Freitag, 3. März 2023

Die kommende Gemeinschaft. Teil 3

 Subjektkonstitution bei G. H. Mead und A. N. Leontjew

Die Ausgangsfrage dieser Aufsatzreihe lautete: Wenn infolge des wahrscheinlich zu erwartenden Kollapses staatlicher Strukturen auch die Gesellschaft als solche nicht bestehen bleibt, wie kann dann menschliches Über- und Zusammenleben in Gemeinschaft(en) gestaltet werden?

Dass ich im Zuge der bisherigen Untersuchung marxistisches Gedankengut diskutiert habe, hat den einfachen Grund, dass es zwar die Gesellschaft, nämlich die kapitalistische Gesellschaft war, die zentraler Gegenstand der marxschen philosophischen, ökonomischen und politischen Analysen war, der institutionalisierte Sozialismus hingegen, der sich doch schon immer als praktizierter Marxismus verstand, mit dem Kommunismus das Ideal der allumfassenden Gemeinschaft, der communio, seiner (Staats)Bürger anstrebte, worauf ich bei der Erörterung gelebter Moral im institutionalisierten Sozialismus bereits kurz eingegangen war.1 Es lässt sich also im Marxismus ein Keim kommunistischen (was offensichtlich ist) oder, wenn man so will, auch kommunitaristischen Gedankengutes finden, der für meine Zwecke nutzbar gemacht werden soll. Als Kommunismus wurde die angestrebte Gemeinschaft von ihren geistigen Vätern zwar benannt, doch bis auf einige wenige Allgemeinaussagen nicht so recht thematisiert.

Um einen angestrebten Zustand bewusst herzustellen, muss man seine Konstitutionsbedingungen ermitteln. Wenn also die Gemeinschaft das Ziel ist, dann muss geklärt werden, wie Gemeinschaft zustande kommt, d. h. wie es dazu kommt, dass Individuen sich vergemeinschaften. Diese Frage muss aber so lange im Dunkeln bleiben, wie nicht geklärt ist, was eigentlich das menschliche Individuum ist und wie wiederum dieses sich konstituiert.

Im vorangegangenen Teil 2 dieser Aufsatzreihe hatte ich drei vom Marxismus unterbelichtete Theorieaspekte thematisiert – Individuum, Ethik und Demokratie. Der Grund dafür ist, dass meines Erachtens nach keine Sozialtheorie, die eine überzeugende Alternative zum aktuellen, in die Katastrophe steuernden Kapitalismus bieten will, diese Themen aussparen kann. Ganz im Gegenteil ist die ehedem versuchte Alternative des institutionalisierten Sozialismus auch und nicht zuletzt an der offiziellen Geringschätzung von Individuum, Ethik und Demokratie gescheitert. Wie erwähnt, hatte man noch versucht, zumindest zwei der Leerstellen – Individuum und Ethik - zu schließen, indem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einerseits ein Hochschul-Lehrbuch der Ethik erschien und andererseits an der Akademie der Wissenschaften der DDR ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Titel „Biopsychosoziale Einheit Mensch“ initiiert wurde.2 Beides kam zu spät.

G. H. Mead – Die soziale Konstitution des Individuums

Nach Marx (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Thesen über Feuerbach, Die Deutsche Ideologie) war der amerikanische Sozialwissenschaftler George Herbert Mead (1863 – 1931) wohl der erste, der – natürlich in Unkenntnis der marxschen Schriften - wieder einen Versuch unternahm, den spätestens seit René Descartes in der Philosophie vorherrschenden Dualismus von Geist und Materie zu überwinden, und an dessen Stelle ein monistisches Konzept der Subjektkonstitution aus der materiellen, praktischen Lebenswirklichkeit der Menschen zu setzen. Grundlegend für Meads Ansatz ist seine Auffassung vom Bewusstsein als „funktional, nicht substantiv“, das „in der objektiven Welt und nicht im Gehirn lokalisiert werden“ muss.3 Mit dieser Positionierung befindet sich Mead in unmittelbarer Nähe zur 8. Feuerbachthese und zur „Deutsche Ideologie“:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.4

Der wirkliche Lebensprozess, die menschliche Praxis, ist immer schon sinnbehaftet, ist bedeutungsgeladene Lebenswirklichkeit, in der Geist als reflexive, selbstreferentielle Intelligenz, als Selbstbewusstsein entsteht und tätig wird.

