Sonntag, 23. Dezember 2012

Kann man wollen, was man will?

I

In seinem äußerst lesenswerten Buch „Geist, Sprache und Gesellschaft“1 befasst sich der amerikanische Philosoph John R. Searle hauptsächlich mit dem ersten der drei titelgebenden Phänomene und erläutert dabei auch seine Position zum Thema Wil­lensfreiheit. Die Frage nach der Möglichkeit und der Natur des freien Willens wird seit Jahrhunderten nicht nur in der Philosophie kontrovers diskutiert. Auch John Searle beantwortet die Frage nicht, er legt aber eine interessante Darstellung des Sachverhalts vor, die ich zum besseren Verständnis zunächst kurz referieren werde, um im Anschluss eigene Ansichten zu Searles Position und zur Frage selbst zu entwi­ckeln.
Dem Bewusstsein widmet John Searle die drei zentralen Kapitel von „Geist, Sprache und Gesellschaft“. Für Searle lässt sich das Bewusstsein biologisch als ein höherstufi­ges Merkmal des Gehirns mit der besonderen Eigenschaft der Subjektivität, also der Fähigkeit zur Ich-Perspektive verstehen. Neben der Subjektivität eignet dem Be­wusstsein Intentionalität. Mit diesem Terminus wird das Vermögen des Bewusst­seins bezeichnet, sich auf etwas zu beziehen. Gemeint ist damit schlichtweg, dass ein Gedanke einen gedachten Inhalt hat (Man denkt nicht einfach nur, man denkt et­was.), eine Wahrnehmung einen wahrgenommenen Gegenstand (Man sieht nicht einfach nur, man sieht etwas.), ein Wunsch eine gewünschte Sache (Man wünscht nicht einfach nur, man wünscht etwas.). Spätestens seit Descartes Meditationen stel­len Philosophen die Frage nach der Möglichkeit intentionaler Verursachung, danach also, wie intentionale psychische Zustände (Überzeugungen, Wünsche, Absichten) kausal in die reale Welt wirken und so materielle Phänomene2 verursachen können. Um zu einer Lösung zu gelangen, erklärt Searle zunächst sein Verständnis von Kau­salität, indem er sich vom mechanistischen Modell der Verursachung, wie es von Da­vid Hume vertreten wurde und nach Searles Meinung noch immer von einer Mehr­heit der Philosophen vertreten wird, klar abgrenzt, um anschließend zu erläutern, wie aus seiner Sicht intentionale Verursachung funktioniert.
Über den Körper hat das Bewusstsein eine basale Beziehung zur realen Welt. Inten­tionale Zustände repräsentieren die reale Welt oder sie imaginieren, wie die reale Welt sein sollte. Diese Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt bezeichnet Searle als Ausrichtung eines intentionalen Zustands. Die Beziehung der Ausrichtung kann eine Welt-auf-Geist-Ausrichtung oder eine Geist-auf-Welt-Ausrichtung sein: „Überzeugungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen haben die Geist-auf-Welt-Ausrichtung, weil es ihr Ziel ist, zu repräsentieren, wie die Dinge sind. Wünsche und Absichten haben die Welt-auf-Geist-Ausrichtung, weil es ihr Ziel ist, nicht zu repräsentieren, wie die Dinge sind, sondern wie wir sie gerne hätten bzw. wie wir sie zu machen gedenken.“3 Wie man weiß, kann das Bewusstsein auch auf sich selbst ausgerichtet sein – dann ist es Selbstbewusstsein und hat eine Null-Ausrichtung.
