären können, dass unsere Welt- und damit auch Selbstwahrnehmung ein Konstrukt des Nervensystems ist, oder, um ein Gedankenexperiment des Philosophen Thomas Nagel zu bemühen, dass wir allein schon deshalb keine objektive Weltsicht haben, weil wir uns nicht in den Empfindungsmodus einer Fledermaus versetzen können, es also eine unabhängige Objektivität für uns gar nicht gibt. Wenn wir die Welt immer nur durch uns selbst wahrnehmen und erleben können, wie könnte dann der Einzelne eine Vorstellung von einer Welt haben, in der er selbst nicht vorkommt?
Angst vor dem Tod ist auch Angst vor dem Verlust des Ich und damit der Selbstempfindung. Man denke nur an die Angstzustände von Amputierten oder von Menschen, die nur wahnhaft meinen, Körperteile verloren zu haben. Selbst motorische Störungen, die zu einem zeitweiligen Kontrollverlust über einzelne Gliedmaßen führen, können den Betroffenen in äußerste Panik versetzen. Um wie viel stärker sollte da die Angst vor dem Verlust der gesamten Körperlichkeit und jeglicher Empfindungen sein? Mithin geht es auch um Weltverlust. Den natürlichsten Umgang zeigen kleine Kinder, wenn sie, die Augen schließend, meinen, nicht mehr gesehen zu werden: Ich bin weg, denn ich sehe dich nicht. Nicht allein ich verschwinde, die Welt verschwindet mit mir. Bei Peter Rühmkorf liest sich das so:
'n Ich hat irgendwie jeder, und das ist auch gar nicht so ungewaltig. / Wenn es die Augen zuklappt, / geht die Erde unter, / sind die Sterne aus.
Dies entspricht wohl auch dem Weltempfinden vorchristlicher Kulturen und Religionen. Aus heutiger Sicht mag es zugleich naiv und anmaßend erscheinen, dass die Menschen in früheren Kulturen glaubten, die Welt ginge unter, wenn sie die überlieferten Rituale nicht ausüben würden. Aber könnte dieser tief verwurzelte Glaube an die entscheidende Rolle des Einzelnen im und für das Weltgebäude nicht die Angst davor erklären, als Toter diese Rolle nicht mehr ausfüllen zu können? Würde dies nicht eine Erklärung für die Grabbeilagen liefern, die Verstorbenen mitgegeben wurden, damit sie ihre Aufgabe als Jäger, Bauer, Krieger, Priester oder Pharao auch im Jenseits erfüllen? Könnte unsere Angst vor dem Tod nicht ein Nachhall, ein Residuum jener Urangst vor dem Verschwinden der Menschheit überhaupt sein, wie sie unsere in kleinen, meist voneinander isolierten Horden lebenden Vorfahren empfunden haben mögen? Alles nur Spekulation - natürlich.
Trotzdem ist die Aufforderung Epikurs bedenkenswert. Um ihr nach zu kommen, müsste man über die Fähigkeit verfügen, sich selbst zu objektivieren, neben sich zu treten und sich als dritte Person zu sehen. In der Psychologie wird dies als Depersonalisation bezeichnet und in schwereren Fällen zu den psychischen Störungen gerechnet. Depersonalisation kann aber auch als unbewusste Schutzreaktion bei seelischem oder körperlichem Stress auftreten, z.B. kurzzeitig in Unfallsituationen (was mir selbst schon mehrfach widerfahren ist) oder langanhaltender bei physischen Misshandlungen, wie etwa Prügelstrafen, Folter oder Vergewaltigung. Wenn ich es richtig verstanden habe, trägt die buddhistische Vorstellung vom Nirwana ebenfalls Züge von Depersonalisation.
Kann man also dem Tod nur gelassen entgegen sehen, wenn man sich bereits von seinem Ich losgelöst bzw. losgesagt hat? Der Rockmusiker Maynard James Keenan hat diese Frage in zwei Texten für seine Bands Tool und A Perfect Circle (in einer möglichen Interpretation) thematisiert. In Schism (Tool, 2001) heißt es:
I know the pieces fit / 'Cause I watched them fall away / Mildewed and smouldering / Fundamental differing
und in Vanishing (APC, 2003):
Disappear / Disappear / Thinner / thinner / Into the air / Never really here / What that never / Like a thought brushing up against a sigh / Floating away.
Das auseinander gefallene Ich auf der einen Seite, auf der anderen der Wunsch zu verschwinden, als wäre man nie da gewesen. Todessehnsucht in dissoziativer Todesgelassenheit?
Verbreitet ist das Bild vom Tod als Tor, das man durchschreitet, um in ein anderes, hoffentlich besseres Leben einzutreten, etwa so wie in Stargate. Womöglich haben ja all diese Ideen von Wurmlöchern, Falträumen, transdimensionalen Reisen ihren tieferen Ursprung in der Metapher vom Tod als Tor. Die Religionen haben über das, was einen auf der anderen Seite erwartet, unterschiedliche Ansichten, häufig aber erzählen sie davon, dass man auf der anderen Seite nicht allein sein wird. Es warten die Vorfahren, mythische Gestalten und Volkshelden, Engel oder Gott selbst. Es sind dies sehr tröstliche Ideen, die den unvermeidlichen Gang durch das Tor erleichtern sollen.