Und so ist es denn nach Mead auch „absurd, Geist einfach aus der Sicht des einzelnen menschlichen Organismus zu sehen.“ Vielmehr muss „die subjektive Erfahrung des Einzelnen … mit der natürlichen, sozial-biologischen Tätigkeit des Gehirns verknüpft werden, wenn man Geist annehmbar erklären will; und das kann nur dann geschehen, wenn die gesellschaftliche Natur des Geistes anerkannt wird.“5

Wo Marx von „sozialer Tätigkeit“ spricht, ist bei Mead von „gesellschaftlicher Handlung“ die Rede – beides meint offenkundig ein und das selbe und kann nach Ansicht des Nürnberger Philosophen Horst Müller unter dem Begriff der Praxis subsumiert werden.6 In einem dialektisch zu verstehenden Wechselverhältnis zwischen Individuum und sozialer Wirklichkeit bewirkt diese Praxis die Entstehung sowohl von Bewusstsein im marxschen Verständnis als gesellschaftlichem Bewusstsein als auch von individuellem Bewusstsein, um das es Mead zu tun ist. Entscheidend ist, dass die Praxis bedeutungsgeladen ist, oder, wie Mead es ausdrückt, sinnhaftig. Sinn ist „in der Struktur der gesellschaftlichen Handlung impliziert“.7

Zu seiner Zeit konnte Marx die individualpsychologischen Aspekte der Subjektkonstituierung nicht thematisieren, und er wollte es wohl auch nicht. Er konzentrierte sich gleichsam auf die Umkehrung der Verhältnisse im Kopf als Bedingung der Umkehrung der Verhältnisse in der materiellen Realität. Diese Selbstbeschränkung sollte anscheinend davor bewahren, das monistische Geist-Materie-Konzept wieder dem Idealismus anheim fallen zu lassen. Gerechterweise muss allerdings festgehalten werden, dass eben zu jener Zeit (1844 – 1848) die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin noch gar nicht existent war. Erste Ansätze waren im 18. Jahrhundert bei Christian Wolff und im 19. bei Franz Brentano zu finden. So findet sich denn in der Deutschen Ideologie nur die vage Aussage: „Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen.“

Laut Mead ist die Entwicklung des Geistes eng mit der Entwicklung der Sprache verbunden, allerdings ist dieser dialektische Prozess eingebettet in die Strukturen gesellschaftlichen Handelns. Durch Sprache sind Individuen in der Lage, Symbole zu erstellen und zu verwenden, um Objekte, Ideen und Ereignisse darzustellen, und sich auf komplexe Formen der Kommunikation und des Denkens einzulassen. Jedoch:„Sprache ist nie in dem Sinn willkürlich, dass einfach ein reiner Bewusstseinsinhalt durch ein Wort benannt wird“8 Mit der Herausarbeitung der zentralen Stellung sprachlicher Interaktion für die Subjektkonstitution und damit auch für Gemeinschaften als Sprachgemeinschaften erweist sich Meads Theorie mithin als grundlegend auch für neuere konstitutionstheoretische Ansätze, wie bspw. jene von Jürgen Habermas oder John Searle9. Es wäre jedoch verfehlt, sie auf den so genannten Symbolischen Interaktionismus zu reduzieren, wie dies bspw. bei Hans Joas in seinen ansonsten sehr verdienstvollen Arbeiten zu Mead und zum Pragmatismus10, aber auch bei Habermas mit seiner gekünstelten und gänzlich realitätsfremden Unterscheidung zwischen kommunikativem und instrumentellem Handeln der Fall ist.

