Sonntag, 13. Oktober 2019

Cui Bono?


Oder: Wer braucht denn die AfD?


Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor 
dem praktischen Zusammensturz, aller theoretischer Glauben 
in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. 
Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, 
die gedankenlose Konfusion zu verewigen.
Karl Marx


Geht es um Prozesse im Raum des Politischen, ist es immer lohnenswert, die Cui-Bono-Frage zu stellen: Wem nützt es? So auch beim Thema AfD. Es muss Gründe dafür geben, dass die AfD so erstarken konnte, wie es die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen zeigten, und diese Gründe können nicht nur im spezifisch ostdeutschen Protestwahlverhalten verortet werden.
Unmittelbar nach den Landtagswahlen entspann sich eine Debatte darüber, ob die Blauen sich selbst als bürgerlich bezeichnen dürfen, wo sie doch, so die Argumentation des Medien-Mainstreams, voller völkischer Radikaler seien und sich nicht glaubwürdig von Identitären und anderen Verfassungsfeinden abgrenzen würden. Ausgelöst hatte diese Debatte am Wahlabend die AfD selbst, nie um eine gezielte Provokation verlegen, dieses Mal in Richtung der CDU, die zu schlagen man doch angetreten war. Schnell wurde deutlich, dass es in der Debatte vordergründig um einen speziellen, typisch deutschen Begriff von Bürgerlichkeit geht. Anders als das Französische macht das Deutsche keinen Unterschied zwischen dem Bürger als dem Inhaber von Bürgerrechten, dem citoyen, und dem Bürger als dem Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse oder Schicht, dem bourgeois. In der Auseinandersetzung mit der Selbsterklärung der AfD geht es nun aber weder um den einen noch um den anderen Bürgerlichkeitsbegriff, sondern um etwas viel Banaleres, nämlich um Bürgerlichkeit als Habitus ganz im Sinne Bordieus. Die strittige Bürgerlichkeit ist nichts anderes als der Habitus des Kleinbürgers, der Habitus der viel gepriesenen Mittelschicht, um deren Zuneigung und Wahlstimmen doch alle Parteien, selbst Die Linke, sich bemühen.
Der Kleinbürger ist wohl zu unterscheiden vom Bourgeois. Anders als dieser verfügt er nicht oder nur in sehr geringem Umfang über Kapital. Er gehört eher zu den Ausgebeuteten als zu den Ausbeutern. Selbst wenn er als Kleinunternehmer oder Handwerker andere Personen beschäftigt, arbeitet er in der Regel noch selbst und sieht sich deshalb auch zurecht nicht als Kapitalist. Das Kleinbürgertum ist dabei keine Klasse oder Schicht im marxistischen Sinne, eher lässt es sich sich durch seine  Haltung definieren. Als Teil der so genannten Mittelschicht ist es eine höchst heterogene soziale Gruppe, die sich von den erwähnten Kleinunternehmern über die Angehörigen freier Berufe, Akademiker, Staatsbedienstete, Angestellte in der Wirtschaft bis hin zu Arbeitern erstreckt.
Bei den Wahlen zum Bundestag in der alten Bundesrepublik gab der Kleinbürger seine Stimme stets mehrheitlich den Unionsparteien CDU und CSU. Diese Parteien wiederum konnten so ihre objektive Funktion erfüllen, den Kleinbürger dauerhaft an das kapitalistische Wirtschaftssystem zu binden. Der Kleinbürger ist ein wankelmütiges Element im politischen Gefüge. Aufgrund seiner Sandwichposition zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft neigt er je nach persönlicher Befindlichkeit oder Betroffenheit mal zur einen mal zur anderen Seite - das Kapital kann sich nicht auf ihn verlassen. Als in der 1960er Jahren ein beachtlicher Teil der Mittelschicht, besonders der Intellektuellen und Akademiker, sich politisch nach links zu bewegen begann, führte das zur sozial-liberalen Koalition unter Willi Brandt. 30 Jahre später geschah Ähnliches, als Gerhard Schröder die Neue Mitte entdeckte und ins Kanzleramt einzog. In beiden Fällen stand hinter den Wahlerfolgen der SPD - das eine Mal mit der FDP, das andere Mal mit den Grünen - ein informelles Bündnis verschiedener Gruppen des Kleinbürgertums, deren Drang nach gesellschaftlicher Modernisierung sich mit den objektiven Interessen der Arbeiterschaft traf.
