Donnerstag, 20. Oktober 2016

Gedanken zum Islam in Deutschland

  1. Es ist nicht die Religion, die uns befremdet, es sind die Sitten und Gebräuche derer, die sich offen zum Islam bekennen. Wir haben es verlernt, mit Menschen umzugehen, für die die Einhaltung von Vorschriften und die Ausübung von Ritualen zum Kern ihres Religionsverständnisses gehört.
  2. Wir haben auch verlernt, in wirklich historischen Dimensionen zu denken. Zur Kurzatmigkeit der Politik hat sich eine Kurzfristigkeit der historischen Perspektive gesellt. Wir erwarten Integration und Assimilation in Zeitspannen, die nicht einmal eine Generation umfassen. Mit etwas mehr Gelassenheit und Geduld, die wir auch den Muslimen entgegenbringen sollten, werden sich die aktuell als so gravierend empfundenen Probleme irgendwann von selbst erledigen. Das war noch immer so.
  3. Ich stimme Michel Houellebecq zu in der Einschätzung, dass der Islamismus, insbesondere seine terroristische Spielart, aufgrund von physischer und mentaler Erschöpfung mittelfristig von der politischen Bildfläche verschwinden wird. Zuerst vermutlich in Deutschland, weil es (1) hierzulande weniger soziale Anknüpfungspunkte gibt als bspw. in Frankreich, Belgien oder den USA, (2) wegen seiner andauernden Erfolglosigkeit sowohl bei der Rekrutierung von Anhängern als auch bei der Durchführung von Anschlägen (Wir lernen dazu.) und (3), wie der Fall des Syrers aus Chemnitz zeigt, es gerade die Hunderttausenden von muslimischen Migranten sind, die, weil sie in Deutschland in Ruhe leben und arbeiten wollen, verhindern werden, dass radikale Islamisten ihnen dies vermasseln.
  4. Freilich wird die Religion nicht verschwinden. Wer das erwartet, hat nicht verstanden, dass Religiösität inzwischen gerade deshalb wieder attraktiv wird, weil sie dem allein ge- und sich selbst überlassenen Einzelnen in unserer säkularisierten, partikularisierten und durchökonomisierten Gesellschaft Anknüpfungspunkte für Identität und moralische Stabilität bietet. Der muslimische Migrant wird dies mehr noch benötigen als der Einheimische.
  5. Der Islam ist keineswegs eine dumme Religion, wie dies Michel Houellebecq behauptet, jedenfalls ist er nicht dümmer als andere Religionen auch, wenn man denn schon in solchen Kategorien denken möchte. Allerdings ist der Islam dem Laien völlig unverständlich, umsomehr als der Koran, abgesehen von der ersten und der hundertzwölften Sure, ein größtenteils konfus erscheinender Text ist. Angesichts dieser Unverständlichkeit und der Tatsache, dass der Koran ausschließlich in Arabischer Sprache gelehrt und zitiert werden darf, kann man bezweifeln, dass einfache Gläubige ohne die Hilfe von Korangelehrten überhaupt verstehen, was sie da glauben. Das aber bietet eine Chance für die Vermittlung eines Islams fernab von Wahabismus, Salafismus oder seiner politischen Spielart iranischer Prägung.
  6. Islam ist, anders als europäisches oder nordamerikanisches Christentum, eine Lebensform. Eine Religion als Lebensform ist mehr als nur Religionsausübung, sie ist eine sich selbst konstituierende Lebenswirklichkeit. Das war das Christentum einst auch, nur haben wir auch das vergessen. So, wie nach Wittgenstein eine Sprache eine Lebensform definiert, hat eine Lebensform eben auch eine eigene Sprache. Und weil, wiederum nach Wittgenstein, die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten, und das meint auch die Grenzen meiner Vorstellung, scheint es ausgesprochen schwierig, eine gelingende Kommunikation zwischen der westlichen und der islamischen Lebensform herzustellen.
  7. Die Sprache des Islam ist das Altarabische des Koran, eine tote Sprache ebenso wie das katholisch-wissenschaftliche Latein. Das europäische Christentum konnte sich erst modernisieren, als es begann, in seinen Texten und in seiner Lithurgie die tote Sprache abzulegen und sich der natürlich evolvierenden „normalen Sprache“ zu bedienen. Die Benutzung der normalen Sprache im religiösen Kontext bewirkte eine Öffnung des hermetischen Raums der mittelalterlischen Theologie hin zur wirklichen Welt. Sie bedeutete damit auch den Abschied vom Anspruch, die wirkliche Welt, das Leben der Menschen nach theologischen Dogmen zu ordnen. An die Stelle dieses überkommenen Anspruchs trat das Bestreben danach, wie es seinerzeit Luther sagte, „dem Volk aufs Maul“ zu schauen, oder, wie es heutzutage p.c. formuliert wird, die Menschen da abzuhohlen, wo sie stehen. Ich meine, dass der Islam nur dann eine globale Überlebensperspektive hat, wenn er genau dies tut.
  8. Den Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland.“, habe ich seinerzeit schon nicht verstanden, und ich verstehe ihn heute noch weniger. Was soll er bedeuten? Wenn er bedeuten soll, dass in Deutschland Staatsbürger und Angehörige anderer Staaten leben, die sich selbst als Muslime sehen, dann ist er trivial. Sollte er allerdings bedeuten, dass der Islam als Religion, also als Lebensform, ein konstituierendes Element der heimischen Gesellschaft oder des heimisches Staatswesen sei, so ist er schlichtweg falsch. Denn natürlich kann man sich eine funktionierende Gesellschaft nebst funktionierendem Staat sehr wohl ohne Muslime denken. Was also soll dieser Satz des damaligen Bundespräsidenten Wulff besagen? Will er nicht trivial, falsch oder inhaltsleer sein, dann kann er doch wohl nur besagen, dass sich die hiesige politische Klasse, deren exponierter Angehöriger Wulff ja war, schlicht damit abgefunden hat, dass sich der Islam in Gestalt der hier lebenden Muslime und ihrer selbst ernannten Vertreter hier dauerhaft eingerichtet hat und so wie jede Lebensform versucht, seine Umwelt, die hiesige Gesellschaft also, nach seinen Bedürfnissen umzugestalten (siehe Maturana/Varela). Aber ist dies wünschenswert?

Mittwoch, 7. September 2016

Sauberes Elbflorenz

oder: Warum es PEGIDA nur in Dresden geben kann.
Seit geraumer Zeit bin ich aus beruflichen Gründen an drei Tagen die Woche in Dresden. Zuletzt war das 2005-2008 der Fall, in der Zeit dazwischen eher sporadisch.
Eigentlich bin ich stets gern nach Dresden gereist, auch privat zum Marathonlaufen bspw., sei es zum Dresdener Marathon selbst oder zu dem auf wunderschöner Strecke entlang der Elbe führenden Oberelbemarathon von Königstein über Pirna ins Heinz-Steyer-Stadion. Nun, in diesem Jahr ist das anders. Als der Auftrag aus Dresden kam, hätte ich am liebsten abgelehnt, was aus verschiedensten Gründen aber nicht in Frage kam. Vielleicht lag es ja an diesem Widerwillen, schon nach ein paar Tagen begann Dresden anders auf mich zu wirken als noch in den Jahren zuvor, fremd und irgendwie unbehaglich, und es sollte weitere Wochen dauern bis mir aufzugehen begann, was konkret mein Unbehagen erzeugt. Davon soll hier die Rede sein.
Die sächsische Kapitale gilt gemeinhin und wohl auch zu Recht als schöne und ihren Einwohnern als lebenswerte Stadt. Zum einen ist da das Ensemble der Barockbauten in der Altstadt samt Zwinger und wieder aufgebauter Frauenkirche, zum andern das reizvolle Elbtal mit seinen Weinhängen, das bis zum Bau der Waldschlößchenbrücke zum UNESCO-Weltkulturerbe zählte. Die Neustadt beherbergt eine überschaubare, aber feine Alternativkultur. Und die Dresdner sind in der Mehrzahl ausgesprochen nette und freundliche Menschen.
Zwar bin ich kein Freund des touristischen Sightseeings – im Urlaub und in der sonstigen Freizeit treibt es mich eher in Gottes freie Natur, in die Berge, an die See oder zumindest in den Garten, keinesfalls aber in die Stadt. Trotzdem oder gerade weil ich mich im Freien besonders wohl fühle, schaue ich mir die Städte, in denen ich gezwungenermaßen zum Zwecke des Broterwerbs unterwegs bin, gut an und wechsle gern die Hotels, um verschiedene Stadtteile und Milieus kennen zu lernen. So auch aktuell in Dresden: Mal Altstadt, mal Neustadt, mal Cotta, mal Pieschen, mal Loschwitz usf. So habe ich es in Nürnberg gehalten und in Bremen, in Bonn und in Essen und natürlich auch in Berlin.
Was mir nun an Dresden auffällt, ist, dass es keinen Unterschied macht, in welcher Ecke der Stadt man sich herumtreibt – sie wirkt überall gleich. Dass die Altstadt so einen überaus geleckten Eindruck macht, mag dem Tourismus geschuldet sein, doch dieses in meinen Augen betont Saubere, betont Ordentliche, nachgerade Adrette zieht sich durch alle Stadtteile, ausgenommen vielleicht ein paar Straßenzüge der Neustadt. Und genau so betont ordentlich, betont adrett, um nicht zu sagen bieder wirkt der Dresdner selbst. Es scheint zudem, als gäbe es in Dresden kein ausgeprägtes soziales Gefälle, wie es den Besucher der anderen genannten Städte wie auch meiner (ostdeutschen) Heimatstadt bereits auf und vor dem Bahnhof gleichsam anspringt. Und was es scheinbar erst recht nicht gibt, sind Migranten und Asylbewerber. Trifft man einmal auf das ethnisch Andere, so handelt es sich in den meisten Fällen um Touristen oder um Assimilierte gleich welcher Hautfarbe (überwiegend Asiaten oder Schwarzafrikaner), die zudem im Regelfall fließend sächsisch sprechen. Die Türkei und der Nahe Osten stehen einem ausschließlich am Dönerstand gegenüber. Für jemanden, der wie ich als Mitarbeiter bundesweit operierender Unternehmen die Republik kreuz und quer bereist und zwischen Flensburg und Kempten kaum eine größere Stadt ausgelassen hat, erscheint das Dresdener Stadtbild auf eine absonderliche, irgendwie erschreckende Weise gleichförmig – lebensweltlich uniform und ethnisch homogen. Anders ausgedrückt: Als urbanes Gebilde ist Dresden so uninteressant, provinziell und langweilig wie eine durchschnittliche deutsche Kleinstadt. Es ist dies eine Uniformität, die man gern auch gutbürgerlich nennen könnte. Sie speist sich offenbar aus der Geschichte und dem Selbstverständnis Dresdens als Residenz und bedeutendem Kulturstandort. Hier gab es weder Bergbau noch Großindustrie und demzufolge kein nennenswertes Industrieproletariat. Stattdessen wurde und wird die Wirtschaft der Stadt von Forschung und Ingenieurwesen dominiert. Dies hat wohl zu einem besonders ausgeprägten kleinbürgerlichen Habitus geführt, dem ich in dieser Ausprägung sonst nirgendwo in Deutschland begegnet bin.
Laut aktueller Bevölkerungsstatistik leben derzeit unter den über 540.000 Einwohnern der sächsischen Landeshauptstadt etwa 34.000 Ausländer (6,2 %) und 20.000 Deutsche mit Migrationshintergrund (3,7 %). Leider differenziert die Statistik nicht zwischen den verschiedenen Nationalitäten bzw. Herkunftsregionen der Ausländer, man kann aber wohl davon ausgehen, dass sich die Herkunftsverteilung nicht wesentlich von der anderer ostdeutscher Großstädte (ausgenommen natürlich Berlin) unterscheidet. Extrapoliert man die bekannten Zahlen, stellen Russen, Ukrainer und Bürger der anderen Nachfolgestaaten der UdSSR die größte Ausländergruppe mit etwa 16 %, gefolgt von Bürgern der Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit etwa 7 %, EU-Bürger aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien oder Rumänien haben zusammen einen Anteil von ebenfalls etwa 7 %, wohingegen Türken im Osten gerade einmal 3 % der Ausländer stellen. Ebenso wenig signifikant ist die Gruppe der Ostasiaten (vornehmlich Vietnam und China). Die Zahl der Ausländer steigt zwar seit Jahren kontinuierlich an - von 2000 bis 2015 betrug der Zuwachs 4-10 % jährlich, doch ist dies überwiegend der EU-Osterweiterung geschuldet, wohingegen sich die Zahlen für Russen, Ukrainer oder Türken kaum verändert haben. Im Zuge der vor einem Jahr einsetzenden Massenimmigration erhöhte sich vor allem die Zahl der Syrer und derer, die in der Rubrik Sonstige geführt werden, also u.a. Iraker, Afghanen, Eritreer, Nord- und Schwarzafrikaner. Für Dresden müsste diese Zahl inzwischen bei geschätzt 4.000 bis 6.000 liegen, also bei 12 bis 18 % aller Ausländer und 0,7 bis 1,1 % der Gesamtbevölkerung. Vor 2015 muss der Anteil von Moslems in der Stadt Dresden unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle gelegen haben, und auch jetzt sind sie im Stadtbild nicht sichtbar. Wenn sie denn überhaupt noch da sein sollten, muss man sie wohl in der äußersten Peripherie untergebracht haben.
Solche Beobachtungen und Überlegungen führen zu der Vermutung, dass PEGIDA gerade deshalb in Dresden und nur dort entstehen konnte, weil es den Initiatoren wie den Anhängern und erst recht den Mitläufern, jenen so genannten besorgten Bürgern, gar nicht um die von der Politik und den Mainstreammedien viel und gern in Stellung gebrachten materiellen Sorgen oder sozialen Abstiegsängste geht. Nein, dem gewöhnlichen Montagsspaziergänger geht es vielmehr darum, seine geliebtes Dresden, sein geliebtes Sachsen so sauber, so adrett und so bieder zu halten, wie es jetzt ist, und das Stadtbild möglichst frei von allem Fremden. Mit Globalisierung hat das nach meiner Meinung fast nichts zu tun, mit einer gewissen Art sächsischer Volks- und Landschaftshygiene gleichwohl sehr viel (Dresden ist Sitz des Deutschen Hygienemuseums). All jene, die da womöglich kommen könnten, und die, nach meiner Wahrnehmung jedenfalls, auch ein Jahr nach Beginn des Durchwinkens an der deutschen Grenze nicht wirklich in Massen nach Dresden gekommen sind, könnten ja die schöne Heimat be- und verschmutzen mit ihrem Aussehen, ihrer Sprache, ihrem Verhalten, ihren Sitten und Gebräuchen oder gar ihren Krankheiten.
Sollten meine Eindrücke stimmen und meine Meinung sich bestätigen, dann wäre Dresden auch ohne NPD und Identitäre, ja selbst ohne AfD, einfach nur qua Wille seiner Bewohner die größte national befreite Zone Deutschlands. Es brauchte dazu keiner rassistischen Parolen, keiner offen gewaltbereiten Fremdenfeindlichkeit wie in den umliegenden Gemeinden Freital, Pirna oder Heidenau. Die Liebe des Dresdners zu seiner Heimatstadt und deren adrett-sauberer Biederkeit genügte vollauf.
Überflüssig daran zu erinnern, dass Sauberkeit und Reinheit Ideale der Nazis waren, denen es bekanntermaßen um den „gesunden Volkskörper“ und die Ausmerzung all dessen zu tun war, was diesen „Volkskörper“ in welchem Sinn auch immer verunreinigen könnte. Ebenso wenig muss man erwähnen, dass Sprache nie neutral ist, sondern stets neben den offensichtlichen auch unterschwellige Bedeutungen transportiert. Man versteht AfD-Frontmann Höcke (zugegeben kein Dresdner) sicher nicht falsch, wenn man seine Rede davon, dass Erfurt „schön deutsch“ bleiben solle, in genau dem Sinne der Reinhaltung der Stadt und des „Volkskörpers“ versteht. Dass der große Viktor Klemperer seine Untersuchung der Nazisprache unter dem Titel LTI (Lingua Tertii Imperii) ausgerechnet in Dresden geschrieben hat, wirkt da schon wie eine Ironie der Geschichte. 