Entscheidend für das Verständnis der Ausrichtung von Intentionalität ist nach Searle der Begriff der Erfüllung: „Ein intentionaler Zustand ist erfüllt, wenn die Welt so ist, wie der intentionale Zustand sie repräsentiert.“4 Das bedeutet, bei Geist-auf-Welt-Ausrichtung ist der intentionale Zustand erfüllt, wenn er die Welt (weitgehend) rich­tig repräsentiert. Hier wirkt die kausale Verursachung von der Welt auf den Geist. Bei Welt-auf-Geist-Ausrichtung ist der intentionale Zustand erfüllt, wenn die Welt (weit­gehend) so ist, wie er sie haben wollte. Die kausale Verursachung wirkt also vom Geist auf die Welt.
So weit, so verständlich, so plausibel. Oder auch nicht.
Intentionale Verursachung sei entscheidend für das Verständnis unseres Verhaltens, schreibt Searle: „Wenn menschliches Verhalten rational ist, beruht es auf Gründen, aber die Gründe erklären das Verhalten nur, wenn die Beziehung zwischen dem Grund und dem Verhalten sowohl eine logische als auch eine kausale ist. In Erklärun­gen rationalen menschlichen Verhaltens wird somit wesentlich vom Werkzeug der in­tentionalen Verursachung Gebrauch gemacht.“5 Er verdeutlicht dies am Beispiel der rational nachvollziehbaren Beweggründe Hitlers, die Sowjetunion zu überfallen (d.i. Wunsch nach Lebensraum im Osten), die allerdings nicht ausreichend gewesen seien, dieses Vorhaben auch auszuführen, da Hitler sich trotz seiner Beweggründe auch an­ders hätte entscheiden können. Searle kommt zu dem Schluss, dass die Erklärung menschlichen Verhaltens mittels intentionaler Verursachung nicht deterministisch ist, es also keinen hinreichenden kausalen Zusammenhang zwischen intentionalen Zuständen und menschlichen Handlungen gibt, ausgenommen pathologische Fälle, wie Sucht oder Zwangsstörung: „Wenn ich mein eigenes Verhalten damit erkläre, daß ich die Überzeugungen und Wünsche angebe, die mein Handeln motiviert haben, dann impliziere ich damit normalerweise nicht, daß ich mich nicht hätte anders verhalten können.“6 Searle diagnostiziert eine Lücke zwischen den intentionalen Gründen der Entscheidung und der Entscheidung selbst, sowie eine weitere Lücke zwischen der Entscheidung und dem Vollzug der Handlung. Damit gemeint sind nicht zeitliche oder logische Lücken, sondern kausale Lücken, die Ausdruck dessen seien, was wir Willensfreiheit nennen. Unser Handeln ist nicht vollständig determiniert, weder durch äußere, objektive noch durch innere, subjektive Tatbestände. Searle, wie viele andere Philosophen, sieht eben darin eine Erklärungslücke.
Meiner Ansicht nach gibt es diese Lücke nicht. Es gibt offensichtlich das Phänomen des freien Willens und das der Handlungsfreiheit, und wir empfinden auch die von Searle festgestellten Lücken, nur eine Erklärungslücke kann ich nicht sehen. Ich be­streite, dass intentionale Zustände das Handeln nicht vollständig determinieren kön­nen, behaupte vielmehr, dass Willensfreiheit ein psychologisches Phänomen ist, nicht aber eine geistesphilosophische Kategorie und werde im Folgenden versuchen, dies zu begründen.

