Sonntag, 17. Mai 2020

Das Versagen des Utilitarismus in der Pandemiekrise


Richard Rorty schreibt an einer Stelle, dass allgemeine ethische Prinzipien, also Letztbegründungen des Guten, wie Kants kategorischer Imperativ, nur dafür gedacht sind, in Notfällen zum Einsatz zu kommen, in Situationen also, „in denen, es Gründe gibt, bisher unbezweifelte moralische Gemeinplätze zu beanstanden oder in denen wir völlig neuen Problemen gegenüberstehen.“ Nach dieser Ansicht verfügt unser gewöhnlicher, unreflektierter Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen, um in der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial kompetent zu handeln, ohne dabei auf ein allgemeines und daher abstraktes moralisches Prinzip zurückgreifen zu müssen.
Der aktuelle Corona-Ausnahmezustand ist ohne Frage solch ein Notfall, für dessen Bewältigung unsere gewohnten Alltagsroutinen nicht ausreichen. Ungeachtet der Vorgaben und Empfehlungen von Politik und Wissenschaft muss jeder einzelne für sich Entscheidungen über sein Verhalten in der Öffentlichkeit treffen, die das Leben vor Corona ihm nicht abverlangt hatte: Abstand halten? Mund-Nasen-Schutz tragen? Freunde treffen? ÖPNV oder Bahn benutzen? Gemeinsam Sport treiben? Wieder arbeiten gehen? Die Antworten auf derartige Fragen sind schon deshalb moralische Entscheidungen, weil die sich daraus ergebenden Folgen nicht primär uns selbst betreffen, sondern zuvörderst die anderen. Dass einige das nicht so sehen und für sich das Recht beanspruchen, durch unangemessenes Verhalten andere zu gefährden, zeigt nur, dass es bei den Betreffenden nicht so weit her ist mit Klugheit, Anstand und sozialer Kompetenz. Die Erinnerung an allgemeine moralische Prinzipien wäre hier durchaus angebracht, wenn man nicht ahnte, dass dies einigermaßen fruchtlos bliebe. Zivilisierte Verachtung (Carlo Strenger) ist daher wohl die angemessene Reaktion auf diese Zeitgenossen.
In einer anderen, verschärften Situation befinden sich die Beschäftigten der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die direkt mit den an Covid-19 Erkrankten konfrontiert sind, aber auch und vor allem die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Sie bestimmen wesentlich, nach welchen moralischen Prinzipien konkrete Entscheidungen etwa zur Behandlung von Covid-19-Patienten oder zum Schutz von Beschäftigten getroffen werden. In Deutschland wird dann sehr schnell Artikel 1 des Grundgesetzes gezogen, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieser sehr schöne, mit Ewigkeitsgarantie versehene Artikel 1 gibt nun allerdings keinerlei praktische Richtschnur für das Handeln in konkreten Notsituationen. Entspricht eine lang anhaltende apparatemedizinische Behandlung an der Beatmungsmaschine mit möglichen schweren organischen Folgeschäden eher meiner Menschenwürde als eine palliativmedizinische mit gesittetem Ableben? Entspricht der Schutz meines und des Lebens anderer durch monatelange soziale Isolation eher meiner Menschenwürde als die bewusste Übernahme des Infektionsrisikos durch maximales Ausnutzen der Lockerungsoptionen?
Von den zur Verfügung stehenden ethischen Theorien bzw. Konzepten, die grundlegende moralische Prinzipien im Angebot haben, kommen für die hier verhandelten Fragen nur der Utilitarismus und die kantische Ethik des Kategorischen Imperativs in Betracht. Tugendethik (Aristoteles) und Diskursethik (Habermas) sind dafür offensichtlich untauglich, die Mitleidsethik (Schopenhauer) kann auf die Christliche Ethik zurückgeführt werden, die hingegen, weil sie auf eine nicht mehr durchgängig akzeptierte außermenschliche Quelle unserer Moralvorstellungen rekurriert, keine breite Anerkennung mehr findet, auch wenn der derzeitige Vorsitzende des deutschen Ethikrates ein Theologe ist. Es zeigt sich nun aber, dass der Utilitarismus in der Pandemiekrise auf ganzer Linie versagt, weil die Anwendung seiner Grundprinzipien die Gefahr birgt, dass die Krise zur Katastrophe eskaliert.
