- Es ist nicht die Religion, die uns befremdet, es sind die Sitten und Gebräuche derer, die sich offen zum Islam bekennen. Wir haben es verlernt, mit Menschen umzugehen, für die die Einhaltung von Vorschriften und die Ausübung von Ritualen zum Kern ihres Religionsverständnisses gehört.
- Wir haben auch verlernt, in wirklich historischen Dimensionen zu denken. Zur Kurzatmigkeit der Politik hat sich eine Kurzfristigkeit der historischen Perspektive gesellt. Wir erwarten Integration und Assimilation in Zeitspannen, die nicht einmal eine Generation umfassen. Mit etwas mehr Gelassenheit und Geduld, die wir auch den Muslimen entgegenbringen sollten, werden sich die aktuell als so gravierend empfundenen Probleme irgendwann von selbst erledigen. Das war noch immer so.
- Ich stimme Michel Houellebecq zu in der Einschätzung, dass der Islamismus, insbesondere seine terroristische Spielart, aufgrund von physischer und mentaler Erschöpfung mittelfristig von der politischen Bildfläche verschwinden wird. Zuerst vermutlich in Deutschland, weil es (1) hierzulande weniger soziale Anknüpfungspunkte gibt als bspw. in Frankreich, Belgien oder den USA, (2) wegen seiner andauernden Erfolglosigkeit sowohl bei der Rekrutierung von Anhängern als auch bei der Durchführung von Anschlägen (Wir lernen dazu.) und (3), wie der Fall des Syrers aus Chemnitz zeigt, es gerade die Hunderttausenden von muslimischen Migranten sind, die, weil sie in Deutschland in Ruhe leben und arbeiten wollen, verhindern werden, dass radikale Islamisten ihnen dies vermasseln.
- Freilich wird die Religion nicht verschwinden. Wer das erwartet, hat nicht verstanden, dass Religiösität inzwischen gerade deshalb wieder attraktiv wird, weil sie dem allein ge- und sich selbst überlassenen Einzelnen in unserer säkularisierten, partikularisierten und durchökonomisierten Gesellschaft Anknüpfungspunkte für Identität und moralische Stabilität bietet. Der muslimische Migrant wird dies mehr noch benötigen als der Einheimische.
- Der Islam ist keineswegs eine dumme Religion, wie dies Michel Houellebecq behauptet, jedenfalls ist er nicht dümmer als andere Religionen auch, wenn man denn schon in solchen Kategorien denken möchte. Allerdings ist der Islam dem Laien völlig unverständlich, umsomehr als der Koran, abgesehen von der ersten und der hundertzwölften Sure, ein größtenteils konfus erscheinender Text ist. Angesichts dieser Unverständlichkeit und der Tatsache, dass der Koran ausschließlich in Arabischer Sprache gelehrt und zitiert werden darf, kann man bezweifeln, dass einfache Gläubige ohne die Hilfe von Korangelehrten überhaupt verstehen, was sie da glauben. Das aber bietet eine Chance für die Vermittlung eines Islams fernab von Wahabismus, Salafismus oder seiner politischen Spielart iranischer Prägung.
- Islam ist, anders als europäisches oder nordamerikanisches Christentum, eine Lebensform. Eine Religion als Lebensform ist mehr als nur Religionsausübung, sie ist eine sich selbst konstituierende Lebenswirklichkeit. Das war das Christentum einst auch, nur haben wir auch das vergessen. So, wie nach Wittgenstein eine Sprache eine Lebensform definiert, hat eine Lebensform eben auch eine eigene Sprache. Und weil, wiederum nach Wittgenstein, die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten, und das meint auch die Grenzen meiner Vorstellung, scheint es ausgesprochen schwierig, eine gelingende Kommunikation zwischen der westlichen und der islamischen Lebensform herzustellen.
- Die Sprache des Islam ist das Altarabische des Koran, eine tote Sprache ebenso wie das katholisch-wissenschaftliche Latein. Das europäische Christentum konnte sich erst modernisieren, als es begann, in seinen Texten und in seiner Lithurgie die tote Sprache abzulegen und sich der natürlich evolvierenden „normalen Sprache“ zu bedienen. Die Benutzung der normalen Sprache im religiösen Kontext bewirkte eine Öffnung des hermetischen Raums der mittelalterlischen Theologie hin zur wirklichen Welt. Sie bedeutete damit auch den Abschied vom Anspruch, die wirkliche Welt, das Leben der Menschen nach theologischen Dogmen zu ordnen. An die Stelle dieses überkommenen Anspruchs trat das Bestreben danach, wie es seinerzeit Luther sagte, „dem Volk aufs Maul“ zu schauen, oder, wie es heutzutage p.c. formuliert wird, die Menschen da abzuhohlen, wo sie stehen. Ich meine, dass der Islam nur dann eine globale Überlebensperspektive hat, wenn er genau dies tut.