A.N. Leontjew – Die Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit

Für Horst Müller ist Georg Herbert Mead das „missing link“ der von Marx inspirierten Praxisphilosophie, in dem dieser, wie eben kurz dargestellt, die theoretische Lücke befüllt, die Marx´Selbstbeschränkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein gelassen hatte. Diese Fixierung auf Mead erscheint mir jedoch etwas einseitig zu sein und die Rolle der kulturhistorischen Schule der Sowjetpsychologie zu vernachlässigen, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass diese sich dem Problemkreis der Subjektkonstitution nicht von originär philosophischer Seite näherte, sondern ihre Theorie offiziell unter dem Dach der Fachwissenschaft Psychologie entwickelte und daraus auch keine Gesellschaftstheorie abzuleiten versuchte. Dies kann auch nicht verwundern, lief doch in den Jahren des Stalinismus bekanntlich jedes offene Philosophieren Gefahr, mit dem Revisionismusvorwurf belegt zu werden, was wiederum geradewegs ins GuLAG oder den Lubjankakeller führen konnte. Die Vertreter der kulturhistorischen Schule der Psychologie - Wygotski, Luria, Leontjew - blieben davon zwar verschont, sahen sich gleichwohl schon früh Repressalien und Publikationsverboten ausgesetzt. Die grundlegenden Texte „Denken und Sprechen“ von Wygotski und „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ von Leontjew konnten erst weit nach Stalins Tod veröffentlicht werden. Ich werde mich im folgenden auf Leontjew konzentrieren, da, wie ich meine, dessen Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit als weiteres “missing link“ im o. g. Sinne angesehen werden kann.

Als Mitbegründer und exponierter Vertreter der Kulturhistorischen Schule konzentrierte sich der Psychologe Alexei Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) auf die Erforschung des Bewusstseins und seiner Beziehung zu Kultur und Gesellschaft. Er interessierte sich besonders für die Rolle von Sprache und Kommunikation bei der Gestaltung der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, und seine Arbeit trug wesentlich dazu bei, das Verständnis der kulturhistorischen Schule darüber zu erweitern, wie soziale und kulturelle Faktoren die kognitive Entwicklung beeinflussen. Leontjew bewegte sich ausdrücklich und offensiv auf dem Boden des historischen Materialismus. Zentraler Bestandteil seiner Entwicklungstheorie der Persönlichkeit ist die Tätigkeitstheorie, mit der er, wie Klaus Holzkamp es ausdrückt, das Konzept der "Dreigliedrigkeit", das heißt der Vermitteltheit der Außenwelteinwirkungen auf das Subjekt durch die gegenständliche Tätigkeit einführte und sich damit explizit vom klassischen „zweigliedrigen“ Subjekt-Objekt-Schema der bürgerlichen Philosophie und Psychologie abgrenzte. Anschließend an die 1. und die 8. Feuerbachthese entwickelte Leontjew seine zentralen Thesen in der Schrift „Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit“11, die 1974 erstmals publiziert wurde.

Darin beleuchtet Leontjew die drei, seiner Ansicht nach, wichtigsten Kategorien einer wissenschaftlichen, und das heißt für ihn marxistischen Psychologie: gegenständliche Tätigkeit, menschliches Bewusstsein und Persönlichkeit. Menschliche Tätigkeit ist stets gegenständliche Tätigkeit, denn, auch wenn sie sich als innere, als Denktätigkeit nicht an einem materiellen Objekt vollzieht, ist sie doch intentional, d. h. auf einen Gegenstand bezogen. Gegenständliche Tätigkeit ist eingebettet in soziale Kontexte und Strukturen. Bezugnehmend auf eine der Schlüsselpassagen der Deutschen Ideologie schreibt Leontjew:

Unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sich die Tätigkeit des Menschen jedoch auch immer vollzogen hat, welche Struktur sie auch immer annimmt, man kann sie niemals isoliert von den gesellschaftlichen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft betrachten. Bei all ihrer Vielfalt stellt die Tätigkeit; des menschlichen Individuums ein System dar, das in das System der gesellschaftlichen Beziehungen eingeschlossen ist. Außerhalb dieser Beziehungen existiert keine menschliche Tätigkeit. Wie sie existiert, das bestimmen jene Formen und Mittel des materiellen und geistigen Verkehrs, die durch die Entwicklung der Produktion erzeugt werden und die sich nur in der Tätigkeit der konkreten Menschen realisieren können.12

