Dienstag, 8. März 2022

Россия капут

Ein Lamento

Donnerstag, der 24. Februar 2022, war einer der traurigsten Tage meines bisherigen Lebens. Das, was bis auf die US-amerikanischen Geheimdienste niemand ernsthaft für möglich gehalten hatte, dass Wladimir Putin den Befehl zum großflächigen militärischen Angriff auf die Ukraine geben könnte, war geschehen. Einen Tag nach dem Feiertag der Roten Armee, der inzwischen Tag des Verteidigers des Vaterlandes genannt wird, und 100 Jahre nach dessen Einführung durch Lenin, beging die Nachfolgerin eben jener Roten Armee das Sakrileg eines Angriffskriegs gegen das eigene Volk.

Ich sage bewusst, „gegen das eigene Volk“, weil Putin in ideologischer Vorbereitung dieses Krieges der Ukraine das Existenzrecht als eigenständige Nation abgesprochen und sie zum historisch verbrieften Teil Russlands erklärt hatte. Ich oute mich nun als jemand, der bis vor Kurzem ähnlich dachte. Das soll nicht heißen, ich hätte der Ukraine das staatliche Existenzrecht abgesprochen, nur als Nation im üblichen Sinne einer historisch gewachsenen Menschengruppe, die über gemeinsame Sprache, Traditionen, Sitten und Gebräuche verfügt und sich dadurch signifikant von anderen unterscheiden lässt, konnte ich weder die Ukraine noch Belarus sehen. Zu lang ist die gemeinsame Geschichte, zu vielfältig die kulturellen, familiären und auch wirtschaftlichen Verflechtungen von Russen, Ukrainern und Weißrussen. Es gab zwar kurze Episoden der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, begleitet auch von einem militanten Separatismus, zu einem wirklichen Nation Building ist es dabei allerdings nicht gekommen – das scheint nun wohl der Krieg zu bewirken.

An jenem Donnerstag war ich erschüttert und eben tief traurig, denn, wie an anderer Stelle erwähnt, verbindet mich mit Russland meine eigene, ganz persönliche Geschichte. Acht der besten Jahre meines Lebens habe ich in St. Petersburg (damals noch Leningrad) verbracht, habe dort den Alltag als Student und später als Doktorand gelebt, hatte Freunde und Liebesbeziehungen und war zum Ende hin gefühlt mehr Russe als Deutscher. Und weil das so war, und weil das in Teilen auch Jahrzehnte später immer noch so ist, empfinde ich den Angriff auf die Ukraine auch als Angriff auf meine Person. Putin hat damit mein Bild von Russland und die tiefsitzenden Überzeugungen, die ich über dieses Land und seine Bewohner hatte, vollends und endgültig zerstört. Er hat mich eines wesentlichen Teils meiner Persönlichkeit beraubt. Моя Россия капут.

Dieser Krieg wird nicht nur von einem Präsidenten und einer Handvoll Generälen geführt. Krieg führen Soldaten, und, um einen solchen Krieg zu führen, braucht es, anders als in Afghanistan, Syrien oder auch Georgien, den Rückhalt der eigenen Bevölkerung. Dass die Unterstützung für den Krieg von zuletzt angeblich 70 % der russischen Bevölkerung nur auf Desinformation und Propaganda zurückzuführen wäre, kann ich nicht glauben. Vielmehr denke ich, dass mein Russlandbild schlicht falsch war. Es war geprägt von der persönlichen Erfahrung des Lebens in einer sehr modernen, kulturell hochentwickelten und vergleichsweise weltoffenen Metropole, vom akademischen Milieu, in dem ich mich naturgemäß fast ausschließlich bewegte und das man heute wohl als Filterblase bezeichnen würde, und auch von den ersten Jahren der Perestroika, mit der wir so viel Hoffnung verbanden. Bei drei berufsbedingten Moskau-Aufenthalten in der chaotischen Jelzin-Periode Mitte der 1990er Jahre bekam das Bild schon einige Risse, allerdings nur bedingt durch die unübersehbaren Zeichen des einsetzenden Turbokapitalismus (marxistisch gesprochen, der ursprünglichen Kapitalakkumulation).

Was ich, wie sicher viele andere „Russland-Versteher“, nicht gesehen habe und vielleicht auch nicht sehen wollte, war, wie durchmilitarisiert die Sowjetunion war und in deren Nachfolge die Russische Föderation anscheinend wieder ist. Die alltägliche öffentliche Präsenz von uniformierten Militärangehörigen in vergleichsweise großer Zahl erschien seinerzeit ganz normal. Studenten mussten sich einer militärischen Ausbildung unterziehen, Studentinnen wurden zu Krankenschwestern qualifiziert. Der Kult der Weltkriegsveteranen wie auch des воин, des Kriegers schlechthin, war allgegenwärtig. Zu schweigen natürlich von den Militärparaden am Tag des Sieges. Wenn denn die Militarisierung in den Jelzin-Jahren abgeschwächt worden war, so wurde sie unter Putin definitiv wieder verstärkt. Was ich damit sagen will, ist, bei der russischen haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, der vor allem aufgrund der fast durchgehend gewalthaltigen Sowjetgeschichte und anders als den postheroischen Gesellschaften (Herfried Münkler) Westeuropas das Kriegführen nie fremd geworden ist. Das ist es, was ich, ungeachtet des Winterkriegs von 1939, ungeachtet der Okkupation Ostpolens in Umsetzung des Hitler-Stalin-Pakts, ungeachtet der Einmärsche in Ungarn und der Tschechoslowakei und ungeachtet der hinlänglich bekannten postsowjetischen Militäraktionen offenkundig verdrängt hatte.