Epikur zufolge, wäre auf der anderen Seite jedoch nichts. Ist schon eine Welt ohne einen selbst kaum vorstellbar, so das Nichts noch weniger. Erst recht nicht ein Tor oder eine Tür, hinter der, wenn wir sie öffnen, nichts, absolut nichts ist. Was wir uns vorstellen können, ist Leere, so wie die Leere eines Alls ohne Sterne, Planeten, Gaswolken etc. Eine Hülle ohne Inhalt - das ist unsere Vorstellung von Leere. Doch diese Leere ist nicht das Nichts. Sie ist Etwas, nur ohne Inhalt. Aber auch das ist nicht ganz korrekt, weil wir uns die leere Hülle nicht ohne einen sie umgebenden Raum denken können. Außerdem wäre diese Leere, sobald wir in sie hinein treten würden, ja nicht mehr leer. Sie enthielte ein empfindendes Bewusstsein. Wie sonst könnten wir sie wahrnehmen? Offenbar kann man sich den eigenen Tod zwar sprachlich-abstrakt denken, ihn sich jedoch nicht bildhaft-konkret vorstellen. Wer weiß, ob Epikur es wirklich konnte.
Wohin aber will Maynard James Keenan verschwinden? Vermutung: Der emotionale Teil des dissoziierten Bewusstseins sehnt sich nach Auflösung in dessen rationalem Teil. Das fühlende Ich flüchtet in die Arme des denkenden Ichs, um dem unausweichlich bevorstehenden Schmerz des Selbstverlusts im Tode zu entgehen. In einem Akt vorauseilenden Gehorsams vor dem Unausweichlichen handelt es letztmalig in freier Entscheidung und beschließt zu verschwinden, sich nötigenfalls selbst auszulöschen. Es ist ein spurloses Verschwinden, ein rückstandsfreies Ausbrennen, denn es spielt sich ausschließlich im Innern ab. Äußerlich bleibt der Mensch er selbst. So kann das dissoziierte Bewusstsein, sich selbst dabei zusehend, in rationaler Gelassenheit und ohne Angst den Tod auf sich zukommen lassen oder ihm selbstbewusst entgegen gehen.
Der Preis dafür ist freilich der Verlust des fühlenden Ichs oder zumindest seine Entkopplung vom denkenden Ich, so dass ein unmittelbares Fühlen im bewussten Sein nicht mehr stattfindet. Emotionen zeigen sich, wenn überhaupt, so vom rationalen Bewusstsein verarbeitet, reflektiert und kontrolliert. Das Unmittelbare und Spontane verschwindet, und selbst wenn es doch sporadisch ein mal auftauchen sollte, wirkt es falsch und aufgesetzt, wie von einem schlechten Schauspieler auf die Bühne getragen. Zuweilen mag das fühlende Ich sein selbstgewähltes Gefängnis verlassen, und die eingepferchten, angestauten Emotionen entladen sich in einem wilden, ungezügelten Gefühlsausbruch, in Zorn, in Euphorie, in Theatralik, in Melancholie, in Tränen und schließlich in Todessehnsucht. Nur nicht in Glück. Man höre Tool.
Für den rationalen Verstand liegt hinter dem Tod das Nichts. Das Christentum sieht dort Auferstehung und ewiges Leben als hoffnungsvolle Vorstellung, um im irdischen Leben dem Nichts den ihm eigenen lähmenden Schrecken zu nehmen. Seit langem gefällt mir die Idee der Noosphäre des russischen Geologen Wernadskij, die von Theilhard de Chardin aufgenommen und theologisch ausgestaltet wurde. Kurz gefasst beschreibt dieser Begriff eine die Erde umschließende Sphäre der menschlichen Gedanken, ursprünglich aller gedachten Gedanken, später aber auch, vor allem in der digitalen Esoterik, aller denkbaren. (Letzterer Auffassung möchte ich mich ausdrücklich nicht anschließen.) Die Noosphäre bezeichnet also den Raum reinen Geistes, bevölkert von den Resultaten menschlicher Denktätigkeit. Anders als bei Platon ist diese Welt der Ideen nicht ein für alle mal gegeben und harrt der Erkenntnis, sondern evolutioniert: Die Noosphäre entsteht und wächst nur mit und durch den Menschen. Sie ist der Ort, an den der Geist gehen kann, nachdem sich die Körperfunktionen desintegriert haben. Das Sympathische an dieser Idee besteht darin, dass sie auch denen Trost spenden kann, die nicht an Gott glauben und auch mit dem Nirvana nichts anzufangen wissen. Andererseits, und das hat Theilhard de Chardin getan, lässt sich die Noosphäre durchaus mit christlichen Jenseitsvorstellungen vereinbaren, etwa bei der Frage, wo sich die Toten bis zur Auferstehung aufhalten. So wäre das Universum ein sowohl göttlich als auch menschlich beseelter Raum: Nichts wäre nichts. Nichts ginge verloren. Nichts wäre vergeblich. Und der Tod keineswegs das Ende.