In den 1960 und 1970er Jahren reagierten Teile der Union auf diese Entwicklung mit einem Neuen Konservatismus, als dessen exponierteste politische Vertreter Franz Josef Strauß (CSU) und Alfred Dregger (CDU) galten, assistiert von rechtsintellektuellen Stichwortgebern wie  dem Staatsrechtler Ernst Forsthoff  oder dem Philosophen Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Strauß wird bekanntlich der Satz: „Rechts neben uns ist nur noch die Wand.“ zugeschrieben, der verdeutlichen sollte, dass die Union sich als legitimes Sammelbecken aller Rechten versteht und keine parlamentarische Rechte außerhalb der eigenen Partei zu dulden bereit ist. Das bedeutet i. Ü., dass damals wie heute auch eindeutig rechtsextreme Positionen in den Unionsparteien toleriert werden. Wenn F. J. Strauß seit einiger Zeit wieder glorifiziert wird, dann bleibt dabei gern unerwähnt, wie vergleichsweise weit rechts nach heutigen Maßstäben Strauß in Wirklichkeit stand. Man kann vermuten, dass CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt Anfang 2018 eben den Begriff der „Konservativen Revolution“ gebrauchte, weil dieser eindeutig auf eine Zeit lange vor dem Auftreten des Neuen Konservatismus verweist und Dobrindt somit vermeiden konnte, F. J. Strauß in diese Traditionslinie zu stellen.   In der  Süddeutschen Zeitung konnte man lesen, dass der Begriff „Konservative Revolution“ 1950 vom sehr rechten Schweizer Historiker und Publizisten Armin Mohler als Sammelbegriff für unterschiedliche konservative und deutschnationale Denker der Weimarer Republik verwendet wurde. Zu diesen gehörte der Publizist Arthur Moeller van den Bruck, von dem die Süddeutsche schreibt, dass in Moellers Vision die deutschen Werte verwirklicht und die Parteien abgeschafft seien, Ausländer und Juden bei verminderten Bürgerrechten bleiben dürften und in der internationalen Politik das Recht des Stärkeren gelte. Dass hier nun dem Leser unwillkürlich die Parolen der AfD in den Sinn kommen, ist kein Zufall. Indem aber Dobrindt sich explizit des Begriffs „Konservative Revolution“ bedient und nicht etwa mit dem Begriff „Konservatismus“ die eigenen Traditionslinien der CDU/CSU bemüht, versucht er gleichsam, dieses trübe Kapitel der Unionsgeschichte zu überdecken. Zudem wird der Mythos von den standhaften Konservativen aufgefrischt, die sich angeblich dem Nationalsozialismus entgegengestellt hätten. Es soll eine Tür geöffnet werden für jene, die sich rechts der Merkel-CDU verorten, und gleichzeitig, über den historischen Umweg der Assoziation mit den national-konservativen Kräften in der Weimarer Republik, die Abgrenzung von rechtsextremen, faschistoiden Kreisen der AfD betrieben werden. Eben jene Kräfte der „Konservativen Revolution“ sind jedoch der historische Beleg dafür, dass eine solche Abgrenzung dem Wesen des Konservatismus widerspricht, denn tatsächlich müssen Konservatismus und Faschismus als wesensverwandt angesehen werden.