Montag, 18. Juli 2016

Vor gut 80 Jahren

Zum Putschversuch gegen Erdogan


Zuweilen lohnt ein Blick in die Geschichte.
Am 1. Dezember des Jahres 1934 erschoß ein gewisser Leonid Nikolajew im Smolny, dem Sitz der Leningrader Organisation der Kommunistischen Partei, deren Chef Sergej Kirow. Kirow war Mitglied des Politbüros und galt als strammer Hardliner und Stalinist, auch wenn es diesen Ausdruck seinerzeit noch gar nicht gab.
Stalin nahm den Mord an Kirow, dessen Hintergründe bis heute ungeklärt sind, zum Anlass, eine Jahre andauernde umfassende Säuberung des Partei- und Staatsapparates, der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft sowie der Militärführung einzuleiten, die als der Große Terror in die Geschichte eingehen und an deren Ende Stalin als uneingeschränkter Herrscher über Partei und Sowjetvolk dastehen sollte.
Am bekanntesten dürften wohl die drei großen Moskauer Schauprozesse von 1936, 1937 und 1938 sein, in denen eine beachtliche Zahl von Angehörigen der sowjetischen Elite ihre Teilnahme an angeblichen trotzkistischen oder rechtsabweichlerischen Verschwörungen zugab und dafür zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde. Dazu gehörten neben politischen Leitfiguren wie Kamenjew, Sinowjew, Radek und Bucharin auch Mitexekutoren des stalinschen Terrors. Daneben wurden im ganzen Land weniger bekannte Funktionäre abgeurteilt und umgebracht oder der GULAG überantwortet. Das alles geschah nicht im Verborgenen sondern in größtmöglicher Öffentlichkeit unter den Augen ausländischer Beobachter, wie Lion Feuchtwanger, und begleitet von organisierten Massendemonstrationen, bei denen der Tod der „Schädlinge“ gefordert wurde.
Leo Trotzki, der der ideologischen Urheberschaft zu diesen vermeintlichen Verschwörungen gegen das Sowjetvolk und die legitime Herrschaft der Partei bezichtigt wurde, war 1934 längst im Exil, und zwar von 1929-1933 in der Türkei des Kemal Atatürk und später bekanntlich in Mexiko, wo er 1940 ermordet wurde.
1937 wurde die Rote Armee „enthauptet“. Ca. 80 % der obersten Führungsebene wurden des Hochverrats bezichtigt und hingerichtet, darunter auch Tuchatschewski, der im wenig bekannten Sowjetisch-Polnischen Krieg 1920/21 dem darob in Polen bis heute hoch verehrten Marschall Pilsudski unterlegen war. Vier Jahre später sollte diese „Enthauptung“ hunderttausende Rotarmisten das Leben kosten.

Zuweilen lohnt ein Blick in die Geschichte, denn, um Karl Marx zu zitieren, ereignet sie sich „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“

Sonntag, 17. April 2016

Die dezisionistische Krankheit

Im Editorial der aktuellen Ausgabe 03/2016 des Philosophiemagazins beklagt Chefredakteur Wolfram Eilenberger einen sich ausbreitenden „bekenntnisdurstigen Eigentlichkeitsterror“, der einen dazu zwingen will, zu allem und jedem eine Haltung zu beziehen und einen „weltanschaulichen Offenbarungseid“ abzulegen. Statt dessen plädiert Eilenberger für eine „Kultur der Ironie, des Antestens, Auslotens, Maskierens, der wohlwollenden Provokation und damit auch der wechselseitigen Kränkungsresistenz“. (Merke: Dies wurde weit vor der Causa Böhmermann resp. extra 3 geschrieben.) Dem kann ich mich nur anschließen, meine aber, dass dieser Zwang zur permanenten Entscheidung für oder gegen etwas, unabhängig von der häufig in diesem Zusammenhang mit der Frage „Das meinst Du jetzt nicht wirklich?“ einhergehenden Forderung nach unbedingter Authentizität, Folge einer beunruhigenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist.
In den Krisen der vergangenen Monate und Jahre ist die Politik, die offizielle institutionelle (Parlamente, Regierungen) wie auch die außerinstitutionelle (Bewegungen, neue Parteien) in einen Aktions- und Reaktionsmodus verfallen, bei dem die Entscheidung als solche zum Kern politischen Handelns geworden ist. Die einen treffen permanent Entscheidungen zur Rettung, zum Ausstieg, zum Schutz, zur Abwehr, zur Aufnahme, zum Einsatz usf. Die anderen fordern permanent Entscheidungen ein, die möglichst ihren eigenen Interessen dienen sollen. Eine wirkliche und ergebnisoffene Auseinandersetzung um beste sinnvolle Lösungen der Probleme findet anscheinend nicht mehr statt. Die Ethik der kommunikativen Rationalität ist suspendiert. Es geht nur noch um Ja oder Nein, um Freund oder Feind, um Wir oder Die, um Alles oder Nichts.
Ich halte dies für eine pathologische Entwicklung: Die Krankheit des Dezisionismus hat den öffentlichen Raum befallen. Im politischen Kontext steht der Dezisionist auf dem Standpunkt, dass eine legal getroffene Entscheidung keiner weiteren normativen oder rationalen Begründung bedarf. Die Entscheidung legitimiert sich aus sich selbst heraus bzw. über das Recht des Entscheiders zu entscheiden. Eine argumentative Auseinandersetzung über Gründe und Folgen oder gar die Legitimität der Entscheidung erübrigt sich. Der eingangs beschriebene Aktions- und Reaktionsmodus aktueller deutscher und europäischer politischer Exekutivorgane kann deshalb nur dezisionistisch genannt werden.
Von Fall zu Fall mag es durchaus Gründe geben, warum politische Entscheidungen dezisionistisch getroffen werden: Zum einen kann Zeitdruck eine Rolle spielen, in Not- oder Krisensituationen etwa, zum anderen können es handfeste Sachzwänge sein, die diese oder jene Entscheidung unumgänglich machen. Gerade wirkliche und vermeintliche Sachzwänge werden nur allzu oft zur Begründung angeführt. Die Entscheidungen werden dann als alternativlos deklariert. An Beispielen, insbesondere aus der heimischen Politikszene ist kein Mangel:
  • Banken müssen gerettet werden, weil sie systemrelevant sind.
  • Erbschaftssteuer darf nicht erhoben werden, weil dies Arbeitsplätze gefährden würde.
  • Aus dem gleichen Grund wird entschieden, dass Edeka Kaisers-Tengelmann übernehmen kann.
  • Griechenland muss im Euroraum gehalten werden, denn: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“
  • Sämtliche deutschen Atomkraftwerke  werden abgeschaltet, weil in Japan eine Naturkatastrophe ein AKW beschädigt hat.
  • Edward Snowden kann kein Asyl gewährt werden, weil die USA ein Rechtsstaat seien, in dem ihm keine Todesstrafe drohen würde.
  • Flüchtlinge und Migranten müssen unkontrolliert ins Land gelassen werden, denn andernfalls „ist das nicht mein Land“.
  • Und jüngst: Gegen Jan Böhmermann kann ein Ermittlungsverfahren nach § 103 StGB eröffnet werden, weil die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat ist (nein, weil aktuell gute Beziehungen zur Türkei alternativlos sind).
Für den Bürger mag der praktizierte Dezisionismus die an sich komplizierten politischen Prozesse übersichtlicher machen, weil sie auf einfache Ja/Nein-Entscheidungen heruntergebrochen werden. Auch liebt es der Bürger nicht, so eine verbreitete Ansicht, wenn Parteien und Regierungen ihre internen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte öffentlich austragen;  er will Konsens und klare Kante zugleich. Was der Bürger dabei häufig nicht sieht, ist, dass sich in der dezisionistischen Kante eine zutiefst antiliberale und demokratiegefährdende Haltung zeigt. Die gehäufte Anwendung von Basta- und TINA-Prozeduren im Bereich des Politischen führt ja mitnichten dazu, dass im Interesse der Bevölkerungsmehrheit entschieden wird. Im Gegenteil, wenn politische Auseinandersetzungen nicht mehr offen geführt und Entscheidungsprozesse nicht mehr transparent gemacht werden, wächst der Einfluss der Lobbyisten und der Vertreter  von zumeist wirtschaftlichen Partikularinteressen.
Der von mir schon öfter zitierte Carl Schmitt gilt als der exponierteste Vertreter des Dezisionismus im Bereich des Staatsrechts und der Verfassungslehre. Mit guten Gründen gilt er zudem als „Kronjurist des Dritten Reiches“ (Waldemar Gurian) und intellektueller Wegbereiter der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und des Verfassungsstaates der Weimarer Republik sowie der Errichtung des nationalsozialistischen Führerstaats. Für Schmitt steht der Parlamentarismus in einem Gegensatz zur Demokratie (!) Jenen charakterisiert der Glaube an die Findung von Wahrheit und Richtigkeit durch öffentliche Diskussion im Parlament. Der Parlamentarismus institutionalisiert das „ewige Gespräch“.  Er erscheint Schmitt als Ort apolitischer, bürgerlicher Selbstbespiegelung, die nie zur Entscheidung kommt.  Das Parlament als „Quasselbude“, wie Kaiser  Wilhelm II. den Reichstag einst beschimpfte. Dass Schmitt so über den Parlamentarismus urteilt, ergibt sich aus seinem Begriff des Politischen als Ort der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Ein solcher Politikbegriff hat offensichtlich keinen Platz für den ergebnisoffenen  rationalen Diskurs und den politischen Kompromiss. An die Stelle des Parlamentarismus setzt Carl Schmitt explizit seine Vorstellung von Demokratie als homogenem Nationalstaat unter Ausschluss oder Beseitigung des Heterogenen, gleichsam als institutionalisierter „Volkswille“.
Nach Auschwitz finden solche kruden Politikkonzepte kaum noch Anhänger, und die wenigen werden ihre Ansichten kaum öffentlich äußern. Um so erstaunlicher ist es, dass die politische Praxis eben jene, oben skizzierte dezisionistische Tendenz aufweist, da das Parlament mehr und mehr zur zahnlosen „Quasselbude“ verkommt, während die politischen Entscheidungen längst anderswo getroffen werden. Für den Bürger wird dabei immer undurchsichtiger, an welcher Stelle und von wem eigentlich entschieden wird. Berlin (Regierung, Bundestag), Karlsruhe (Verfassungsgericht), Brüssel (EU-Kommission), Straßburg (EU-Parlament), Luxemburg (EuGH), New York (UNO)? Und was ist mit dem IWF oder der Weltbank? Die gewünschte Eindeutigkeit der Entscheidungen löst sich auf in der Komplexität der globalen Entscheidungsnetzwerke. Und mehr noch, bei den Betroffenen verstärkt sich zusehends das Empfinden, von zwar legalen, aber nicht legitimierten Institutionen beherrscht zu werden.
Wie bereits erwähnt, werden als Begründung für dezisionistische Politik besondere Zwänge herangezogen, die scheinbar außerhalb der Gestaltungsmacht der Akteure liegen. Entscheidungen werden als Ausnahmen von den üblichen politischen Regularien dargestellt, nur, wenn sie gehäuft auftreten, muss gleichwohl die Frage erlaubt sein, ob nicht die bewusste Herbeiführung von Ausnahmetatbeständen das dezisionistische Agieren erst ermöglichen soll.  Einen Hinweis darauf gibt die Beobachtung, dass es sich um Entscheidungen handelt, die vornehmlich der Sicherung von Machtpositionen dienen. An gleicher Stelle war ich vor einiger Zeit bereits auf diesen Aspekt des großkoalitionären resp. merkelschen „Fahrens auf Sicht“ eingegangen. Offenkundig ist damit die Gefahr gegeben, dass dezisionistisches Agieren mit Berufung auf Ausnahmetatbestände von der Ausnahme zur Norm werden könnte und erforderliche demokratische Legitimationen erst im Nachgang erfolgen, sei es durch Parlamentsbeschluss oder durch Plebiszit. In beiden Fällen hätte eine Delegitimation kaum Auswirkungen, weil die Ausnahmeentscheidungen bereits politische Tatsachen geschaffen haben. Jüngstes Beispiel ist das Referendum der Niederländer zum EU-Ukraine-Abkommen.
Wenn aber selbst Plebiszite als Formen direkter Demokratie keinen Einfluss mehr auf die Legitimität politischer Entscheidungen haben, dann muss die Frage nach der Verortung des Souveräns im Europa des 21. Jahrhunderts wie auch auf nationalstaatlicher Ebene gestellt werden.  Der Zulauf, den populistische Parteien in ganz Europa erhalten, lässt vermuten, dass sich große Bevölkerungsgruppen nicht mehr als Teil der Staatssouveränität sehen, die ihnen von den jeweiligen Verfassungen zugesichert wird (§ 20, 2 GG etwa), sondern, ebenso wie ich, eher der Auffassung sind, dass, wie der Politikwissenschaftler Reinhard Mehring fragend formuliert: „die Souveränität in Deutschland und Europa längst zum Elitenprojekt geworden“ ist. Dass sie dabei den falschen Propheten hinterherlaufen, da es denen ebenso wenig um die Wiedereinsetzung der verfassungsmäßigen Souveränität geht, sondern nur um simplen Elitenaustausch, soll hier nicht thematisiert werden.
Souveränität definiert sich über den Umgang mit der Ausnahme, behauptete Carl Schmitt in seiner  Politischen Theologie von 1922: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Wenn das richtig ist, und wenn der Ausnahmezustand bewusst herbeigeführt wird, um dezisionistisch entscheiden zu können, dann laufen wir wirklich Gefahr, dass der Ausnahmezustand zur Regel wird. Denn absehbar ist, dass die Häufigkeit der Krisen und Katastrophen nicht abnehmen wird, und je weniger sich die politischen Akteure mit der Vorbeugung oder Vermeidung befassen, weil sie mehr mit aktuellen Ad-hoc-Aktionen beschäftigt sind oder mit den Aufräumarbeiten infolge der gerade durchstandenen Krisen,  desto häufiger werden die Ausnahmetatbestände und die damit begründeten TINA-Entscheidungen.  Zu besichtigen ist dies bei der aktuellen „Bewältigung“ der Flüchtlingskrise, wo mit dem „Outsourcing“ der Krisenphänomene auf den Balkan, in die Türkei und nach Nordafrika bereits die Keime für die nächsten humanitären Katastrophen gelegt werden. Fast scheint es, als wolle man den Philosophen  Giorgio Agamben nachträglich ins Recht setzen, hatte dieser doch schon 1995, zu Beginn seines Homo-Sacer-Projekts und lange vor dem syrischen Bürgerkrieg oder Guantánamo,  formuliert: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“ (Homo Sacer, Suhrkamp 2002, S. 177) Agambens These ist, dass das Lager zum universellen Ort der vom globalisierten Kapitalismus Entorteten wird, der Entrechteten, denen nichts geblieben ist als das „nackte Leben“. War das Lager bis ins Späte 20. Jahrhunderts  der Ort der Trennung von Freund und Feind, so wird es nun zum Ort des Fremden.
Mir scheint, dass eine Prämisse aktueller deutscher (und europäischer) Migrationspolitik darin besteht, das Lager als reale Einrichtung möglichst fern vom europäischen Wohlstandsraum zu halten. Es wird alles unternommen, dass es in unmittelbarer politischer und medialer Reichweite keine Lager gibt. Nötigenfalls wird auch einfach der Begriffsgebrauch unterlassen, und statt dessen ist von Aufnahmezentren, Erstaufnahmeeinrichtungen, Hot Spots oder schlicht nur von Camps die Rede, wobei auch jene Camps möglichst fern von deutschem Boden sein sollen. Und wo das Lager, wie im Fall des griechischen Idomeni, trotzdem auf EU-Territorium existiert, wird es umgehend skandalisiert, und die Flüchtlinge selbst werden für seine Existenz verantwortlich gemacht. Nicht nur darf von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen, nein, auf europäischem Boden darf auch nie wieder ein Lager errichtet werden. Man möchte hoffen, dass diese Abscheu vor dem Lager einhergeht mit der Erkenntnis, dass eben jenes Lager eine  Konsequenz der eigenen dezisionistischen Politik ist und deren Begründung mit Ausnahmetatbeständen kein Ersatz für reguläre demokratische Prozesse.   

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...