II

Das Gehirn, das menschliche zumal, ist ein hochkomplexes System. Der Hirnforscher Wolf Singer meint: "Das Gehirn ist ein klassisches komplexes System, weil es aus sehr vielen Elementen besteht, die miteinander verkoppelt sind und auf diese Weise eine Dynamik entwickeln können, die charakteristisch ist für komplexe Systeme. Es kommt noch hinzu, dass die Dynamik, die sich daraus entwickelt, eine nichtlineare Dynamik ist. Es ist ein nichtlineares komplexes System und wahrscheinlich das kom­plexeste, dass wir auf der Erde überhaupt kennen.“7
Komplexität bezeichnet die Eigenschaft eines Systems, dass man sein Gesamtverhal­ten selbst dann nicht beschreiben kann, wenn man vollständige Infor­mationen über seine Einzelkomponenten und ihre Wechselwirkungen besitzt. Die Komplexität eines Systems steigt mit der Anzahl an Elementen, der Anzahl der Verknüpfungen zwischen diesen Elementen sowie der Funktionalität dieser Verknüpfungen.
Aus der Systemtheorie weiß man, dass komplexe Systeme bzw. Modelle komplexer Systeme sich dadurch auszeichnen, dass ihre mathematische Beschreibung, wenn sie denn überhaupt bekannt ist, nichtlinear ist. Darauf bezieht sich auch Wolf Singer. Das wohl vertrauteste Beispiel eines nichtlinearen komplexen Systems ist die Erdat­mosphäre. Zu deren mathematischer Beschreibung dienen die Lorenz-Gleichungen, ein System nichtlinearer Differentialgleichungen, dessen numerische Lösungen ein grafisches Gebilde ergeben, das als Lorenz-Attraktor8 bekannt ist.
Ein wesentliches Verhaltenselement komplexer dynamischer Systeme sind Bifurka­tionen. Das sind zeitliche Verzweigungspunkte, an denen der weitere Prozess offen ist, d.h. er ist nicht eindeutig determiniert, hat gewissermaßen die freie Wahl. Unmit­telbar vor der Bifurkation ist die Chaoszone, die diese Wahl erlaubt. Bifurkationen entstehen aus geringfügen Fluktuationen in chaotischen Prozessen durch Rückkopp­lungs- und daraus resultierende Verstärkungseffekte. Dadurch wird eine der Zu­kunftsoptionen, die dem Prozess vor dem Verzweigungspunkt offen stehen, bevorzugt und eben realisiert.
Nebenbei, während meiner Doktorandenzeit in den 1980er Jahren gab es an unserer Uni eine mathematische Forschungsgruppe, die sich mit eben diesen Bifurkati­onsphänomenen in nichtlinearen dynamischen Prozessen befasst hat. Die Theorie vom Chaos und von Katastrophen, von Bifurkationen, Fraktalen und dissipativen Prozessen war damals dank der Arbeiten von Mandelbrot, Thom, Zeeman und Prigo­gine9 schwer in Mode. Ein paar Jahre später begegnete mir das Phänomen auch in praxi, als ich Strömungsvorgänge in Atomkraftwerksarmaturen zu berechnen hatte. Die mathematische Simulation des Schließprozesses einer Schnellschlussarmatur, deren Aufgabe es sein sollte, im Störfall selbsttätig, binnen einer Sekunde ein Kühl­rohr von 1 m Durchmesser abzuschotten, ließ keine zuverlässigen Vorhersagen des Systemverhaltens zu. Die numerischen Näherungsrechnungen bifurgierten und di­vergierten - und zwar desto stärker und desto schneller, je feiner das Näherungsgitter war.
Nun könnte man meinen, es läge nur an der Schwäche unserer physikalischen Model­le und mathematischen Methoden, dass solche nichtlinearen komplexen Systeme nicht prognostizierbar sind, und die Fortschritte der Wettervorhersage auf der Grundlage immer besserer Modelle und immer leistungsfähigerer Computer scheinen das zu bestätigen. Instabilität, Chaos, Bifurkationen und abrupte, ka­tastrophale Ver­änderungen des Systemverhaltens sind jedoch intrinsische Merkmale nichtlinearer dynamischer Prozesse. Der entscheidende Unterschied zwischen li­nearen und nichtli­nearen Systemen besteht darin, dass bei letzteren winzigste Verän­derungen der Aus­gangsparameter gravierende Konsequenzen für das Systemverhal­ten haben können. Der bekannte Butterfly-Effekt10 zeigt dies anschaulich.
In den Naturwissenschaften ist man sich weitgehend darüber einig, dass aus der Nichtvorhersehbarkeit nichtlinearer dynamischer Systeme nicht auf deren Indeter­miniertheit geschlossen werden kann. Vielmehr ist es wohl so, dass die in der Heisenb­ergschen Unbestimmtheitsrelation11 ausgedrückten absoluten Grenzen der Messgenauigkeit den Spielraum für die Ausgangsparameter liefern, der eben wegen der intrinsischen Systemeigenschaften zu Bifurkationen mit unvorhersehbarem Aus­gang führt. Auf einem mikroskopischen Raum-Zeit-Niveau sind Bifurkationen an­scheinend determiniert, weshalb auch von deterministischen chaotischen Prozessen gesprochen wird, nur lässt sich diese Determiniertheit nicht beobachten.

III

Doch zurück zur Willensfreiheit, zum Gehirn und zu John Searle. Es wurde versucht, die mit den diagnostizierten Lücken inkriminierte Indeterminiertheit unter Bezug auf die Quantenmechanik und deren statistische Interpretation zu deuten. Neurophysio­logische Prozesse seien ja elektrische und elektrochemische Prozesse auf molekularer und z.T. subatomarer Ebene, und da dort die Gesetze der Quantenphysik wirksam seien, wären auch die neurophysiologischen Prozesse im Hirn diesen unterworfen.12 Das heißt, in der Lücke zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung wie auch in der Lücke zwischen Entscheidung und Handlung würde der quantenphysikalische Zufall walten. Auch John Searle neigt zu solchen Überlegungen, wie er vor einigen Jahren in einem FAZ-Interview äußerte13.
Die rein quantenmechanische Argumentation leuchtet nicht so recht ein, denn das Gehirn besteht zwar wie alle materiellen Objekte dieser Welt aus Quanten, ist selbst jedoch ein makroskopisches und kein quantenmechanisches System. Ich glaube auch nicht, dass es der Berufung auf die Quantenphysik bedarf, um die Lücken zu schlie­ßen. Betrachtet man nämlich das Gehirn als dynamisches und als biologisches Sys­tem, sollten die folgenden Aspekte, die ich nachfolgend näher erläutern werde, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken:

