Dienstag, 15. August 2017

Hauptsache Materialist

Anmerkungen zur offiziellen Heidegger-Rezeption in der DDR
In der Sowjetunion wie in den anderen Staaten des seinerzeitigen Ostblocks, einschließlich der DDR, gehörte zum Curriculum jedes Studiums eine Unterweisung im Marxismus-Leninismus. In meinem persönlichen Fall (siehe den Exkurs Nr. 2 in Fremd sein, Teil 2) umfasste dieses Pflichtprogramm die Geschichte der KPdSU, dialektischen und historischen Materialismus, die politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus sowie den so genannten wissenschaftlichen Kommunismus. Später (als Doktorand) kam noch ein wirklich hochinteressantes und erfrischend unideologisches Seminar zur Natur- und Wissenschaftsphilosophie hinzu.
Im Rahmen der Vorlesungen und Seminare zum dialektischen und historischen Materialismus, welch letztere als die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse deklariert wurden, war von Philosophie wenig die Rede, und das, obwohl es sich bei den beiden Materialismen unzweifelhaft um philosophische Lehrgebäude handelt. Mit der Philosophie im eigentlichen Sinne wurde sich lediglich historisch-kritisch beschäftigt, insofern Philosophen vor Marx und Engels als irgendwie geartete Vorläufer oder aber als bürgerliche und damit grundsätzlich idealistische Weltanschauungs­antipoden zum dialektischen und historischen Materialismus dargestellt wurden. Zur ersten Kategorie gehörten Spinoza, Hegel und Feuerbach, alle anderen, wie Descartes, Locke, Hume, Kant oder Fichte, zur letzteren.
Im offiziellen Kanon war mit dem Marxismus die Philosophie – in einem quasi hegelianischen Impetus - an ihr historisches Ende gekommen. Lediglich Lenin, der 1908 mit „Materialismus und Empiriokritizismus“ eine relativ unbedeutende und nur im Kontext innerparteilicher Auseinandersetzungen der russischen Sozialdemokratie verständliche philosophische Arbeit verfasst hatte und ansonsten eher als Partei-, Revolutions- und Staatstheoretiker anzusehen ist, wurde gleichsam noch als das Siegel des Marxismus vermittelt, um den Begriff Marxismus-Leninismus auch philosophiehistorisch zu rechtfertigen. Wie dieses Lehrgebäude auszusehen hatte, lässt sich am besten anhand des Stalinschen Aufsatzes „Über dialektischen und historischen Materialismus“ vom September 19381 nachvollziehen, der weniger als Erläuterung, denn als unmittelbares Parteidekret verstanden werden muss.
In den dem Normalbürger zugänglichen Quellen kam Philosophie nach Marx nicht vor. Die bürgerlich-idealistischen Machwerke der Nietzsches, Wittgensteins oder Sartres wurden im ideologischen Giftschrank verwahrt, damit jener Normalbürger ja nicht mit dem zersetzenden Gedankengut der dem Individualismus und der intellektuellen Dekadenz verfallenen spätbürgerlichen Weltanschauungen infiziert würde. Zwar gab es wohl die Schriftenreihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“ der Akademie der Wissenschaften, ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, Texte dieser Reihe je in einer Buchhandlung gesehen zu haben.
Umso größer war meine Überraschung, als 1988 im VEB Bibliographisches Institut Leipzig die „Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert“2 (im Folgenden kurz: Enzyklopädie) erschien. Herausgeber war Manfred Buhr, der Leiter des Zentralinstituts für Philosophie bei der Akademie der Wissenschaften der DDR; zu den Autoren gehörten der Leibniz-Biograf Hans Heinz Holz, Werner Rügemer, der inzwischen als streitbarer Publizist einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, sowie auch der Physiker und Romanautor John Erpenbeck, Vater der bekannten Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Über Zweck und Stoßrichtung der Enzyklopädie schreibt Manfred Buhr in seiner Vorbemerkung, dass sie „versucht, die grundlegenden Tendenzen, Strukturen, Denkweisen, Knotenpunkte und Einschnitte des spätbürgerlichen Bewusstseins nachzuzeichnen, seine historischen Ursprünge bloßzulegen, seinen philosophisch-systematischen Ort aufzuhellen und seinen gesellschaftlichen Stellenwert festzuhalten.“3
Die Enzyklopädie ist nicht lexikalisch nach Stichworten gegliedert, sondern thematisch, nach verschiedenen philosophiesystematischen Schwerpunkten. Die entsprechenden Kapitel, etwa Metaphysik, Ethik oder Naturphilosophie, werden von je einem oder zwei Autoren verantwortet und umfassen eine historische Einordnung des Themas, die Diskussion der wichtigsten Vertreter und ihrer Theorien sowie deren Wertung aus marxistischer Sicht. Trotz der grundsätzlich negativen Wertungen bietet die Enzyklopädie einen, wie ich finde, sehr guten Überblick über und Einblick in das philosophische Denken nach Hegel und Feuerbach, die nach Friedrich Engels´ Aufsatz aus dem Jahr 1886 den „Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“4 verkörpern.5 Und wenn mir bei der Lektüre philosophischer, soziologischer, psychologischer oder auch historischer Texte der Name eines Denkers des 19. oder 20. Jahrhunderts begegnet, schaue ich gern auch in die Enzyklopädie.
Eine Vorlesung zur Phänomenologie von der Philosophischen Audiothek der Uni Wien, die sich wesentlich mit Husserl und Heidegger befasst, veranlasste mich nun kürzlich, wieder dort nachzuschlagen und zu schauen, was denn „unsere Marxisten“ von der Phänomenologie im Allgemeinen und von Heidegger im Besonderen hielten.
Martin Heidegger, jener höchst einflussreiche wie ambivalente Denker, jener „Meister aus Deutschland“ (Rüdiger Safranski), Heidegger, der Apologet des radikal vereinzelten Subjekts und des Daseins zum Tode, wie anders sollte er von den Marxisten rezipiert worden sein, denn als exemplarischer Vertreter des „spätbürgerlichen Individualismus und der intellektuellen Dekadenz“?
Im Personenregister der Enzyklopädie werden unter dem Namen Martin Heidegger 43 Erwähnungen angeführt. Damit ist er neben Dilthey, Jaspers, Nietzsche, Schopenhauer und Weber die meisterwähnte Person. Eine eingehende Behandlung erfährt Heideggers Denken unter den systematischen Stichwörtern Idealismus, Metaphysik, Geschichts­philosophie, philosophische Anthropologie, Hermeneutik sowie Technikphilosophie. Daneben wird Heidegger auch des Öfteren als Gewährsmann für jene grundlegenden Tendenzen und Denkweisen des spätbürgerlichen Bewusstseins in Anspruch genommen, von denen in Buhrs Vorbemerkung die Rede war. Die Phänomenologie, derentwegen ich überhaupt erst in der Enzyklopädie nach Heidegger geschaut hatte, wird dort innerhalb des Hermeneutik-Kapitels behandelt.
Bemerkenswert scheint mir nun, dass Rezeption und Bewertung der Philosophie Heideggers in der Enzyklopädie, namentlich in den Kapiteln Metaphysik (Hans Heinz Holz), Geschichtsphilosophie (Friedrich Tomberg) und Hermeneutik (Jörn Schreiter), im Großen und Ganzen überraschend positiv ausfallen. Bezugnehmend auf Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“ wird ihm zugute gehalten, dass er „mit einem sicheren methodischen Zugriff auf die metaphysische Form der Widerspiegelung einer historischen Realität – die gesellschaftliche Situation und ihren sozialphilosophischen Reflex in den Rang einer fundamentalen Seinsverfassung erhob“6. Mit keinem Wort wird erwähnt, um welche historische Realität es sich 1927  bei Erscheinen von „Sein und Zeit“ handelte7, und schon gar nicht wird hier, wie auch in der weiteren Diskussion auf Heideggers Rolle im Nationalsozialismus eingegangen, der erst kürzlich mit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte eine weitere Facette hinzugefügt worden ist. Gleichsam abgehoben von den konkreten historischen Umständen wird Heideggers Denken zum Ausdruck „der Krisenstimmung des Niedergangs der bürgerlichen Klasse und der Überhöhung der allgemeinen Krise des Kapitalismus zum Seinsgeschick der menschlichen Gattung schlechthin.“8 stilisiert. Heidegger erscheint hier insofern für den Marxismus anschlussfähig, als er, anders als der im Text direkt vor ihm behandelte Existenzialist Jean-Paul Sartre und in genereller Abgrenzung von der seit Kant vorherrschenden Subjektphilosophie, seine Fundamentalontologie vom konkreten materiellen Sein des Subjekts aus entwickelt und damit „unter verschwiegener Aufnahme Marxscher Erkenntnisse“9 das spätbürgerliche Krisenbewusstsein in eine weltanschaulich leistungsfähige Verfallsmetaphysik zu fassen vermag. In dieser Bewertung lässt sich leicht die herausgehobene Rolle Heideggers als Gewährsmann der marxistischen Autoren für ihre eigenen Diagnosen ausmachen. Vorgeworfen wird ihm lediglich, dass er mit seinem an und für sich fruchtbaren „begrifflichen Instrumentarium“ auf einer deskriptiven Ebene verbleibt und nicht zur materialistischen Destruktion seiner eigenen Ontologie vordringt. Diese Rezeption der Metaphysik Heideggers erinnert wohl nicht zufällig an den Versuch Herbert Marcuses in „Der eindimensionale Mensch“, diese für den Marxismus methodisch fruchtbar zu machen.
