Montag, 22. Februar 2021

Die kommende Gemeinschaft. Teil 1

Es ist nicht deine Aufgabe, die Arbeit zu vollenden,
aber du hast nicht das Recht, dich ihr zu entziehen.

Rabbi Tarfon

Der Mensch lernt nicht aus Fehlern, und er lernt auch nicht aus Krisen. Fehler kann man korrigieren, Krisen überwinden. Danach geht alles weiter wie zuvor. Katastrophen mit Folgen existenzieller Art jedoch graben sich ein in das kollektive Gedächtnis. Sie können, müssen aber nicht notwendigerweise zu einer veränderten Sicht auf die Welt und auf uns selbst führen und gesellschaftlichen wie moralischen Fortschritt befördern. Im Mythos von der Sintflut könnten nach Ansicht der Wissenschaft mehrere katastrophale Naturereignisse verarbeitet worden sein – die Schmelze zum Ende der letzten Eiszeit, der Durchbruch der Landbarriere zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer oder ein Tsunami infolge eines massiven Vulkanausbruchs. Auf jeden Fall zeugt der Mythos von der existenziellen Bedrohung durch die Katastrophe und von der veränderten Weltsicht der Überlebenden.

Neben solchen Katastrophen natürlichen Ursprungs kennt die Geschichte auch Katastrophen, die vom Menschen selbst verursacht wurden. Einige Wissenschaftler meinen, dass der Zusammenbruch ganzer Hochkulturen in Mittelamerika und in Südostasien auf den extensiven Verbrauch natürlicher Ressourcen zurückzuführen ist. Für manch einen war der Zusammenbruch des institutionalisierten Sozialismus in den Jahren 1989/90 eine Katastrophe, eine Katastrophe mit Ansage. Ich führe dieses Ereignis deshalb an, weil es m. E. zeigt, dass eine gerade eben noch machtvoll und stabil erscheinende Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit aufgrund unbewältigter innerer Widersprüche kollabieren kann.

Die aktuelle, seit über einem Jahr anhaltende Corona-Pandemie ist zweifelsohne eine Krise globalen Ausmaßes. Niemand kann sicher prognostizieren, wie lange sie noch anhalten und wie die Welt aus ihr herauskommen wird. Nicht ausgeschlossen ist, dass die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ein solches Ausmaß annehmen, dass es zu erheblichen politischen Instabilitäten bis hin zu Unruhen und Aufständen kommt. So jedenfalls sehen es italienische Politologen, die den Verlauf und die politischen Folgen vergangener Epidemien untersucht haben. Andere, wie der renommierte US-Ökonom Nouel Roubini, prognostizieren für die kommenden Jahre eine größere wirtschaftliche Depression. Ungeachtet dessen ist bislang nicht absehbar, dass die Pandemie-Krise zu einer Katastrophe eskaliert. Viel wird wohl davon abhängen, ob es den Gesellschaften gelingt, in den Vor-Corona-Modus zurückzukehren, auch wenn genau das vielen, eher linken Aktivisten nicht wünschenswert erscheint. Der Soziologe Armin Nassehi etwa meinte im Mai 2020 auf zeit.de: „Man kann an diesen Krisenfolgen sehr deutlich sehen, wie fragil diese so stabile Gesellschaft immer schon war und wie sehr sie auf Kante genäht ist: Sie scheint in ihrer dynamischen Stabilität davon abhängig zu sein, dass es weitergeht wie bisher. Nicht weil sie so stabil ist, ist es schwer in die Dynamik der Gesellschaft einzugreifen, sondern weil diese Stabilität so sehr von sensiblen Konstellationen abhängig ist.“ Das heißt, auch wenn man sich weitgehend darüber einig ist, dass der globalisierte Kapitalismus eine ursächliche Mitverantwortung für den Ausbruch der Pandemie trägt, muss es zunächst, wie bei der Bewältigung der letzten Finanzmarktkrise, darum gehen, diesen Kapitalismus in traditioneller sozialdemokratischer Manier vor sich selbst zu retten, indem die Staaten ihm mit Unmengen von Geld Zeit erkaufen und so, getreu dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: „Alles ist besser als der Tod.“, die ökonomische Katastrophe vorerst abzuwenden versuchen.

Grundlegend anders verhält es sich m. E. n. mit der Klimakrise. Hier sehe ich nicht, wie innerhalb der herrschenden Wirtschaftsweise die Katastrophe verhindert werden könnte. Dass das Zwei-Grad-Ziel erreicht wird, ist mindestens unwahrscheinlich, und, selbst wenn dies gelingen sollte, wären die Auswirkungen doch so gravierend, dass das politische und ökonomische System zusammenbrechen könnte. Nach Ansicht des Soziologen Wolfgang Streeck würde sich der Kollaps in einer Abfolge kleinerer und größerer Krisen vollziehen, die irgendwann einmal nicht mehr vom Staat, dem Reparaturbetrieb des Kapitalismus, gerichtet werden könnten, weil der Staat selbst, aufgrund der zunehmenden Instabilität der menschlichen Existenzbedingungen zusammenbrechen würde.

Was aber tritt an die Stelle des zusammengebrochenen Staates? Wie könnten sich Menschen organisieren, wenn eine Gesellschaft im eigentlichen Sinne nicht mehr existiert? Und wie könnte dann ein postkapitalistisches Wirtschaften aussehen? Antworten auf diese Fragen zu suchen und zu finden, wäre eigentlich Aufgabe der sozialistischen Linken. Ihre Aufgabe wäre es, die Idee des Sozialismus als realer Alternative zum Kapitalismus und als dessen Nachfolger auszuarbeiten und, wo irgend möglich, auch auszutesten. Nur hat aber die sozialistische Linke seit Langem schon ein Defizit im Bereich der gesellschaftlichen Utopie und der politischen Theorie.

Marx hatte (gemeinsam mit Engels) früh die Vorstellung entwickelt, dass irgendwann – er hoffte, möglichst bald - die Produktivkraftentwicklung in einen unauflösbaren Widerspruch zu den kapitalistischen Produktions-, insbesondere den Aneignungs- und Verteilungsverhältnissen geraten würde, nachzulesen u.a. im Kommunistischen Manifest von 1848. Den Nachweis dieser Prognose sollte die Kritik der politischen Ökonomie, besser bekannt als Das Kapital, erbringen. Die Auflösung des Widerspruchs sollte demnach in einer proletarischen Revolution erfolgen, die die Menschheit aus dem „Reich der Notwendigkeit“ in das „Reich der Freiheit“ führen würde. Als Wirtschaftshistoriker analysierte Marx, wie im Schoße der feudalistischen Gesellschaftsformation die ökonomischen Keimzellen der nachfolgenden bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Er konnte oder wollte hingegen keine entsprechenden Prognosen für den Kapitalismus entwickeln. Auch das berühmte „Maschinenfragment“ gibt darüber keine Auskunft. Da die Sozialdemokratie in den ersten Jahrzehnten nach Marx sich im Wesentlichen der unmittelbaren Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter und damit objektiv der Stabilisierung des Kapitalismus verschrieben hatte, entwickelte sie auch keine nennenswerte Staats- und Gesellschaftstheorie. Und bei Lenin reichte es lediglich zu einer Revolutionstheorie der Diktatur des Proletariats mit den hinlänglich bekannten praktischen Folgen.

Es kann eigentlich nur der Ungeduld der kommunistischen Parteien geschuldet sein, dass sie die Krisen nach den beiden Weltkriegen als die Krisen des Kapitalismus schlechthin und deshalb diese als Kairos zur Machtübernahme ansahen, wiewohl doch die Keimzellen einer neuen, postkapitalistischen Wirtschaftsweise noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen waren. Das führte eben dazu, dass die materiellen Realisierungen des orthodoxen Marxismus-Leninismus in Gestalt der Länder des (wahlweise) Rohen Kommunismus (Peter Ruben) oder Frühsozialismus (Herbert Hörz) sich lediglich experimentierend von Parteitag zu Parteitag, von Fünfjahrplan zu Fünfjahrplan hangelten, ohne dass den jeweiligen Experimenten andere langfristige strategische Überlegungen zu Grunde lagen, als den weiter entwickelten Kapitalismus ökonomisch einzuholen oder gar zu überflügeln. So gesehen kann die Wirtschaftspolitik der KP Chinas seit den 1980er Jahren auch dahingehend verstanden werden, dass unter ihrer politischen Führung eben jenes Niveau der Produktivkraftentwicklung erreicht werden soll, das nach der marxschen Vorstellung mit der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr vereinbar ist, deren systemische Begrenztheiten sprengt und zum Sozialismus/Kommunismus führt.