- Den Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland.“, habe ich seinerzeit schon nicht verstanden, und ich verstehe ihn heute noch weniger. Was soll er bedeuten? Wenn er bedeuten soll, dass in Deutschland Staatsbürger und Angehörige anderer Staaten leben, die sich selbst als Muslime sehen, dann ist er trivial. Sollte er allerdings bedeuten, dass der Islam als Religion, also als Lebensform, ein konstituierendes Element der heimischen Gesellschaft oder des heimisches Staatswesen sei, so ist er schlichtweg falsch. Denn natürlich kann man sich eine funktionierende Gesellschaft nebst funktionierendem Staat sehr wohl ohne Muslime denken. Was also soll dieser Satz des damaligen Bundespräsidenten Wulff besagen? Will er nicht trivial, falsch oder inhaltsleer sein, dann kann er doch wohl nur besagen, dass sich die hiesige politische Klasse, deren exponierter Angehöriger Wulff ja war, schlicht damit abgefunden hat, dass sich der Islam in Gestalt der hier lebenden Muslime und ihrer selbst ernannten Vertreter hier dauerhaft eingerichtet hat und so wie jede Lebensform versucht, seine Umwelt, die hiesige Gesellschaft also, nach seinen Bedürfnissen umzugestalten (siehe Maturana/Varela). Aber ist dies wünschenswert?
Donnerstag, 20. Oktober 2016
Gedanken zum Islam in Deutschland
Mittwoch, 7. September 2016
Sauberes Elbflorenz
oder:
Warum es PEGIDA nur in Dresden geben kann.
Seit
geraumer Zeit bin ich aus beruflichen Gründen an drei Tagen die
Woche in Dresden. Zuletzt war das 2005-2008 der Fall, in der Zeit
dazwischen eher sporadisch.
Eigentlich
bin ich stets gern nach Dresden gereist, auch privat zum
Marathonlaufen bspw., sei es zum Dresdener Marathon selbst oder zu
dem auf wunderschöner Strecke entlang der Elbe führenden
Oberelbemarathon von Königstein über Pirna ins
Heinz-Steyer-Stadion. Nun, in diesem Jahr ist das anders. Als der
Auftrag aus Dresden kam, hätte ich am liebsten abgelehnt, was aus
verschiedensten Gründen aber nicht in Frage kam. Vielleicht lag es
ja an diesem Widerwillen, schon nach ein paar Tagen begann Dresden
anders auf mich zu wirken als noch in den Jahren zuvor, fremd und irgendwie
unbehaglich, und es sollte weitere Wochen dauern bis mir aufzugehen
begann, was konkret mein Unbehagen erzeugt. Davon soll hier die Rede
sein.
Die
sächsische Kapitale gilt gemeinhin und wohl auch zu Recht als schöne
und ihren Einwohnern als lebenswerte Stadt. Zum einen ist da das
Ensemble der Barockbauten in der Altstadt samt Zwinger und wieder
aufgebauter Frauenkirche, zum andern das reizvolle Elbtal mit seinen
Weinhängen, das bis zum Bau der Waldschlößchenbrücke zum
UNESCO-Weltkulturerbe zählte. Die Neustadt beherbergt eine
überschaubare, aber feine Alternativkultur. Und die Dresdner sind in
der Mehrzahl ausgesprochen nette und freundliche Menschen.
Zwar
bin ich kein Freund des touristischen Sightseeings – im Urlaub und
in der sonstigen Freizeit treibt es mich eher in Gottes freie Natur,
in die Berge, an die See oder zumindest in den Garten, keinesfalls
aber in die Stadt. Trotzdem oder gerade weil ich mich im Freien
besonders wohl fühle, schaue ich mir die Städte, in denen ich
gezwungenermaßen zum Zwecke des Broterwerbs unterwegs bin, gut an
und wechsle gern die Hotels, um verschiedene Stadtteile und Milieus
kennen zu lernen. So auch aktuell in Dresden: Mal Altstadt, mal
Neustadt, mal Cotta, mal Pieschen, mal Loschwitz usf. So habe ich es
in Nürnberg gehalten und in Bremen, in Bonn und in Essen und
natürlich auch in Berlin.
