Donnerstag, 29. Dezember 2011

Kain von Jose Saramago


Eine der merkwürdigsten und zugleich legendärsten  Gestalten des Alten Testaments ist Kain. Kain, der Ackerbauer, wird in Gen 4,1 als Adams und Evas Erstgebore­ner eingeführt. Weil der HERR Kains Opfer von den Früchten des Feldes nicht annahm und statt dessen das Lammopfer von Kains Bruder Abel bevorzugte, erschlug Kain seinen Bruder. Zur Strafe vertrieb der HERR den Kain von sei­nem Acker und verurteilte ihn zur unsteten Existenz eines Vogelfreien. Zu­gleich zeichnete ihn der HERR mit dem berühmten Kainsmal, das ihn vor ge­waltsamem Tod bewahren sollte. Kain zog gen Osten in das Land Nod, das Land des Wanderns, wo er heiratete, Kinder zeugte und eine Stadt mit dem Namen seines ersten Sohns Henoch gründete. Am Ende der Kain-Dynastie ste­hen dann Lamech und einige Stammväter diverser archaischer Berufsgrup­pen. Damit endet die biblische Geschichte von Kain und seinen Nachkommen ziemlich abrupt, denn im folgenden Gen 5 wird der Stammbaum von Adam an noch einmal aufgebaut. Nach dem Fiasko mit Kain und Abel wird ausgehend von Set der zweite Versuch unternommen, eine anständige Menschheit zu eta­blieren.
Diesen Kain nun hat Jose Saramago zum Titelhelden seines letzten Romans gemacht, um mit ihm und durch ihn furios mit Gott abzurechnen. Bei Saramago ist Kain der große Gegenspieler Gottes, der selbstbestimmte, emanzipierte Mensch. Kain kennt seinen HERRN und lernt ihn im Verlauf der Handlung im­mer besser kennen. Schon der Brudermord an Abel ist Vergeltung für die Gefall- und Eifersucht des HERRN. Da er Gott nicht töten kann, tötet Kain Gottes Liebling. Das Kalkül ist durchaus perfide: Außer Kain hat Gott nun keinen Enkel mehr, denn Set ist noch nicht geboren, zu mal der in diesem Er­zählstrang der Genesis gar nicht vorkommt. Gott kann Kain also nicht umbrin­gen, ohne sein Projekt in Frage zu stellen. Gottes Strafe ist Kains Ausschluss aus Gottes Volk. Kain wird zum ersten Homo Sacer, allerdings sichert ihm das so schlecht beleumundete Kainsmal den Schutz seines Großvaters.
Es folgt eine Wanderung durch Zeit und Raum. Station gemacht wird bei Li­lith, Verstoßene wie Kain selbst. Lilith, traditionell die Verkörperung des Dä­monischen im Weibe, ist bei Saramago das Urweib schlechthin, die Männer­fresserin, die Femme fatale, die Sexgöttin. Sie findet in Kain, dem Brudermörder, ihre wahre Be­stimmung. Ihr Mann Noah bleibt eine fast bedauernswerte Randfigur der Weltgeschichte und zeichnet sich lediglich dadurch aus, dass er vergeblich versucht, Kain umbringen zu lassen, später aber die Größe besitzt, seine Stadt nach Liliths und Kains Sohn Henoch zu benennen. Noah stirbt eines natürli­chen Todes. Am anderen Noah, dem Nachkommen seines Bruders Set, den er nie kennengelernt hat, wird Kain am Ende der Geschichte seine Rache an Gott zu Ende bringen.
Dazwischen wird Kain Augenzeuge und auch Protagonist der schändlichsten Untaten des HERRN an seinen Geschöpfen, die da wären: die angeordnete und glücklicherweise nicht vollzogene Tötung des eigenen Sohnes durch Abra­ham, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha samt der unschuldigen Kinder, die allgemeine Sprachverwirrung wegen des Turmbaus zu Babel, das göttlich sanktionierte üble Spiel des Satan mit Ijob, die Eroberung Ka­naans unter Josua und die damit einhergehende Ausrottung der einheimi­schen Stämme, die Ermordung der 3000 Israeliten, die in Moses Abwesenheit den Baal angebetet hatten, schlussendlich die Sintflut. Dabei gelingen dem großen Erzähler Saramago eindringliche Schilderungen und bedenkenswerte anthropologische Exkurse. Zweifellos herausragend die Streitgespräche zwi­schen Kain und dem HERRN, die letzteren in der Regel als Verlierer sehen, bis auf das allerletzte, das bis heute anhält.
Der Kain Saramagos ist der ewige Rationalist und Aufklärer. Kain ist ungläu­big, weil er weiß, Gott straft die, die ihn anbeten, und tötet die, die ihn nicht anbeten, bis auf den einen, den er nicht töten kann, weil der ihn kennt. Kain hat sei­nen Bruder Abel getötet, weil er Gott nicht töten konnte. Er tötet danach nie wie­der, bis der HERR selbst ihm die Gelegenheit gibt, die letzten Menschen zu beseitigen, die naiv genug sind, Gottes Wort Vertrauen zu schenken. Am Ende der Geschichte sind Gott und Kain unter sich und tun das, was der HERR wohl von Anfang an am liebsten getan hätte (kleiner Seitenhieb in Richtung Benedikt XVI.): philosophische Streitgespräche führen, denn, das will Saramago wohl versöhnlich sagen, Gott braucht den Menschen als sein Ebenbild, nicht umgekehrt.

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