Entscheidend für die Rolle der Tätigkeit bei der Entstehung und Entwicklung des Bewusstseins ist für Leontjew, dass sie Bedeutung hat, und: „Die Bedeutungen sind auch die wichtigsten ‚Konstituenten‘ des menschlichen Bewußtseins.“ Hier nun kommt die Sprache ins Spiel:

Wenn auch der Träger der Bedeutungen die Sprache ist, ist doch die Sprache nicht der Demiurg der Bedeutungen. Hinter den sprachlichen Bedeutungen verbergen sich die gesellschaftlich erarbeiteten Verfahren (Operationen) der Handlung, in deren Prozeß die Menschen die objektive Realität verändern und erkennen. Mit anderen Worten, in den Bedeutungen ist die in die Sprachmaterie umgestaltete und eingekleidete ideelle Existenzform der gegenständlichen Welt, ihrer Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen repräsentiert, die durch die gesamte gesellschaftliche Praxis entdeckt wurden.13

Geist, Bewusstsein ist also nicht etwas, das in irgendwelchen Hirnarealen oder neurophysiologischen Prozessen verortet werden kann. Auch auf individualpsychologischer Ebene entsteht und existiert Bewusstsein nur in gegenständlicher Tätigkeit. Bewusstes Handeln ist gegenständliches Handeln, und die Sprache ist die Existenzform des Bewusstseins, indem sie Träger der Bedeutung des bewussten Handelns ist. Das entscheidend Neue der Tätigkeitstheorie gegenüber den Einsichten von Marx und Engels ist die Erkenntnis der zentralen Rolle der Sprache für die Ausbildung und die Erklärung des Bewusstseins. Zusammen mit dem berühmten Satz von Wygotski (auf den Leontjew sich natürlich beruft): „Der Gedanke drückt sich im Wort nicht aus, sondern vollzieht sich im Wort.“, markiert dies quasi einen linguistic turn in der marxistischen Philosophie. Ganz nebenbei werden so die Mysterien der bürgerlichen Philosophie des Geistes (Leib-Seele-Problem u. a.) abgeräumt; zugleich wird der Behaviorismus überwunden, der das Bewusstsein als aktive Komponente menschlichen Verhaltens schlicht negiert.

Aus den bereits erwähnten Gründen wurde Leontjews Tätigkeitstheorie der Subjektkonstitution von der marxistischen Philosophie kaum wahrgenommen. Ihre Wirkung beschränkte sich auf den Bereich der Erziehungswissenschaften. In dieser Hinsicht teilt sie das Schicksal der meadschen Theorie.


1 So sieht es auch der Philosoph Peter Ruben, wenn er schreibt: „Gemeinschaft, so können wir sagen, wird durch die unmittelbare Kooperation in der Produktion realisierbarer (absetzbarer) Güter oder Dienste hervorgebracht. Sie ist wesentlich durch Produktion begründet. Gesellschaft dagegen wird durch den Austausch, durch den Handel fundiert.“ Peter Ruben, Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet.

2 Herbert Hörz. Der Mensch als biopsychosoziale Einheit – Wesen, Genese und Determinanten, 1988. http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/HoerzMensch.pdf

3 George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp 1973, S. 153

4 MEW, Bd. 3, S.

5 a. a. O., S. 174

6 Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert, Kap. 5

7 a. a. O., S. 121

8 a. a. O., S. 113

9 John R. Searle. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Suhrkamp 2011

10 Hans Joas. Praktische Intersubjektivität. Suhrkamp 1989, ders. Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Suhrkamp 1992

11 A. N. Leontjew. Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit. Abrufbar im Max-Stirner-Archiv: http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/Leontjew-TaetigkeitBewusstseinPersoenlichkeit.pdf

12 a. a. O., S. 40 (83)

13 a. a. O., S. 65 (135)

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