(1) Biologische Systeme sind selbst organisierende Systeme fernab des thermo­dynamischen Gleichgewichtszustands.
(2)   Alle realen Prozesse haben eine Richtung in der Zeit.
(3)   Die Kausalität in der klassischen Physik ist zeitsymmetrisch.
Die letzte Feststellung ist Ausdruck der Tatsache, dass der Kausalitätsbegriff in der klassischen Physik zwar mit dem Zeitbegriff verwoben ist, in seiner Verwendung in klassischen physikalischen Modellen aber insofern zeitunabhängig, als die Gleichun­gen zeitsymmetrisch sind. Dies gilt für die klassische Mechanik wie auch für die Re­lativitätstheorie. Erst in der statistischen Thermodynamik und in der Quantenphysik wird diese formale Zeitsymmetrie aufgehoben. Mit den Gesetzen der klassischen (ma­kroskopischen) Physik können Prognosen in beide Zeitrichtungen angestellt werden. Aus dem bekannten Jetztzustand eines Systems können sowohl die Systemzustände in der Zukunft als auch die Systemzustände in der Vergangenheit zuverlässig berech­net werden. Aus dem Jetztzustand des Universums bspw. kann auf seine weitere Ent­wicklung geschlossen werden, es lassen sich aber auch seine früheren Zustände bis kurz nach dem Urknall rekonstruieren. Die Kausalität in der klassischen Physik ist also auch in dem Sinne zeitsymmetrisch, als nicht nur von einer bekannten Ursache auf eine Wirkung geschlossen werden kann, sondern auch umgekehrt von einem bekann­ten Zustand auf dessen Ursache.
Dass John Searle Lücken zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung sowie zwischen Entscheidung und Handlung sieht, zeigt, dass er diesen klassischen Kausa­litätsbegriff verwendet, was insofern verwundert als er ja selbst, wie oben angemerkt, das von Hume inspirierte mechanistische Verständnis von Verursachung als überholt charakterisiert hatte. Er möchte von der Handlung auf die Entscheidung schließen können und von der Entscheidung auf den intentionalen Zustand. Was wir bei anderen Menschen zuallererst wahrnehmen, ist ihr Handeln - alles Weitere ist Zuschreibung. Die Erklärung der kausalen Beziehung zwischen Handlung und Entscheidung muss also zunächst von der wahrgenommenen Handlung ausgehen, wozu auch das Sprechen über diese Handlung gehört. Die Erklärungslücke entsteht nur dann, wenn die Erklärung folgendermaßen von statten gehen soll:
  1. Wir sehen die Handlung H von Person P.
  2. Anhand der Handlung H stellen wir die Hypothese auf, Person P habe die Entscheidung Eh getroffen, Handlung H auszuführen.
  3. Anhand der Entscheidung Eh von Person P stellen wir wiederum die Hypo­these auf, Person P habe den intentionalen Zustand Ih gehabt, Handlung H ausführen zu wollen.
Eine Erklärung von Handlung H wäre nun, unter der Annahme des Vorhandenseins von Ih bei P zunächst Eh und daraus H kausal abzuleiten. Dies aber wäre die Anwen­dung des Kausalitätsverständnisses der klassischen Physik. Das moderne Verständnis von Kausalität berücksichtigt hingegen die Existenz von deterministischen chaoti­schen Systemen:
Man sagt, B hängt kausal von A ab (oder: A verursacht B), wenn
  1. A zeitlich vor B liegt,
  2. die Wahrscheinlichkeit dafür, dass B eintritt, wenn A eingetreten ist, höher ist als die Wahrscheinlichkeit dafür, dass B eintritt, ohne dass A eingetreten ist.