Was
mir nun an Dresden auffällt, ist, dass es keinen Unterschied macht,
in welcher Ecke der Stadt man sich herumtreibt – sie wirkt überall
gleich. Dass die Altstadt so einen überaus geleckten Eindruck macht,
mag dem Tourismus geschuldet sein, doch dieses in meinen Augen betont
Saubere, betont Ordentliche, nachgerade Adrette zieht sich durch alle
Stadtteile, ausgenommen vielleicht ein paar Straßenzüge der
Neustadt. Und genau so betont ordentlich, betont adrett, um nicht zu
sagen bieder wirkt der Dresdner selbst. Es scheint zudem, als gäbe
es in Dresden kein ausgeprägtes soziales Gefälle, wie es den
Besucher der anderen genannten Städte wie auch meiner (ostdeutschen)
Heimatstadt bereits auf und vor dem Bahnhof gleichsam anspringt. Und
was es scheinbar erst recht nicht gibt, sind Migranten und
Asylbewerber. Trifft man einmal auf das ethnisch Andere, so handelt
es sich in den meisten Fällen um Touristen oder um Assimilierte
gleich welcher Hautfarbe (überwiegend Asiaten oder
Schwarzafrikaner), die zudem im Regelfall fließend sächsisch
sprechen. Die Türkei und der Nahe Osten stehen einem ausschließlich
am Dönerstand gegenüber. Für jemanden, der wie ich als
Mitarbeiter bundesweit operierender Unternehmen die Republik kreuz
und quer bereist und zwischen Flensburg und Kempten kaum eine größere
Stadt ausgelassen hat, erscheint das Dresdener Stadtbild auf eine
absonderliche, irgendwie erschreckende Weise gleichförmig –
lebensweltlich uniform und ethnisch homogen. Anders ausgedrückt: Als
urbanes Gebilde ist Dresden so uninteressant, provinziell und
langweilig wie eine durchschnittliche deutsche Kleinstadt. Es ist
dies eine Uniformität, die man gern auch gutbürgerlich
nennen könnte. Sie speist sich offenbar aus der Geschichte und dem
Selbstverständnis Dresdens als Residenz und bedeutendem
Kulturstandort. Hier gab es weder Bergbau noch Großindustrie und
demzufolge kein nennenswertes Industrieproletariat. Stattdessen wurde
und wird die Wirtschaft der Stadt von Forschung und Ingenieurwesen
dominiert. Dies hat wohl zu einem besonders ausgeprägten
kleinbürgerlichen Habitus geführt, dem ich in dieser
Ausprägung sonst nirgendwo in Deutschland begegnet bin.
Laut
aktueller Bevölkerungsstatistik
leben derzeit unter den über 540.000 Einwohnern der sächsischen
Landeshauptstadt etwa 34.000 Ausländer (6,2 %) und 20.000 Deutsche
mit Migrationshintergrund (3,7 %). Leider differenziert die Statistik
nicht zwischen den verschiedenen Nationalitäten bzw.
Herkunftsregionen der Ausländer, man kann aber wohl davon ausgehen,
dass sich die Herkunftsverteilung nicht wesentlich von der anderer
ostdeutscher Großstädte (ausgenommen natürlich Berlin)
unterscheidet. Extrapoliert man die bekannten Zahlen, stellen Russen,
Ukrainer und Bürger der anderen Nachfolgestaaten der UdSSR die
größte Ausländergruppe mit etwa 16 %, gefolgt von Bürgern der
Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit etwa 7 %, EU-Bürger aus Polen,
Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien oder Rumänien haben
zusammen einen Anteil von ebenfalls etwa 7 %, wohingegen Türken im
Osten gerade einmal 3 % der Ausländer stellen. Ebenso wenig
signifikant ist die Gruppe der Ostasiaten (vornehmlich Vietnam und
China). Die Zahl der Ausländer steigt zwar seit Jahren
kontinuierlich an - von 2000 bis 2015 betrug der Zuwachs 4-10 %
jährlich, doch ist dies überwiegend der EU-Osterweiterung
geschuldet, wohingegen sich die Zahlen für Russen, Ukrainer oder
Türken kaum verändert haben. Im Zuge der vor einem Jahr
einsetzenden Massenimmigration erhöhte sich vor allem die Zahl der
Syrer und derer, die in der Rubrik Sonstige geführt werden, also
u.a. Iraker, Afghanen, Eritreer, Nord- und Schwarzafrikaner. Für
Dresden müsste diese Zahl inzwischen bei geschätzt 4.000 bis 6.000
liegen, also bei 12 bis 18 % aller Ausländer und 0,7 bis 1,1 % der
Gesamtbevölkerung. Vor 2015 muss der Anteil von Moslems in der Stadt
Dresden unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle gelegen haben,
und auch jetzt sind sie im Stadtbild nicht sichtbar. Wenn sie denn
überhaupt noch da sein sollten, muss man sie wohl in der äußersten
Peripherie untergebracht haben.