Ich fürchte hingegen, uns bleibt nicht mehr genügend Zeit. Weder für das krisenhafte Scheitern des Kapitalismus an sich selbst, denn es ist ja nicht wirklich abzusehen, dass er die weitere Entwicklung bei Digitalisierung, Robotisierung, Biotechnologie und grüner Energie resp. Kernfusion nicht doch im Griff haben könnte, noch für den Erfolg der chinesischen Strategie. Aktuelle linke Konzepte, wie etwa das der Multitude von Hardt und Negri oder das populistische Politikmodell von Chantal Mouffe, bieten keine realistischen Perspektiven. So wäre es vielleicht angebracht, einen Schritt zurück zu treten und zu schauen, ob sich nicht im weiten Feld linksbürgerlicher Theorien Quellen progressiven Denkens finden lassen, die für eine renovierte Idee des Sozialismus fruchtbar gemacht werden können. Aus meiner Sicht bieten sich dafür zwei Denkrichtungen an, die beide ihren Ursprung in Nordamerika haben: Der Pragmatismus und der Kommunitarismus. Warum gerade diese beiden?

Obwohl von orthodox-marxistischer Position vehement kritisiert, steht doch der Pragmatismus, vornehmlich in den Schriften von George Herbert Mead, John Dewey und zuletzt Richard Rorty, dem Marxismus insofern nahe, als er den Menschen aus dessen Einbettung in die soziale Wirklichkeit zu erklären versucht und, ganz im Geiste der 11. Feuerbach-These, Philosophie als Praxis der Weltveränderung begreift. Daneben versteht der Pragmatismus gesellschaftliche Veränderungen als grundlegend experimentell. Mit dieser Interpretation befinde ich mich in der Gesellschaft von Hans Joas, der gleich zu Beginn seiner Mead-Studie Praktische Intersubjektivität diese mit „einer gegenwartsadäquaten Formulierung des historischen Materialismus“ in Verbindung bringt. Ein ähnliches Ziel verfolgt Horst Müller mit seiner, an Marx anschließenden Praxisphilosophie. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass, hätte Friedrich Engels sehr viel länger gelebt oder wäre ein Marxist von vergleichbarem intellektuellen Kaliber Zeitgenosse von Dewey und Mead gewesen, er deren Ideen aufgenommen und für den historischen Materialismus fruchtbar gemacht hätte. Jürgen Habermas hat dies später versucht, sich dabei jedoch verhoben und eindeutig in Richtung Idealismus vergaloppiert.

Der Kommunitarismus entstand in den 1980er Jahren als sozial- und politikphilosophische Alternative zum Neoliberalismus, der, entgegen aller historischen Evidenz, das entgrenzte Individuum, den nutzenoptimierenden Homo oeconomicus postuliert. Kommunitaristisches Denken, etwa bei Charles Taylor, Michael Walzer oder Amitai Etzioni, fokussiert die soziale Gemeinschaft als unabdingbare Voraussetzung für menschliches Handeln und Individualität. In dieser Positionierung trifft es sich sowohl mit dem Pragmatismus als auch mit dem Marxismus. Der untergegangene Staatssozialismus verstand sich selbst zwar nicht als Gemeinschaft sondern als Gesellschaft, das reale, praktische Leben jedoch war weitgehend kommunitaristisch angelegt, insbesondere in der DDR, wo Gemeinschaftlichkeit als Selbstorganisation in verschiedensten Kontexten einerseits die materiellen Auswirkungen der Mangelwirtschaft und andererseits die mentalen Verwerfungen durch staatliche Eingriffe in die Lebenswelt der Bürger kompensieren half. Dieser De-Facto-Kommunitarismus konnte hier auf eine tiefverwurzelte preußisch-protestantische Grundhaltung des Anstands und der gegenseitigen Achtung in Verbindung mit kleinbürgerlicher Tugendethik aufsetzen.

In den (irgendwann) folgenden Teilen dieses Textes sollen in erster Linie nicht die philosophischen Denkgebäude von Pragmatismus und Kommunitarismus untersucht, sondern vielmehr, unter Berücksichtigung der neomarxistischen Praxisphilosophie, die Tauglichkeit dieser Denkrichtungen für die Entwicklung politisch-ökonomischer Alternativen für die Zeit nach einem möglichen, klimabedingten Totalzusammenbruch ausgelotet werden.

Die kommende Gemeinschaft. Teil 2

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...