Zur Erinnerung: Der Kategorische Imperativ als Grundprinzip der kantischen Ethik lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ So in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785. Im selben Text gibt Kant dem Kategorischen Imperativ eine zweite Formulierung, die für meine Zwecke besser geeignet ist: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Ernst Tugendhat hat die zweite Formulierung in die Kurzfassung „Instrumentalisiere niemanden!“ gegossen und deshalb Kants ethisches Konzept als Moral der universellen Achtung bezeichnet.
Sind beim Kategorischen Imperativ die Handlungsabsichten der Maßstab der Bewertung einer Handlung, so sind es beim Grundprinzip des Utilitarismus die Handlungsfolgen. Die ursprüngliche Formulierung des utilitaristischen Grundprinzips findet sich bereits 1725 im „Inquiry into the Original of Our Ideas of Virtue or moral Good“ des schottischen Aufklärers Francis Hutcheson. Sie lautet: „Diejenige Haltung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ Jeremy Bentham hat diesen Gedanken später weiterentwickelt, auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen und durch das egalitaristische Prinzip „Jeder zählt als einer und keiner für mehr als einen.“ ergänzt. Häufig wird den Vertretern des Utilitarismus ein banales Nützlichkeitsdenken unterstellt. Dieser Vorwurf hat gewiss seine Berechtigung, verkennt aber, dass es dessen aufgeklärten Vätern keineswegs nur um das Erreichen materiellen Wohlstandes ging, sondern generell um die Verfolgung von Interessen - nicht nur individuellen - bis hin zum, wie auch immer zu bestimmenden Allgemeinwohl der ganzen Menschheit. In der Praxis begegnen uns utilitaristische Argumente jedoch meist als reine Kosten-Nutzen-Abwägungen, bei denen die grundsätzliche Schwäche dieses ethischen Konzepts ganz offen zu Tage tritt – die Nichtberücksichtigung von individuellen und gruppenbezogenen Rechten. So gilt denn der Utilitarismus nicht zu Unrecht als die Moral des nutzenmaximierenden Homo oeconomicus.
Eine sehr einflussreiche Spielart des Utilitarismus, der Präferenz-Utilitarismus, wird von dem vor allem als Tier-Ethiker bekannten australischen Philosophen Peter Singer vertreten. Demnach ist eine Handlung dann als gut anzusehen, wenn ihre Auswirkungen den Interessen (Präferenzen) aller davon betroffenen Wesen entsprechen, wobei der Begriff „Wesen“ ausdrücklich auch Tiere umfasst. Peter Singer nun verglich dieser Tage die Zahl der bisherigen Corona-Toten in den USA mit der Zahl der im Vietnam-Krieg gefallenen amerikanischen Soldaten (3Sat Kulturzeit, ab Minute 5:10). Diese hätten, so Singer, mindestens 40 Jahre ihres Lebens verloren, wohingegen die Corona-Toten meist über 65 seien. Die Älteren sollten sich deshalb fragen, ob sie sich nicht für die jüngeren Generationen opfern sollten, weil sonst die Kosten für diese zu hoch wären. Geschickt kleidet Singer seine Aufforderung zum Opfertod älterer Menschen in die rhetorische Figur der individuellen Überlegung in der ersten Person plural und suggeriert, dass dieses Opfer ein gemeinschaftliches Handeln der Älteren zum Wohle der Jüngeren wäre. Weniger geschliffen, dafür um so offenherziger hatte sich hierzulande Boris Palmer in ähnlicher Weise geäußert, als er wie beiläufig anmerkte, wir würden gerade Menschen retten, die in ein paar Monaten eh sterben würden.