Solche
Beobachtungen und Überlegungen führen zu der Vermutung, dass PEGIDA
gerade deshalb in Dresden und nur dort entstehen konnte, weil es den
Initiatoren wie den Anhängern und erst recht den Mitläufern, jenen
so genannten besorgten Bürgern, gar nicht um die von der Politik und
den Mainstreammedien viel und gern in Stellung gebrachten materiellen
Sorgen oder sozialen Abstiegsängste geht. Nein, dem gewöhnlichen
Montagsspaziergänger geht es vielmehr darum, seine geliebtes
Dresden, sein geliebtes Sachsen so sauber, so adrett und so bieder zu
halten, wie es jetzt ist, und das Stadtbild möglichst frei von allem
Fremden. Mit Globalisierung hat das nach meiner Meinung fast nichts
zu tun, mit einer gewissen Art sächsischer Volks- und
Landschaftshygiene gleichwohl sehr viel (Dresden ist Sitz des
Deutschen Hygienemuseums). All jene, die da womöglich kommen
könnten, und die, nach meiner Wahrnehmung jedenfalls, auch ein Jahr
nach Beginn des Durchwinkens an der deutschen Grenze nicht wirklich
in Massen nach Dresden gekommen sind, könnten ja die schöne Heimat
be- und verschmutzen mit ihrem Aussehen, ihrer Sprache, ihrem
Verhalten, ihren Sitten und Gebräuchen oder gar ihren Krankheiten.
Sollten
meine Eindrücke stimmen und meine Meinung sich bestätigen, dann
wäre Dresden auch ohne NPD und Identitäre,
ja selbst ohne AfD, einfach nur qua Wille seiner Bewohner die größte
national befreite Zone Deutschlands. Es brauchte dazu keiner
rassistischen Parolen, keiner offen gewaltbereiten
Fremdenfeindlichkeit wie in den umliegenden Gemeinden Freital, Pirna
oder Heidenau. Die Liebe des Dresdners zu seiner Heimatstadt und
deren adrett-sauberer Biederkeit genügte vollauf.
Überflüssig
daran zu erinnern, dass Sauberkeit und Reinheit Ideale der Nazis
waren, denen es bekanntermaßen um den „gesunden Volkskörper“
und die Ausmerzung all dessen zu tun war, was diesen „Volkskörper“
in welchem Sinn auch immer verunreinigen könnte. Ebenso wenig muss
man erwähnen, dass Sprache nie neutral ist, sondern stets neben den
offensichtlichen auch unterschwellige Bedeutungen transportiert. Man
versteht AfD-Frontmann Höcke (zugegeben kein Dresdner) sicher nicht
falsch, wenn man seine Rede davon, dass Erfurt „schön deutsch“
bleiben solle, in genau dem Sinne der Reinhaltung der Stadt und des
„Volkskörpers“ versteht. Dass der große Viktor
Klemperer seine Untersuchung der Nazisprache unter dem Titel LTI
(Lingua Tertii Imperii) ausgerechnet in Dresden geschrieben hat,
wirkt da schon wie eine Ironie der Geschichte.
Montag, 18. Juli 2016
Vor gut 80 Jahren
Zum Putschversuch gegen Erdogan
Zuweilen
lohnt ein Blick in die Geschichte.
Am
1. Dezember des Jahres 1934 erschoß ein gewisser Leonid Nikolajew im
Smolny, dem Sitz der Leningrader Organisation der Kommunistischen
Partei, deren Chef Sergej
Kirow.
