Anmerkungen
zur offiziellen Heidegger-Rezeption in der DDR
In
der Sowjetunion wie in den anderen Staaten des seinerzeitigen
Ostblocks, einschließlich der DDR, gehörte zum Curriculum jedes
Studiums eine Unterweisung im Marxismus-Leninismus. In meinem
persönlichen Fall (siehe den Exkurs Nr. 2 in Fremd
sein, Teil 2) umfasste dieses Pflichtprogramm die Geschichte der
KPdSU, dialektischen und historischen Materialismus, die politische
Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus sowie den so genannten
wissenschaftlichen Kommunismus. Später (als Doktorand) kam noch ein
wirklich hochinteressantes und erfrischend unideologisches Seminar
zur Natur- und Wissenschaftsphilosophie hinzu.
Im
Rahmen der Vorlesungen und Seminare zum dialektischen und
historischen Materialismus, welch letztere als die wissenschaftliche
Weltanschauung der Arbeiterklasse deklariert wurden, war von
Philosophie wenig die Rede, und das, obwohl es sich bei den beiden
Materialismen unzweifelhaft um philosophische Lehrgebäude handelt.
Mit der Philosophie im eigentlichen Sinne wurde sich lediglich
historisch-kritisch beschäftigt, insofern Philosophen vor Marx und
Engels als irgendwie geartete Vorläufer oder aber als bürgerliche
und damit grundsätzlich idealistische Weltanschauungsantipoden
zum dialektischen und historischen Materialismus dargestellt wurden.
Zur ersten Kategorie gehörten Spinoza, Hegel und Feuerbach, alle
anderen, wie Descartes, Locke, Hume, Kant oder Fichte, zur
letzteren.
Im
offiziellen Kanon war mit dem Marxismus die Philosophie – in einem
quasi hegelianischen Impetus - an ihr historisches Ende gekommen.
Lediglich Lenin, der 1908 mit „Materialismus und
Empiriokritizismus“ eine relativ unbedeutende und nur im Kontext
innerparteilicher Auseinandersetzungen der russischen
Sozialdemokratie verständliche philosophische Arbeit verfasst hatte
und ansonsten eher als Partei-, Revolutions- und Staatstheoretiker
anzusehen ist, wurde gleichsam noch als das Siegel
des Marxismus vermittelt, um
den Begriff Marxismus-Leninismus auch philosophiehistorisch zu
rechtfertigen. Wie dieses Lehrgebäude auszusehen hatte, lässt sich
am besten anhand des Stalinschen Aufsatzes „Über dialektischen und
historischen Materialismus“ vom September 19381
nachvollziehen, der weniger als Erläuterung, denn als unmittelbares
Parteidekret verstanden werden muss.
In
den dem Normalbürger zugänglichen Quellen kam Philosophie nach Marx
nicht vor. Die bürgerlich-idealistischen Machwerke der Nietzsches,
Wittgensteins oder Sartres wurden im ideologischen Giftschrank
verwahrt, damit jener Normalbürger ja nicht mit dem zersetzenden
Gedankengut der dem Individualismus und der intellektuellen Dekadenz
verfallenen spätbürgerlichen Weltanschauungen infiziert würde.
Zwar gab es wohl die Schriftenreihe „Zur
Kritik der bürgerlichen Ideologie“ der Akademie der
Wissenschaften, ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, Texte
dieser Reihe je in einer Buchhandlung gesehen zu haben.
Umso
größer war meine Überraschung, als 1988 im VEB Bibliographisches
Institut Leipzig die „Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie
im 19. und 20. Jahrhundert“2
(im Folgenden kurz: Enzyklopädie)
erschien. Herausgeber war Manfred
Buhr, der Leiter
des Zentralinstituts für Philosophie bei der Akademie
der Wissenschaften der DDR; zu
den Autoren gehörten der Leibniz-Biograf Hans
Heinz Holz, Werner
Rügemer, der inzwischen als streitbarer Publizist einen gewissen
Bekanntheitsgrad erreicht hat, sowie auch der Physiker und
Romanautor John
Erpenbeck, Vater der bekannten Schriftstellerin Jenny
Erpenbeck. Über Zweck und Stoßrichtung der Enzyklopädie
schreibt Manfred Buhr in seiner Vorbemerkung, dass sie „versucht,
die grundlegenden Tendenzen, Strukturen, Denkweisen, Knotenpunkte und
Einschnitte des spätbürgerlichen Bewusstseins nachzuzeichnen, seine
historischen Ursprünge bloßzulegen, seinen
philosophisch-systematischen Ort aufzuhellen und seinen
gesellschaftlichen Stellenwert festzuhalten.“3
Die
Enzyklopädie
ist nicht lexikalisch nach Stichworten gegliedert, sondern
thematisch, nach verschiedenen philosophiesystematischen
Schwerpunkten. Die entsprechenden Kapitel, etwa Metaphysik, Ethik
oder Naturphilosophie, werden von je einem oder zwei Autoren
verantwortet und umfassen eine historische Einordnung des Themas, die
Diskussion der wichtigsten Vertreter und ihrer Theorien sowie deren
Wertung aus marxistischer Sicht. Trotz der grundsätzlich negativen
Wertungen bietet die Enzyklopädie einen, wie ich finde, sehr guten
Überblick über und Einblick in das philosophische Denken nach Hegel
und Feuerbach, die nach Friedrich Engels´ Aufsatz aus dem Jahr 1886
den „Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“4
verkörpern.5
Und wenn mir bei der Lektüre philosophischer, soziologischer,
psychologischer oder auch historischer Texte der Name eines Denkers
des 19. oder 20. Jahrhunderts begegnet, schaue ich gern auch in die
Enzyklopädie.
Eine
Vorlesung
zur Phänomenologie von der Philosophischen
Audiothek der Uni Wien, die
sich wesentlich mit Husserl und Heidegger befasst, veranlasste mich
nun kürzlich, wieder dort nachzuschlagen und zu schauen, was denn
„unsere Marxisten“ von der Phänomenologie im Allgemeinen und von
Heidegger im Besonderen hielten.
Martin
Heidegger, jener höchst einflussreiche wie ambivalente Denker,
jener „Meister aus Deutschland“ (Rüdiger Safranski), Heidegger,
der Apologet des radikal vereinzelten Subjekts und des Daseins zum
Tode, wie anders sollte er von den Marxisten rezipiert worden sein,
denn als exemplarischer Vertreter des „spätbürgerlichen
Individualismus und der intellektuellen Dekadenz“?
Im
Personenregister der Enzyklopädie werden unter dem Namen
Martin Heidegger 43 Erwähnungen angeführt. Damit ist er neben
Dilthey, Jaspers, Nietzsche, Schopenhauer und Weber die meisterwähnte
Person. Eine eingehende Behandlung erfährt Heideggers Denken unter
den systematischen Stichwörtern Idealismus, Metaphysik,
Geschichtsphilosophie, philosophische Anthropologie, Hermeneutik
sowie Technikphilosophie. Daneben wird Heidegger auch des Öfteren
als Gewährsmann für jene grundlegenden Tendenzen und Denkweisen des
spätbürgerlichen Bewusstseins in Anspruch genommen, von denen in
Buhrs Vorbemerkung die Rede war. Die Phänomenologie, derentwegen ich
überhaupt erst in der Enzyklopädie nach Heidegger geschaut
hatte, wird dort innerhalb des Hermeneutik-Kapitels behandelt.
Bemerkenswert
scheint mir nun, dass Rezeption und Bewertung der Philosophie
Heideggers in der Enzyklopädie,
namentlich in den Kapiteln Metaphysik (Hans Heinz Holz),
Geschichtsphilosophie (Friedrich Tomberg) und Hermeneutik (Jörn
Schreiter), im Großen und Ganzen überraschend positiv ausfallen.
Bezugnehmend auf Heideggers Hauptwerk „Sein
und Zeit“ wird ihm zugute gehalten, dass er „mit einem
sicheren methodischen Zugriff auf die metaphysische Form der
Widerspiegelung einer historischen Realität – die
gesellschaftliche Situation und ihren sozialphilosophischen Reflex in
den Rang einer fundamentalen Seinsverfassung erhob“6.
Mit keinem Wort wird erwähnt, um welche historische Realität es
sich 1927 bei Erscheinen von „Sein und Zeit“ handelte7,
und schon gar nicht wird hier, wie auch in der weiteren Diskussion auf
Heideggers Rolle
im Nationalsozialismus eingegangen, der erst kürzlich mit der
Veröffentlichung der Schwarzen
Hefte eine weitere Facette hinzugefügt worden ist. Gleichsam
abgehoben von den konkreten historischen Umständen wird Heideggers
Denken zum Ausdruck „der Krisenstimmung des Niedergangs der
bürgerlichen Klasse und der Überhöhung der allgemeinen Krise des
Kapitalismus zum Seinsgeschick der menschlichen Gattung
schlechthin.“8
stilisiert. Heidegger erscheint hier insofern für den Marxismus
anschlussfähig, als er, anders als der im Text direkt vor ihm
behandelte Existenzialist Jean-Paul
Sartre und in genereller Abgrenzung von der seit Kant
vorherrschenden Subjektphilosophie, seine Fundamentalontologie vom
konkreten materiellen Sein des Subjekts aus entwickelt und damit
„unter verschwiegener Aufnahme Marxscher Erkenntnisse“9
das spätbürgerliche Krisenbewusstsein in eine weltanschaulich
leistungsfähige Verfallsmetaphysik zu fassen vermag. In dieser Bewertung
lässt sich leicht die herausgehobene Rolle Heideggers als
Gewährsmann der marxistischen Autoren für ihre eigenen Diagnosen
ausmachen. Vorgeworfen wird ihm lediglich, dass er mit seinem an und
für sich fruchtbaren „begrifflichen Instrumentarium“ auf einer
deskriptiven Ebene verbleibt und nicht zur materialistischen
Destruktion seiner eigenen Ontologie vordringt. Diese Rezeption der
Metaphysik Heideggers erinnert wohl nicht zufällig an den Versuch
Herbert
Marcuses in „Der
eindimensionale Mensch“, diese
für den Marxismus methodisch fruchtbar zu machen.
Im
Kapitel Geschichtsphilosophie wird Heidegger unumwunden attestiert,
seine Metaphysikkritik halte sich „dem Anschein nach im Zuge einer
von allen Idealismen sich entschälenden materialistischen
Weltauffassung.“10
Das kann auch nicht verwundern, war doch „Sein und Zeit“ zu einer
Zeit erschienen, da sich nach der mit dem Großen Krieg
einhergehenden Großen Katastrophe die alten
philosophischen wie politischen Ismen des langen 19. Jahrhunderts
sämtlichst verschlissen hatten. Unter Bezugnahme auf den „Brief
über den Humanismus“
von 1947 wird Heidegger positiv angerechnet, er habe „den in der
wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus sich
bekundenden Epochenumbruch wie wohl kein anderer spätbürgerlicher
Philosoph begrifflos [sic!] hinschauend wahrgenommen...“.11
Und so wird denn im Weiteren überraschenderweise Heideggers
Geschichtsauffassung aus „Sein und Zeit“ bis hin zu seinem
späteren Technikskeptizismus auch völlig kritiklos referiert, als
könne marxistische Philosophie sich diese zu eigen machen. Im
schönsten Heideggerisch heißt es da unkommentiert: „Das Dasein
ist geschichtlich, weil es überhaupt nur existiert, indem es sich
die gewesenen Möglichkeiten als ein Erbe erschließt ... Die
historische Erschließung der Geschichte ist also an ihr selbst in
der Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt. Geschichtlich ist das
Dasein, weil es zeitlich ist, das heißt, weil es die Gegenwart nur
innehat, indem es sich auf seine wesentliche Vergangenheit, seine
Gewesenheit als auf seine Zukunft hin entwirft. Wenn aber Dasein nur
das Da des Seins ist, dann muss auch Sein als solches eine Geschichte
haben, wofern nicht Sein und Seinsgeschichte überhaupt identisch
sind.“12
Der
fundamentalontologischen Grundlegung der Hermeneutik durch Martin
Heidegger widmet die Enzyklopädie
einen ganzen Abschnitt (S. 424 – 429). Dargestellt werden neben
Heideggers, aus seinem Theologiestudium resultierender, persönlicher
Motivation für die Beschäftigung mit der Hermeneutik der Dissens
mit seinem Lehrer Edmund
Husserl bzgl. der Anwendung der Phänomenologie auf die
existentiale Analytik des Daseins und anderer Aspekte der
Fundamentalontologie wie auch das lebenslange Ringen mit der Frage,
was „Sein“ eigentlich sei, auf die er (Heidegger) die Antwort
jedoch schuldig geblieben sei. Etwas unklar ist die Darstellung in
der Frage, ob es Heidegger nun kritisch anzurechnen sei, dass er mit
seiner Fragestellung in das metaphysische Denken vor Kant und Fichte
zurückgefallen ist.
Alles
in allem erscheint die Heidegger-Rezeption in der Enzyklopädie
merkwürdig abgehoben sowohl von der realen Person Martin Heidegger
als auch vom zutiefst ambivalenten politischen Kontext der
Entstehungszeit seiner Philosophie. Augenscheinlich war den Autoren
der Enzyklopädie Heideggers Positionierung in der Grundfrage
aller Philosophie, der Frage
nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein13
, deren Diskussion innerhalb der marxistischen Philosophie immer eine
zentrale Rolle gespielt hat, von so überragender Bedeutung, dass
andere Aspekte seines Denkens, wie etwa seine ideelle und
institutionelle Verstrickung in den Nationalsozialismus, als
nachgerade vernachlässigbar angesehen werden. Gleichwohl
unterstreicht die Enzyklopädie Heideggers zentrale Rolle für die
(bürgerliche) Philosophie und instrumentalisiert ihn gern und häufig
als Kronzeugen im Tribunal gegen den Idealismus (im Besonderen
Nietzsche) und alles nichtmarxistische Denken im 20. Jahrhundert.
1J.Stalin.
Fragen des Leninismus. Berlin 1951. S. 647ff
2Manfred
Buhr (Hrsg.) Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und
20. Jahrhundert. Leipzig 1988
3Ebenda,
S. 6
4Friedrich
Engels. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen
Philosophie. In: MEW, Bd. 21, S. 274-282
5Aus
diesem Text stammt auch der berühmte Satz: „Die
große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach
dem Verhältnis von Denken und Sein.“, der uns damals in völliger
Verflachung seiner eigentliche Intention als die Frage nach dem
Verhältnis von Bewusstsein und Materie verkauft wurde.
6Enzyklopädie,
S. 147
7Als
literarisches Pendant zu „Sein und Zeit“ kann wohl Alfred
Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ von 1929 angesehen
werden.
8Ebenda,
S. 147
9Ebenda,
S. 147f
10Ebenda,
S. 326
11Ebenda,
S. 326