Palmers und Singers Überlegungen haben m. E. nur sehr entfernt mit dem medizinethischen Problem der Triage zu tun. Die Triage ist eine akute Einzelfallentscheidung von Ärzten über die Behandlung oder Nichtbehandlung von Patienten bei vorliegendem Ressourcenmangel. Mit der Aufforderung zur Opferung der Älteren wird hingegen die Vorselektion einer ganzen Bevölkerungsgruppe vorgeschlagen und damit gerechtfertigt, dass dies im (materiellen) Interesse der Gesellschaft läge. Ganz im Sinne des utilitaristischen Prinzips wird damit eine moralische Frage zu einer ökonomischen quantifiziert. Mehr noch, die Rede vom (freiwilligen oder unfreiwilligen) Opfer führt zurück zu einem vormodernen, voraufklärerischen Menschen- und Gesellschaftsbild, wonach eben das Individuum Opfer für die Gemeinschaft zu bringen bereit sein müsse und auch die Gemeinschaft, um sich zu erhalten, des Opfers bedarf. Einige müssen geopfert werden, damit die vielen leben können bzw. so leben können, wie sie sich das erstreben. Bedenkt man die beiden Weltkriege und die anderen politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wird deutlich, dass der Opfermythos bis weit in die jüngere Geschichte wirksam war und für die Rechtfertigung der größten Menschheitsverbrechen von Entkulakisierung und GULag über Holocaust und Kulturrevolution bis hin zu Pol Pot instrumentalisiert wurde. Indem Peter Singer sich bei der Rechtfertigung seines Aufrufs zur Selbstopferung auf die im Vietnamkrieg gefallenen US-Soldaten beruft, macht er ganz nebenbei auch diese zu Opfern, allerdings nicht zu Opfern der amerikanischen Interventionspolitik, sondern zu Opfern für eine höhere Sache, welche immer das auch gewesen sein mag.
Der Utilitarismus versagt aber genauso an anderer Stelle. In der Corona-Pandemie sieht es bislang danach aus, dass gerade Großbritannien, das Mutterland des Utilitarismus und sein vormaliger Ableger, die USA, und damit die Heimatländer des ursprünglichen Laissez-faire-Kapitalismus wie auch von dessen neoliberaler Revitalisierung seit den 1970er Jahren (Thatcher, Reagan) die Krise um einiges schlechter bewältigen als die Länder, in denen andere Moralkonzepte vorherrschend sind. Gerade zu Beginn der Infektionswelle agierten Boris Johnson und Donald Trump offenkundig utilitaristisch, indem sie zunächst voll auf die Erreichung der Herdenimmunität setzten. Ziel war es, das normale Wirtschaftsleben so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Wie die aktuellen Zahlen zeigen, ist dieser Ansatz gehörig misslungen, denn nicht nur bei den Zahlen der Infizierten und der Toten stehen die beiden Länder weltweit an der Spitze, sondern auch bei den negativen Folgen für die eigene Wirtschaft. Für die USA wird ein Einbruch von 30% prognostiziert, für UK von 14%, beide Zahlen liegen weit über der Prognose von 7 bis 8% für die deutsche Wirtschaft. Hier zeigt sich offenkundig, dass rein utilitaristisches Denken und Handeln, das die Belange der Wirtschaft vor die Belange der Menschen stellt, selbst desaströse Folgen für die Wirtschaft haben kann.
Im Zuge der globalen Ausbreitung des Neo-Liberalismus in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch das utilitaristische Denken global verbreitet. Die Privatisierung des Gesundheitswesens und der Pflege sowie die staatlicherseits falsch gesetzten Ökonomisierungsanreize in diesen Bereichen (Stichwort: Lieber teure und schnelle Operationen als nachhaltige Behandlung.) haben zu jenem Mangel an Vorsorge, Personal und medizinischen Ressourcen geführt, der zu Beginn der Pandemie in einigen Ländern die Todesfallzahlen extrem schnell steigen ließ und uns katastrophale Bilder aus Italien und Frankreich bescherte. Der Bürgermeister der italienischen Stadt Bergamo bestätigte dies kürzlich in einem Interview beim Sender n-tv. Er räumte dort ein, das Virus völlig unterschätzt zu haben. Noch am 19. Februar habe er sich in Mailand das Spiel „Atlanta Bergamo gegen SC Valencia“ angeschaut – zusammen mit 45.000 Fußballfans. Aus Sorge um die Arbeitsplätze hätte er davor zurückgeschreckt, das öffentliche Leben lahmzulegen. Umso erschrockener sei er gewesen, als sich die Krankenhäuser rasend schnell mit Schwerkranken füllten“ und selbst zu Virenschleudern wurden.
Der Utilitarismus“, schreibt Ernst Tugendhat, „ist die Ideologie des Kapitalismus, denn er erlaubt es, das Wachstum der Ökonomie als solches ohne Rücksicht auf Verteilungsfragen moralisch zu rechtfertigen.“ (Vorlesungen über Ethik) Und ich würde hinzufügen, auch ohne Rücksicht auf das Leben jener, die das Wachstum erwirtschaften.

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus: Die Ethik der Gemeinschaft Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, ...