Kirow war Mitglied des Politbüros und galt als strammer Hardliner
und Stalinist, auch wenn es diesen Ausdruck seinerzeit noch gar nicht
gab.
Stalin
nahm den Mord an Kirow, dessen Hintergründe bis heute ungeklärt
sind, zum Anlass, eine Jahre andauernde umfassende Säuberung des
Partei- und Staatsapparates, der Wirtschaft, der Kultur und der
Wissenschaft sowie der Militärführung einzuleiten, die als der
Große
Terror
in die Geschichte eingehen und an deren Ende Stalin als
uneingeschränkter Herrscher über Partei und Sowjetvolk dastehen
sollte.
Am
bekanntesten dürften wohl die drei großen Moskauer
Schauprozesse
von 1936, 1937 und 1938 sein, in denen eine beachtliche Zahl von
Angehörigen der sowjetischen Elite ihre Teilnahme an angeblichen
trotzkistischen oder rechtsabweichlerischen Verschwörungen zugab und
dafür zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde. Dazu gehörten
neben politischen Leitfiguren wie Kamenjew, Sinowjew, Radek und
Bucharin auch Mitexekutoren des stalinschen Terrors. Daneben wurden
im ganzen Land weniger bekannte Funktionäre abgeurteilt und
umgebracht oder der GULAG überantwortet. Das alles geschah nicht im
Verborgenen sondern in größtmöglicher Öffentlichkeit unter den
Augen ausländischer Beobachter, wie Lion Feuchtwanger, und begleitet
von organisierten Massendemonstrationen, bei denen der Tod der
„Schädlinge“ gefordert wurde.
Leo
Trotzki, der der ideologischen Urheberschaft zu diesen vermeintlichen
Verschwörungen gegen das Sowjetvolk und die legitime Herrschaft der
Partei bezichtigt wurde, war 1934 längst im Exil, und zwar von
1929-1933 in der Türkei des Kemal Atatürk und später bekanntlich
in Mexiko, wo er 1940 ermordet wurde.
1937
wurde die Rote Armee „enthauptet“. Ca. 80 % der obersten
Führungsebene wurden des Hochverrats bezichtigt und hingerichtet,
darunter auch Tuchatschewski, der im wenig bekannten
Sowjetisch-Polnischen Krieg 1920/21 dem darob in Polen bis heute hoch
verehrten Marschall Pilsudski unterlegen war. Vier Jahre später
sollte diese „Enthauptung“ hunderttausende Rotarmisten das Leben
kosten.
Zuweilen
lohnt ein Blick in die Geschichte, denn, um Karl Marx zu zitieren,
ereignet sie sich „das
eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
Sonntag, 17. April 2016
Die dezisionistische Krankheit
Im
Editorial der aktuellen Ausgabe 03/2016 des Philosophiemagazins
beklagt Chefredakteur Wolfram Eilenberger einen sich ausbreitenden
„bekenntnisdurstigen Eigentlichkeitsterror“, der einen dazu
zwingen will, zu allem und jedem eine Haltung zu beziehen und einen
„weltanschaulichen Offenbarungseid“ abzulegen. Statt dessen
plädiert Eilenberger für eine „Kultur der Ironie, des Antestens,
Auslotens, Maskierens, der wohlwollenden Provokation und damit auch
der wechselseitigen Kränkungsresistenz“. (Merke: Dies wurde weit
vor der Causa Böhmermann resp. extra 3 geschrieben.)
Dem kann ich mich nur anschließen, meine aber, dass dieser Zwang zur
permanenten Entscheidung für oder gegen etwas, unabhängig von der
häufig in diesem Zusammenhang mit der Frage „Das meinst Du jetzt
nicht wirklich?“ einhergehenden Forderung nach unbedingter
Authentizität, Folge einer beunruhigenden gesamtgesellschaftlichen
Entwicklung ist.
In
den Krisen der vergangenen Monate und Jahre ist die Politik, die
offizielle institutionelle (Parlamente, Regierungen) wie auch die
außerinstitutionelle (Bewegungen, neue Parteien) in einen Aktions-
und Reaktionsmodus verfallen, bei dem die Entscheidung
als solche zum Kern
politischen Handelns geworden ist. Die einen treffen permanent
Entscheidungen zur Rettung, zum Ausstieg, zum Schutz, zur Abwehr, zur
Aufnahme, zum Einsatz usf. Die anderen fordern permanent
Entscheidungen ein, die möglichst ihren eigenen Interessen dienen
sollen. Eine wirkliche und ergebnisoffene Auseinandersetzung um beste
sinnvolle Lösungen der Probleme findet anscheinend nicht mehr statt.
Die Ethik der kommunikativen
Rationalität ist
suspendiert. Es geht nur noch um Ja oder Nein, um Freund oder Feind,
um Wir oder Die, um Alles oder Nichts.
Ich
halte dies für eine pathologische Entwicklung: Die Krankheit des
Dezisionismus
hat den öffentlichen Raum befallen. Im politischen Kontext steht der
Dezisionist auf dem Standpunkt, dass eine legal getroffene
Entscheidung keiner weiteren normativen oder rationalen Begründung
bedarf. Die Entscheidung legitimiert sich aus sich selbst heraus bzw.
über das Recht des Entscheiders zu entscheiden. Eine argumentative
Auseinandersetzung über Gründe und Folgen oder gar die Legitimität
der Entscheidung erübrigt sich. Der eingangs beschriebene Aktions-
und Reaktionsmodus aktueller deutscher und europäischer politischer
Exekutivorgane kann deshalb nur dezisionistisch genannt werden.
Von
Fall zu Fall mag es durchaus Gründe geben, warum politische
Entscheidungen dezisionistisch getroffen werden: Zum einen kann
Zeitdruck eine Rolle spielen, in Not- oder Krisensituationen etwa,
zum anderen können es handfeste Sachzwänge sein, die diese oder
jene Entscheidung unumgänglich machen. Gerade wirkliche und
vermeintliche Sachzwänge werden nur allzu oft zur Begründung
angeführt. Die Entscheidungen werden dann als alternativlos
deklariert. An Beispielen, insbesondere aus der heimischen
Politikszene ist kein Mangel:
- Banken müssen gerettet werden, weil sie systemrelevant sind.
- Erbschaftssteuer darf nicht erhoben werden, weil dies Arbeitsplätze gefährden würde.
- Aus dem gleichen Grund wird entschieden, dass Edeka Kaisers-Tengelmann übernehmen kann.
- Griechenland muss im Euroraum gehalten werden, denn: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“
- Sämtliche deutschen Atomkraftwerke werden abgeschaltet, weil in Japan eine Naturkatastrophe ein AKW beschädigt hat.
- Edward Snowden kann kein Asyl gewährt werden, weil die USA ein Rechtsstaat seien, in dem ihm keine Todesstrafe drohen würde.
- Flüchtlinge und Migranten müssen unkontrolliert ins Land gelassen werden, denn andernfalls „ist das nicht mein Land“.
- Und jüngst: Gegen Jan Böhmermann kann ein Ermittlungsverfahren nach § 103 StGB eröffnet werden, weil die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat ist (nein, weil aktuell gute Beziehungen zur Türkei alternativlos sind).
Für
den Bürger mag der praktizierte Dezisionismus die an sich
komplizierten politischen Prozesse übersichtlicher machen, weil sie
auf einfache Ja/Nein-Entscheidungen heruntergebrochen werden. Auch
liebt es der Bürger nicht, so eine verbreitete Ansicht, wenn
Parteien und Regierungen ihre internen Meinungsverschiedenheiten und
Konflikte öffentlich austragen; er will Konsens und klare
Kante zugleich. Was der Bürger dabei häufig nicht sieht, ist, dass
sich in der dezisionistischen Kante eine zutiefst antiliberale und
demokratiegefährdende Haltung zeigt. Die gehäufte Anwendung von
Basta- und TINA-Prozeduren im Bereich des Politischen führt ja
mitnichten dazu, dass im Interesse der Bevölkerungsmehrheit
entschieden wird. Im Gegenteil, wenn politische Auseinandersetzungen
nicht mehr offen geführt und Entscheidungsprozesse nicht mehr
transparent gemacht werden, wächst der Einfluss der Lobbyisten und
der Vertreter von zumeist wirtschaftlichen
Partikularinteressen.
Der
von mir schon öfter zitierte Carl
Schmitt gilt als der
exponierteste Vertreter des Dezisionismus im Bereich des Staatsrechts
und der Verfassungslehre. Mit guten Gründen gilt er zudem als
„Kronjurist des Dritten Reiches“ (Waldemar Gurian) und
intellektueller Wegbereiter der Beseitigung der parlamentarischen
Demokratie und des Verfassungsstaates der Weimarer Republik sowie der
Errichtung des nationalsozialistischen Führerstaats. Für Schmitt
steht der Parlamentarismus in einem Gegensatz zur Demokratie (!) Jenen charakterisiert der Glaube an die Findung von Wahrheit und
Richtigkeit durch öffentliche Diskussion im Parlament. Der
Parlamentarismus institutionalisiert das „ewige Gespräch“.
Er erscheint Schmitt als Ort apolitischer, bürgerlicher
Selbstbespiegelung, die nie zur Entscheidung kommt. Das
Parlament als „Quasselbude“, wie Kaiser Wilhelm II. den
Reichstag einst beschimpfte. Dass Schmitt so über den
Parlamentarismus urteilt, ergibt sich aus seinem Begriff des
Politischen als Ort der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Ein
solcher Politikbegriff hat offensichtlich keinen Platz für den
ergebnisoffenen rationalen Diskurs und den politischen
Kompromiss. An die Stelle des Parlamentarismus setzt Carl Schmitt
explizit seine Vorstellung von Demokratie als homogenem Nationalstaat
unter Ausschluss oder Beseitigung des Heterogenen, gleichsam als
institutionalisierter „Volkswille“.
Nach
Auschwitz finden solche kruden Politikkonzepte kaum noch Anhänger,
und die wenigen werden ihre Ansichten kaum öffentlich äußern. Um
so erstaunlicher ist es, dass die politische Praxis eben jene, oben
skizzierte dezisionistische Tendenz aufweist, da das Parlament mehr
und mehr zur zahnlosen „Quasselbude“ verkommt, während die
politischen Entscheidungen längst anderswo getroffen werden. Für
den Bürger wird dabei immer undurchsichtiger, an welcher Stelle und
von wem eigentlich entschieden wird. Berlin (Regierung, Bundestag),
Karlsruhe (Verfassungsgericht), Brüssel (EU-Kommission), Straßburg
(EU-Parlament), Luxemburg (EuGH), New York (UNO)? Und was ist mit dem
IWF oder der Weltbank? Die gewünschte Eindeutigkeit der
Entscheidungen löst sich auf in der Komplexität der globalen
Entscheidungsnetzwerke. Und mehr noch, bei den Betroffenen verstärkt
sich zusehends das Empfinden, von zwar legalen, aber nicht
legitimierten Institutionen beherrscht zu werden.
Wie
bereits erwähnt, werden als Begründung für dezisionistische
Politik besondere Zwänge herangezogen, die scheinbar außerhalb der
Gestaltungsmacht der Akteure liegen. Entscheidungen werden als
Ausnahmen von den üblichen politischen Regularien dargestellt, nur,
wenn sie gehäuft auftreten, muss gleichwohl die Frage erlaubt sein,
ob nicht die bewusste Herbeiführung von Ausnahmetatbeständen das
dezisionistische Agieren erst ermöglichen soll. Einen Hinweis
darauf gibt die Beobachtung, dass es sich um Entscheidungen handelt,
die vornehmlich der Sicherung von Machtpositionen dienen. An gleicher
Stelle war ich vor
einiger Zeit bereits auf diesen Aspekt des großkoalitionären resp.
merkelschen „Fahrens auf Sicht“ eingegangen. Offenkundig ist
damit die Gefahr gegeben, dass dezisionistisches Agieren mit Berufung
auf Ausnahmetatbestände von der Ausnahme zur Norm werden könnte und erforderliche demokratische Legitimationen erst im Nachgang
erfolgen, sei es durch Parlamentsbeschluss oder durch Plebiszit. In
beiden Fällen hätte eine Delegitimation kaum Auswirkungen, weil die
Ausnahmeentscheidungen bereits politische Tatsachen geschaffen haben.
Jüngstes Beispiel ist das Referendum der Niederländer zum
EU-Ukraine-Abkommen.
Wenn
aber selbst Plebiszite als Formen direkter Demokratie keinen Einfluss
mehr auf die Legitimität politischer Entscheidungen haben, dann muss
die Frage nach der Verortung des Souveräns im Europa des 21.
Jahrhunderts wie auch auf nationalstaatlicher Ebene gestellt werden.