Im Kapitel Geschichtsphilosophie wird Heidegger unumwunden attestiert, seine Metaphysikkritik halte sich „dem Anschein nach im Zuge einer von allen Idealismen sich entschälenden materialistischen Weltauffassung.“10 Das kann auch nicht verwundern, war doch „Sein und Zeit“ zu einer Zeit erschienen, da sich nach der mit dem Großen Krieg einhergehenden Großen Katastrophe die alten philosophischen wie politischen Ismen des langen 19. Jahrhunderts sämtlichst verschlissen hatten. Unter Bezugnahme auf den „Brief über den Humanismus“ von 1947 wird Heidegger positiv angerechnet, er habe „den in der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus sich bekundenden Epochenumbruch wie wohl kein anderer spätbürgerlicher Philosoph begrifflos [sic!] hinschauend wahrgenommen...“.11 Und so wird denn im Weiteren überraschenderweise Heideggers Geschichtsauffassung aus „Sein und Zeit“ bis hin zu seinem späteren Technikskeptizismus auch völlig kritiklos referiert, als könne marxistische Philosophie sich diese zu eigen machen. Im schönsten Heideggerisch heißt es da unkommentiert: „Das Dasein ist geschichtlich, weil es überhaupt nur existiert, indem es sich die gewesenen Möglichkeiten als ein Erbe erschließt ... Die historische Erschließung der Geschichte ist also an ihr selbst in der Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt. Geschichtlich ist das Dasein, weil es zeitlich ist, das heißt, weil es die Gegenwart nur innehat, indem es sich auf seine wesentliche Vergangenheit, seine Gewesenheit als auf seine Zukunft hin entwirft. Wenn aber Dasein nur das Da des Seins ist, dann muss auch Sein als solches eine Geschichte haben, wofern nicht Sein und Seinsgeschichte überhaupt identisch sind.“12
Der fundamentalontologischen Grundlegung der Hermeneutik durch Martin Heidegger widmet die Enzyklopädie einen ganzen Abschnitt (S. 424 – 429). Dargestellt werden neben Heideggers, aus seinem Theologiestudium resultierender, persönlicher Motivation für die Beschäftigung mit der Hermeneutik der Dissens mit seinem Lehrer Edmund Husserl bzgl. der Anwendung der Phänomenologie auf die existentiale Analytik des Daseins und anderer Aspekte der Fundamentalontologie wie auch das lebenslange Ringen mit der Frage, was „Sein“ eigentlich sei, auf die er (Heidegger) die Antwort jedoch schuldig geblieben sei. Etwas unklar ist die Darstellung in der Frage, ob es Heidegger nun kritisch anzurechnen sei, dass er mit seiner Fragestellung in das metaphysische Denken vor Kant und Fichte zurückgefallen ist.
Alles in allem erscheint die Heidegger-Rezeption in der Enzyklopädie merkwürdig abgehoben sowohl von der realen Person Martin Heidegger als auch vom zutiefst ambivalenten politischen Kontext der Entstehungszeit seiner Philosophie. Augenscheinlich war den Autoren der Enzyklopädie Heideggers Positionierung in der Grundfrage aller Philosophie, der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein13 , deren Diskussion innerhalb der marxistischen Philosophie immer eine zentrale Rolle gespielt hat, von so überragender Bedeutung, dass andere Aspekte seines Denkens, wie etwa seine ideelle und institutionelle Verstrickung in den Nationalsozialismus, als nachgerade vernachlässigbar angesehen werden. Gleichwohl unterstreicht die Enzyklopädie Heideggers zentrale Rolle für die (bürgerliche) Philosophie und instrumentalisiert ihn gern und häufig als Kronzeugen im Tribunal gegen den Idealismus (im Besonderen Nietzsche) und alles nichtmarxistische Denken im 20. Jahrhundert.
1J.Stalin. Fragen des Leninismus. Berlin 1951. S. 647ff
2Manfred Buhr (Hrsg.) Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert. Leipzig 1988
3Ebenda, S. 6
4Friedrich Engels. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: MEW, Bd. 21, S. 274-282
5Aus diesem Text stammt auch der berühmte Satz: „Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein.“, der uns damals in völliger Verflachung seiner eigentliche Intention als die Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein und Materie verkauft wurde.
6Enzyklopädie, S. 147
7Als literarisches Pendant zu „Sein und Zeit“ kann wohl Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ von 1929 angesehen werden.
8Ebenda, S. 147
9Ebenda, S. 147f
10Ebenda, S. 326
11Ebenda, S. 326
12Ebenda, S. 327
13Vgl. Fußnote 2

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...