In dieser modernisierten Formulierung ist der Kausalitätsbegriff grundsätzlich asym­metrisch gegenüber der Zeitrichtung und damit adäquater zu der in (2) festgestellten zeitlichen Gerichtet­heit realer Prozesse: Aus dem Eintreten von B kann nun nichts Verlässliches mehr über das Ein­treten von A geschlussfolgert werden, denn B hätte auch ohne A eintreten können, nur wäre das womöglich sehr unwahrscheinlich gewe­sen. Dieses Verständnis von Kausalität vorausgesetzt, verschwinden die Erklärungs­lücken umgehend. Zur Erläu­terung werde ich (1) heranziehen.
Aussage (1) besagt, dass biologische Systeme - auch das Gehirn - Systeme sind, die
  • offen sind und permanent mit ihrer Umwelt Materie und Energie austauschen (Stoffwechsel),
  • mittels des Stoffwechsels ihre eigenen Strukturen aufrechterhalten (Struktur­bildung im thermodynamischen Nichtgleichgewicht sowie Homöostase),
  • sich selbst organisieren in dem Sinne, dass sie ihren Systemzustand selbststän­dig an Veränderungen äußerer oder innerer Faktoren anpassen (adaptive Selbstregulation).
Das dritte Merkmal ist hier das entscheidende, denn die Selbstregulation basiert auf Rückkopplung. Das System bewertet mehr oder weniger regelmäßig seinen eigenen Zustand und verändert diesen bei Bedarf mittels entsprechender Rückkopplungsme­chanismen so lange, bis wieder ein optimaler Zustand erreicht ist. Da das System auf dieser Ebene noch kein Gedächtnis im eigentlichen Sinne hat, muss es vom festge­stellten Jetztzustand auf die Gründe und Ursachen der Abweichung vom optimalen Zustand schließen. Dass dies im Regelfall zuverlässig funktioniert, ist der Evolution geschuldet, die dafür sorgt, dass eben nur zuverlässig arbeitende, stoffwechselnde und selbstregulierende Systeme überleben - das Gedächtnis ist ein genetisches. Feh­ler aufgrund von Fehlinterpretation sind dabei bekanntlich nicht ausgeschlossen. Man denke nur an Allergien und Autoimmunerkrankungen.
Auf der Ebene der höheren geistigen Funktionen, um die es ja bei der Fragestellung eigentlich geht, geschieht etwas Ähnliches: Um für sich die Begründung einer Hand­lung H aus einer Entscheidung Eh zu liefern und einer Entscheidung Eh aus einem in­tentionalen Zustand Ih, muss das Gehirn die Erklärungsschritte a, b und c vollzie­hen. Es muss Hy­pothesen über vorangegangene eigene Systemzustände anstell­en und bewerten, ob diese hypo­thetischen Zustände das Zustandekommen von H bewirkt haben könnten. Zum Glück haben wir nicht nur ein genetisches Gedächt­nis sondern auch ein neuronales, in dem vorangegangene Systemzustände als Erin­nerungen gespeichert sind. Das Gehirn ist aber ein nichtlineares komplexes System und als biologisches System zu allem Überfluss auch noch ein thermodynamisches Nichtgleichgewichtssystem. Jedes Aufstellen von Hypothesen, jede Suche im Ge­dächtnis und jedes Vergegenwärtigen von Gedächtnisinhalten und damit früheren Systemzuständen verändert, wie jede geistige Funktion, das System selbst, bewirkt Rückkopplungen, kurzzeitige chaotische Prozesse und Bifurkationen, deren Auslöser unklar und deren Ausgang unvorhersehbar ist. Dem Gehirn bleibt dann nur die Inter­pretation von plausiblen kausalen Zusammenhängen anhand von Wahrscheinlichkei­ten im Sinne von Teil 2 der obigen Kausalitätsdefinition.