Der Zulauf, den populistische Parteien in ganz Europa erhalten, lässt
vermuten, dass sich große Bevölkerungsgruppen nicht mehr als Teil
der Staatssouveränität sehen, die ihnen von den jeweiligen
Verfassungen zugesichert wird (§ 20, 2 GG etwa), sondern, ebenso wie
ich, eher der Auffassung sind, dass, wie der Politikwissenschaftler
Reinhard Mehring fragend formuliert: „die Souveränität in
Deutschland und Europa längst zum Elitenprojekt geworden“ ist.
Dass sie dabei den falschen Propheten hinterherlaufen, da es denen
ebenso wenig um die Wiedereinsetzung der verfassungsmäßigen
Souveränität geht, sondern nur um simplen Elitenaustausch, soll
hier nicht thematisiert werden.
Souveränität
definiert sich über den Umgang mit der Ausnahme, behauptete Carl Schmitt
in seiner Politischen
Theologie von 1922:
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Wenn
das richtig ist, und wenn der Ausnahmezustand bewusst herbeigeführt
wird, um dezisionistisch entscheiden zu können, dann laufen wir
wirklich Gefahr, dass der Ausnahmezustand zur Regel wird. Denn
absehbar ist, dass die Häufigkeit der Krisen und Katastrophen nicht
abnehmen wird, und je weniger sich die politischen Akteure mit der
Vorbeugung oder Vermeidung befassen, weil sie mehr mit aktuellen
Ad-hoc-Aktionen beschäftigt sind oder mit den Aufräumarbeiten
infolge der gerade durchstandenen Krisen, desto häufiger
werden die Ausnahmetatbestände und die damit begründeten
TINA-Entscheidungen. Zu besichtigen ist dies bei der aktuellen
„Bewältigung“ der Flüchtlingskrise, wo mit dem „Outsourcing“
der Krisenphänomene auf den Balkan, in die Türkei und nach
Nordafrika bereits die Keime für die nächsten humanitären
Katastrophen gelegt werden. Fast scheint es, als wolle man den
Philosophen Giorgio
Agamben nachträglich
ins Recht setzen, hatte dieser doch schon 1995, zu Beginn seines
Homo-Sacer-Projekts und lange vor dem syrischen Bürgerkrieg oder
Guantánamo,
formuliert: „Das Lager ist
der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu
werden beginnt.“ (Homo
Sacer, Suhrkamp 2002, S. 177) Agambens These ist, dass das Lager zum
universellen Ort der vom globalisierten Kapitalismus Entorteten wird,
der Entrechteten, denen nichts geblieben ist als das „nackte
Leben“. War das Lager bis ins Späte 20. Jahrhunderts der Ort
der Trennung von Freund und Feind, so wird es nun zum Ort des
Fremden.
Mir
scheint, dass eine Prämisse aktueller deutscher (und europäischer)
Migrationspolitik darin besteht, das Lager als reale
Einrichtung möglichst fern vom europäischen Wohlstandsraum zu
halten. Es wird alles unternommen, dass es in unmittelbarer
politischer und medialer Reichweite keine Lager gibt. Nötigenfalls
wird auch einfach der Begriffsgebrauch unterlassen, und statt dessen
ist von Aufnahmezentren, Erstaufnahmeeinrichtungen, Hot Spots oder
schlicht nur von Camps die Rede, wobei auch jene Camps möglichst
fern von deutschem Boden sein sollen. Und wo das Lager, wie im Fall
des griechischen Idomeni, trotzdem auf EU-Territorium existiert, wird
es umgehend skandalisiert, und die Flüchtlinge selbst werden für seine
Existenz verantwortlich gemacht. Nicht nur darf von deutschem Boden
nie wieder ein Krieg ausgehen, nein, auf europäischem Boden darf
auch nie wieder ein Lager errichtet werden. Man möchte hoffen, dass
diese Abscheu vor dem Lager einhergeht mit der Erkenntnis, dass eben jenes Lager eine Konsequenz der eigenen dezisionistischen Politik ist
und deren Begründung mit Ausnahmetatbeständen kein Ersatz für
reguläre demokratische Prozesse.
Abonnieren
Posts (Atom)
Der Krieg des Partisanen
Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...
-
Gutes Philosophieren beginnt mit dem Staunen. Gute Philosophen stellen erst einmal Fragen, das heißt, sie stellen in Frage . Oft machen sie...
-
Wehe denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitz...
-
Drei weiße Flecken marxistischer Theorie Ich weiß nichts von der kommenden Welt, ein Schleier verwehrt mir die Blicke. Ich wuchs, eine Blu...