Es wird behauptet, die CDU unter Angela Merkel sei in der Großen Koalition nach links gerückt und habe so rechts von sich den Raum freigemacht, den die AfD nun besetzt hat, und in diesem Sinne sei sie die Mutter der AfD. Ich halte diese Aussage für falsch. Vielmehr waren die SPD unter Schröder und die Grünen unter Fischer (und unter dem Einfluss der hinzugekommenen Bürgerrechtler aus dem Osten) nach rechts gerückt, und zwar so weit nach rechts, dass sie von maßgeblichen Kapitalgruppen der Bundesrepublik als systemstabilisierende Parteien angesehen und auch unterstützt werden konnten.  Indem sie nach ihrem Wahlsieg 1998 die Modernisierung des Arbeitsmarktes, des Unternehmenssteuerrechts, der Außen- und der Umweltpolitik angingen, beförderten sie objektiv die Stabilisierung des deutschen Wirtschaftssystems auf Kosten breiter Arbeitnehmerschichten. Spätestens mit der Banken- und der nachfolgenden Schuldenkrise begann der Modernisierungskonsens zwischen Teilen des Kapitals und der “Neuen Mitte“ zu bröckeln. Nach dem Lehman-Zusammenbruch 2008 und in den darauf folgenden wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen wurde es plötzlich wieder opportun, öffentlich nicht nur vom Neoliberalismus, sondern vom Kapitalismus schlechthin und seinem akuten Versagen zu sprechen. Offen wurde über Alternativen zum neoliberalen Wirtschaftsmodell diskutiert, über Post-Wachstum und Degrowth, über die Entmachtung des Finanzkapitals mittels alternativer Geldschöpfungsmethoden wie Schrumpfgeld oder Digitalwährungen. Mehr noch, zur Deutung der Krisen und deren Folgen besann man sich sogar der im ökonomischen Mainstream längst ad acta gelegten Theorien eines gewissen Karl Marx. Kurzum, in den ersten Jahren der Bankenkrise scheint es, als bliese der Zeitgeist dem Finanzkapital, dem Kapitalismus überhaupt kräftig entgegen  - auch in Deutschland.  Der Kleinbürger droht, dem Kapital von der Stange zu gehen und sich dem linken politischen Spektrum zuzuwenden, dem sich zwischen 2009 und 2013 die Möglichkeit zu einer strukturellen Mehrheit aus SPD, Die Linke und B90/Grüne eröffnet. Von der Merkel-Union ist keine Unterstützung zu erwarten, die erreicht bei der Bundestagswahl 2009 gerade mal 33,5 % und scheint, wie die Sozialdemokraten, auf einem absteigenden Ast. Es ist an der Zeit für etwas Neues.
Die Schuldenkrise in den südlichen Ländern der Eurozone, namentlich in Griechenland, bietet die Gelegenheit, den Kleinbürger wieder einzufangen. Dieser ist reichlich ungehalten darüber, mit welchen angeblichen Unsummen seines hart erarbeiteten Steuergeldes die Südländer vor der Staatspleite gerettet werden sollen.  Die anfänglich als Professorenpartei belächelte Alternative für Deutschland des Bernd Lucke bedient passgenau die kleinbürgerlichen Instinkte und Ressentiments, indem sie gegen den Euro und gegen die Eurorettung auftritt. Mit der Fetischisierung der D-Mark bedient die AfD bereits den nationalen Affekt, artikuliert aber zugleich auch das Unbehagen am Neoliberalismus Brüsseler Prägung. Es mag sein, dass das Kapital nicht an der Wiege der AfD stand, als aber Anfang 2014 mit Hans-Olaf Henkel, dem früheren BDI-Präsidenten und Geschäftsführer von IBM Deutschland, einer seiner  exponiertesten Vertreter der Partei beitrat, wurde klar, dass es seine Interessen in der AfD vertreten wissen wollte.
Mit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 schwenkt die AfD vom Anti-Euro-Kurs um auf einen Anti-Flüchtlings- und Anti-Merkel-Kurs. Da hat Henkel die Partei bereits wieder verlassen; seinen Platz hat inzwischen wohl Alice Weidel eingenommen. Im Verein mit PEGIDA und deren Ablegern wird wiederum der nationale Affekt bedient, wieder werden Missgunst und Neid geschürt. Waren 2012/13 die „faulen Griechen“ das bevorzugte Hassobjekt der kleinbürgerlichen Besitzstandswahrer, sind es nun die „Asyltouristen“, die auf unsere Kosten durchgefüttert werden. Damit erweitert sich die potenzielle Wählerschaft der AfD um diejenigen Kleinbürger der Haltung nach, die objektiv gesehen, die Kosten der globalen Migration zu tragen haben, ohne dafür eine Gegenleistung staatlicherseits erwarten zu dürfen. Der Zorn des Kleinbürgers wird jedoch nicht auf die gelenkt, die in Wirklichkeit die Verantwortung für das Anschwellen der Migrationsströme tragen, die Kriegstreiber im Nahen Osten, die transnationalen, global operierenden Unternehmen der Energie- und Rohstoffindustrie, die Großspekulanten an den Waren-Termin-Börsen oder die neoliberalen Politikdarsteller in Brüssel und Berlin, sondern auf die Migranten, die doch die eigentlichen Leidtragenden des globalisierten Kapitalismus sind.