Lenin – Stalin – Putin. Welch merkwürdige Reihung. Drei Personen, die entschlossen waren bzw. sind, Millionen von Menschen der Verwirklichung ihrer Ideen zu opfern. Lenin im Verein mit Trotzki der Weltrevolution, Stalin mit seinen wechselnden Helfershelfern dem Sozialismus in einem Land, Putin im Verbund mit Lawrow und Shoigu dem Wiedererstarken Russlands als Weltmacht. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Aggressionen, an dem auch die Sowjetunion ihren Anteil hatte, wenngleich der Große Vaterländische Krieg und mit ihm die Befreiung Ostdeutschlands und Osteuropas vom Nationalsozialismus sich wohl am tiefsten in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Danach haben wir, gerade wir Deutschen, Russland stets beurteilt. Und das wird auch seine Berechtigung gehabt haben, nun jedoch kann dies nicht mehr geltend gemacht werden. Der historische Kredit, den Russland weltweit trotz allem immer noch genossen hat, ist aufgebraucht. Auch bei mir.

Die Linke, zumal die marxistische, ist unfähig, Erklärungen für das ökonomisch wie politisch so irrationale Agieren des russischen Präsidenten zu finden. War Robespierre ein Verbrecher? Wenn ja, dann war es Lenin auch. Putin ist es zweifellos. Man sucht nach rational nachvollziehbaren Gründen für den Überfall auf die Ukraine und findet keine. Der Beitritt der ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten zur NATO war m. E. n. keinem aggressiven Impetus des Nordatlantikpakts geschuldet. Angesichts der Erfahrungen zwischen 1945 und 1989 suchten sie schlichtweg Schutz unter dem Schirm vornehmlich der USA. Ich will die NATO hier nicht besser machen als sie ist. Höchstwahrscheinlich wäre es vernünftiger gewesen, sie hätte es dem Warschauer Vertrag gleich getan und sich in den 1990er Jahren aufgelöst. Trotzdem muss man konstatieren, dass es Nationalstaaten waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg offensive Kriege führten, solo oder in wechselnden Koalitionen. Es war nicht die NATO. Einzig der Kosovo-Krieg 1999, den die NATO als reinen Luftkrieg mit Flugzeugen, Raketen und Marschflugkörpern gegen Serbien führte und der maßgeblich durch deutsche Politiker, namentlich Joschka Fischer und Rudolf Scharping, verbal befeuert wurde, muss bis in diese Tage als vermeintlicher Beweis für die Aggressivität der NATO herhalten und auch dafür, dass Putins Forderungen der NATO gegenüber berechtigt seien. Dass es beim Kosovo-Krieg nicht um die Okkupation eines souveränen Staates ging, wird dabei vorsätzlich ausgeblendet. Dass die NATO Russland bedrohe, gehört zu den Scheinargumenten der russischen Führung, genauso wie die Behauptung, in Kiew säße eine nazistische Verbrecherbande, die man im Interesse des ukrainischen Volkes entmachten müsse.

Den Zerfall der Sowjetunion als die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen, ist angesichts der beiden Weltkriege eine anmaßende Übertreibung. Aber Putin hätte sicher Recht, wenn hinter dieser Behauptung der Gedanke stünde, dass der Zerfall der Sowjetunion den Zustand der Welt keinesfalls verbessert hat. In den Nachfolgestaaten der UdSSR, ausgenommen die drei baltischen, erstarkte der Nationalismus und es herrschen bis heute autoritäre, korrupte Kleptokraten, gestützt von oligarchischen Wirtschaftseliten, deren Reichtum geradewegs aus der dreisten Aneignung und Ausbeutung des vormaligen Volks- respektive Staatseigentums stammt. Zuallererst aber trifft dies zu auf Russland selbst.

Nein, Putin ist sicher nicht das russische Volk, und er vertritt es auch nicht. Im Gegenteil, er selbst und seine engen Vertrauten stehen nur für sich, eine erzreaktionäre, nationalistische, kleptokratische Clique, die in einer Zeit, wo wir wahrlich genügend andere Menschheitsprobleme zu bewältigen haben, womöglich nicht einmal davor zurückschrecken würde, die Welt in die nukleare Katastrophe zu manövrieren.

Ich glaube immer noch, die Russen wollen keinen Krieg. Und doch führen sie ihn. Wie nur konnte es soweit kommen?

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