IV

Was subjektiv als Willens- bzw. Handlungsfreiheit erscheint, könnte tatsächlich nichts weiter sein als eine Selbstzuschreibung aufgrund des Fehlens anderer Anhalts­punkte für das Zustandekommen von Entscheidungen und Handlungen. Die ent­scheidungsrelevanten Parameter sind aus den im Gedächtnis abgelegten Systemzu­ständen wegen ihrer ursprünglichen Irrelevanz für das Gesamtsystem nicht mehr re­konstruierbar. Auch dies eine Konsequenz der Komplexität des Systems. Wenn wir eine Entscheidung treffen, dann tun wir dies nicht nur aufgrund eines bestimmten in­tentionalen Zustands (z.B. Wünschen), sondern bewerten, welche Folgen die Hand­lung, für die wir uns zu entscheiden gedenken, für uns und für andere haben könnte. Wir stellen Prognosen über die Zukunft an, und je schwerwiegender die möglichen Folgen der Handlung erscheinen, desto langwieriger und konzentrierter ist der Ent­scheidungsprozess, desto mehr Parameter und Einflussfaktoren fließen ein und desto überlegter erscheint dann die Handlung. Nun weiß jeder, dass je schwerwiegender eine getroffene Entscheidung war, umso tiefer hat sie sich - und mit ihr der Entschei­dungsprozess mit all seinen Parametern und Einflussfaktoren - ins Gedächtnis ein­gegraben. Die Parameter und Einflussfaktoren könnten nämlich von höchster Relevanz für die künftige Bewertung von Systemzuständen sein, werden deshalb gespeichert und sind so später auch leichter rekonstruierbar. Solch schwerwiegende Entschei­dungen (z.B. zu heiraten) erscheinen retrospektiv als erheblich folgerichtiger, deter­minierter und subjektiv weniger frei getroffen als irgendwelche x-beliebigen All­tagsentscheidungen (z.B. ein Bier zu trinken). Andererseits kann es auch sein, dass, je mehr subjektive Gründe ich retrospektiv für meine Entscheidung anführen kann, umso selbstbestimmter, umso freier getroffen erscheint sie mir und anderen.
Das von John Searle diagnostizierte Problem der Willensfreiheit, die als Phänomen in kausalen Erklärungslücken zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung sowie Entscheidung und Handlung erscheint, ist nach meiner Überzeugung kein philoso­phisches sondern ein rein psychologisches Thema. Allenfalls kann sich noch die Neu­robiologie damit auseinander setzen. Wie so viele psychische Phänomene erschließt sich das Problem, das die Willensfreiheit für die Philosophie darstellt, aus der Selbs­treferenzialität unseres Denkens: Das Gehirn, ein komplexes nichtlineares System, interpretiert seine eigenen Systemzustände. Der Philosoph nun versucht, über die Welt und damit freilich auch über sich selbst als einem Vertreter der Gattung Mensch von einer möglichst objektiven Position aus nachzudenken. Thomas Nagel hat die­sem Grundwiderspruch allen Philosophierens seine fundamentale Abhandlung „Der Blick von Nirgendwo“14 gewidmet. Von Kurt Gödel und Alan Turing haben wir ge­lernt, dass Selbstreferenzialität unweigerlich zu Widersprüchen führt - so vergleichs­weise einfache Gedankengebäude wie die elementare Arithmetik oder die theoreti­sche Informatik scheitern bei dem Versuch, ihre eigene Schlüssigkeit nachzuweisen, an der Möglichkeit von Selbstreferenzialität. Besteht nicht umso mehr Grund zu der Annahme, dass der Mensch bei dem Versuch scheitern sollte, die Schlüssigkeit seiner eigenen Entscheidungen und Handlungen zu erklären?
Unser, auch psychisch wirksamer Selbsterhaltungstrieb hat sich den freien Willen wohl als Selbstzuschreibung konstruiert. Was schlussendlich nicht heißen soll, dass ich ein Gegner der Willensfreiheit bin. Im Gegenteil, subjektiv bestehe ich darauf, nur denke ich auch, dass diese Kategorie ihren Platz in der Moral- und Rechtsphilosophie hat und zwar genau in dem oben intendierten Sinn der Fähigkeit des Individuums, die Folgen des eigenen Handelns hinreichend prognostizieren und bewerten zu können. In diesem ju­ristischen und meinetwegen auch alltäglichen Kontext hat der Begriff der Willensfrei­heit einen Sinn und eine Berechtigung.

Und was die Eingangsfrage, "Kann man wollen, was man will?" betrifft, ich weiß es nicht, schätze aber, die Antwort lautet: Nein.

1 John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. Suhrkamp 2004
2 wie natürlich auch fremdpsychische Phänomene. Vgl. auch Thomas Nagel. Was bedeutet das alles? Reclam 1984, Kap. 3: Das Fremdpsychische
John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. S. 124
4 ebenda, S. 125
5 ebenda, S. 129
6 ebenda, S. 129f
12 u.a. Roger Penrose. Computerdenken. Spektrum 1991
14 Thomas Nagel. Der Blick von Nirgendwo. Suhrkamp 1992

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