Neuerdings stellt die AfD die Klimapolitik ins Zentrum ihrer Angriffe auf die „links-liberalen Eliten“. Vordergründig, weil die Themen „Euro“ und „Flüchtlinge“ sich offensichtlich totgelaufen haben und kaum noch Erregungspotenzial bieten. Auch haben die letzten Landtagswahlen gezeigt, dass damit keine weiteren Stimmenzuwächse zu erzielen sind. Objektiv gesehen aber geht es wieder darum, das Kleinbürgertum abzuholen. Das nämlich soll sich akut bedroht fühlen von den gar nicht so weitreichenden Klimaschutzvorhaben der Bundesregierung und noch mehr gar von denen der Grünen oder der Linken. Wieder geht es um Neid und Besitzstandswahrung. Die Grünen werden zum Hauptgegner erkoren, und der Zorn des Kleinbürgers soll sich gegen sie richten.  Wieder soll von den Verursachern abgelenkt werden, in dem nicht der Klimawandel selbst negiert, sondern bestritten wird, dass dieser menschengemachte, also genuin wirtschaftliche Ursachen hat. Dementsprechend sei es laut AfD auch völlig unnütz, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Schon gar nicht müssten die Braunkohleverstromung eingestellt, der verbrennungsmotorisierte Individualverkehr verteuert oder der Fleischkonsum reduziert werden.
Cui bono? Wem also nützt eine solche Propaganda? Offensichtlich solchen Branchen wie Bergbau, Energiewirtschaft, Automobilbau, Agrochemie und Agrarindustrie, denen also, die am meisten von den Klimaschutzmaßnahmen betroffen wären. Statt jedoch wie die Unionsminister Scheuer und Klöckner offen für deren Interessen einzustehen, stilisiert die AfD den Kleinbürger zum Opfer und sich selbst zu dessen Interessenvertreter. Es geht dabei nicht nur um die kurzfristige Profitsicherung, den Shareholer Value in den genannten Branchen. Es geht auch um den langfristigen Erhalt der neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsweise schlechthin, deshalb die massive politische Bekämpfung der Grünen, die man den Unionsparteien und der schwächelnden FDP offenbar nicht mehr zutraut. Die Grünen waren schon immer latent antikapitalistisch. Daran haben auch die Rechtsdrift unter Fischer oder die schwarz-grünen Regierungskoalitionen in den Ländern nichts geändert. Selbst, wenn sie nicht offen antikapitalistisch auftreten, müssen doch ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen als systemgefährdend erscheinen. Dagegen wird nun die angebliche Bürgerlichkeit der AfD in Stellung gebracht. Zusätzlich zu den schon mobilisierten kleinbürgerlichen Wählerschichten sollen diejenigen angesprochen werden, die, weil Klimapolitik bislang nicht mit Sozialpolitik verbunden wird, bei den Klimaschutzmaßnahmen höchstwahrscheinlich draufzahlen werden. 
So ist die AfD bürgerlich in zweierlei Sinn: Vordergründig stellt sie sich dar als wahre Interessenvertreterin des Kleinbürgers. Objektiv jedoch vertritt sie die Interessen der Kapitaleigner, des Großbürgertums, der Bourgeoisie, indem sie jenen Kleinbürger, entgegen seinen wirklichen Interessen, weiter an dasjenige Wirtschaftssystem zu binden trachtet, das sich offensichtlich als unfähig erwiesen hat, die drängendsten Menschheitsprobleme zu lösen.

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine...