Oder: Wer
braucht denn die AfD?
Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor
dem praktischen Zusammensturz, aller theoretischer Glauben
in die permanente
Notwendigkeit der bestehenden Zustände.
Es ist also hier absolutes Interesse
der herrschenden Klassen,
die gedankenlose Konfusion zu verewigen.
Karl Marx
Geht es um Prozesse im Raum des
Politischen, ist es immer lohnenswert, die Cui-Bono-Frage zu stellen: Wem
nützt es? So auch beim Thema AfD. Es muss Gründe dafür geben, dass die AfD
so erstarken konnte, wie es die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg und
Sachsen zeigten, und diese Gründe können nicht nur im spezifisch ostdeutschen
Protestwahlverhalten verortet werden.
Unmittelbar nach den Landtagswahlen
entspann sich eine Debatte darüber, ob die Blauen sich selbst als bürgerlich
bezeichnen dürfen, wo sie doch, so die Argumentation des
Medien-Mainstreams, voller völkischer Radikaler seien und sich nicht
glaubwürdig von Identitären und anderen Verfassungsfeinden abgrenzen würden.
Ausgelöst hatte diese Debatte am Wahlabend die AfD selbst, nie um eine gezielte
Provokation verlegen, dieses Mal in Richtung der CDU, die zu schlagen man doch
angetreten war. Schnell wurde deutlich, dass es in der Debatte vordergründig um
einen speziellen, typisch deutschen Begriff von Bürgerlichkeit geht. Anders als
das Französische macht das Deutsche keinen Unterschied zwischen dem Bürger als
dem Inhaber von Bürgerrechten, dem citoyen,
und dem Bürger als dem Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse
oder Schicht, dem bourgeois. In der
Auseinandersetzung mit der Selbsterklärung der AfD geht es nun aber weder um
den einen noch um den anderen Bürgerlichkeitsbegriff, sondern um etwas viel
Banaleres, nämlich um Bürgerlichkeit als Habitus ganz im Sinne Bordieus. Die
strittige Bürgerlichkeit ist nichts anderes als der Habitus des Kleinbürgers,
der Habitus der viel gepriesenen Mittelschicht, um deren Zuneigung und
Wahlstimmen doch alle Parteien, selbst Die Linke, sich bemühen.
Der Kleinbürger ist wohl zu
unterscheiden vom Bourgeois. Anders als dieser verfügt er nicht oder nur in
sehr geringem Umfang über Kapital. Er gehört eher zu den Ausgebeuteten als zu
den Ausbeutern. Selbst wenn er als Kleinunternehmer oder Handwerker andere
Personen beschäftigt, arbeitet er in der Regel noch selbst und sieht sich
deshalb auch zurecht nicht als Kapitalist. Das Kleinbürgertum ist dabei keine
Klasse oder Schicht im marxistischen Sinne, eher lässt es sich sich durch seine Haltung definieren. Als Teil der so genannten
Mittelschicht ist es eine höchst heterogene soziale Gruppe, die sich von den
erwähnten Kleinunternehmern über die Angehörigen freier Berufe, Akademiker,
Staatsbedienstete, Angestellte in der Wirtschaft bis hin zu Arbeitern
erstreckt.
Bei den Wahlen zum Bundestag in
der alten Bundesrepublik gab der Kleinbürger seine Stimme stets mehrheitlich
den Unionsparteien CDU und CSU. Diese Parteien wiederum konnten so ihre
objektive Funktion erfüllen, den Kleinbürger dauerhaft an das kapitalistische
Wirtschaftssystem zu binden. Der Kleinbürger ist ein wankelmütiges Element im
politischen Gefüge. Aufgrund seiner Sandwichposition zwischen Bourgeoisie und
Arbeiterschaft neigt er je nach persönlicher Befindlichkeit oder Betroffenheit
mal zur einen mal zur anderen Seite - das Kapital kann sich nicht auf ihn
verlassen. Als in der 1960er Jahren ein beachtlicher Teil der Mittelschicht,
besonders der Intellektuellen und Akademiker, sich politisch nach links zu
bewegen begann, führte das zur sozial-liberalen Koalition unter Willi Brandt.
30 Jahre später geschah Ähnliches, als Gerhard Schröder die Neue Mitte entdeckte und ins Kanzleramt
einzog. In beiden Fällen stand hinter den Wahlerfolgen der SPD - das eine Mal
mit der FDP, das andere Mal mit den Grünen - ein informelles Bündnis
verschiedener Gruppen des Kleinbürgertums, deren Drang nach gesellschaftlicher
Modernisierung sich mit den objektiven Interessen der Arbeiterschaft traf.
In den 1960 und 1970er Jahren
reagierten Teile der Union auf diese Entwicklung mit einem Neuen
Konservatismus, als dessen exponierteste politische Vertreter Franz Josef
Strauß (CSU) und Alfred Dregger (CDU) galten, assistiert von
rechtsintellektuellen Stichwortgebern wie
dem Staatsrechtler Ernst Forsthoff
oder dem Philosophen Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Strauß wird bekanntlich
der Satz: „Rechts neben uns ist nur noch die Wand.“ zugeschrieben, der
verdeutlichen sollte, dass die Union sich als legitimes Sammelbecken aller
Rechten versteht und keine parlamentarische Rechte außerhalb der eigenen Partei
zu dulden bereit ist. Das bedeutet i. Ü., dass damals wie heute auch eindeutig
rechtsextreme Positionen in den Unionsparteien toleriert werden. Wenn F. J.
Strauß seit einiger Zeit wieder glorifiziert wird, dann bleibt dabei gern unerwähnt,
wie vergleichsweise weit rechts nach heutigen Maßstäben Strauß in Wirklichkeit
stand. Man kann vermuten, dass CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt Anfang
2018 eben den Begriff der „Konservativen Revolution“ gebrauchte, weil dieser
eindeutig auf eine Zeit lange vor dem Auftreten des Neuen Konservatismus verweist
und Dobrindt somit vermeiden konnte, F. J. Strauß in diese Traditionslinie zu
stellen. In der Süddeutschen Zeitung konnte
man lesen, dass der Begriff „Konservative Revolution“ 1950 vom sehr rechten
Schweizer Historiker und Publizisten Armin Mohler als Sammelbegriff für
unterschiedliche konservative und deutschnationale Denker der Weimarer Republik
verwendet wurde. Zu diesen gehörte der Publizist Arthur Moeller van den Bruck,
von dem die Süddeutsche schreibt, dass in Moellers Vision die deutschen Werte
verwirklicht und die Parteien abgeschafft seien, Ausländer und Juden bei
verminderten Bürgerrechten bleiben dürften und in der internationalen Politik
das Recht des Stärkeren gelte. Dass hier nun dem Leser unwillkürlich die
Parolen der AfD in den Sinn kommen, ist kein Zufall. Indem aber Dobrindt sich
explizit des Begriffs „Konservative Revolution“ bedient und nicht etwa mit dem
Begriff „Konservatismus“ die eigenen Traditionslinien der CDU/CSU bemüht,
versucht er gleichsam, dieses trübe Kapitel der Unionsgeschichte zu überdecken.
Zudem wird der Mythos von den standhaften Konservativen aufgefrischt, die sich
angeblich dem Nationalsozialismus entgegengestellt hätten. Es soll eine Tür
geöffnet werden für jene, die sich rechts der Merkel-CDU verorten, und
gleichzeitig, über den historischen Umweg der Assoziation mit den
national-konservativen Kräften in der Weimarer Republik, die Abgrenzung von
rechtsextremen, faschistoiden Kreisen der AfD betrieben werden. Eben jene
Kräfte der „Konservativen Revolution“ sind jedoch der historische Beleg dafür,
dass eine solche Abgrenzung dem Wesen des Konservatismus widerspricht, denn
tatsächlich müssen Konservatismus und Faschismus als wesensverwandt angesehen
werden.
Es wird behauptet, die CDU unter
Angela Merkel sei in der Großen Koalition nach links gerückt und habe so rechts von sich den Raum freigemacht, den
die AfD nun besetzt hat, und in diesem Sinne sei sie die Mutter der AfD. Ich
halte diese Aussage für falsch. Vielmehr waren die SPD unter Schröder und die
Grünen unter Fischer (und unter dem Einfluss der hinzugekommenen Bürgerrechtler
aus dem Osten) nach rechts gerückt,
und zwar so weit nach rechts, dass sie von maßgeblichen Kapitalgruppen der
Bundesrepublik als systemstabilisierende Parteien angesehen und auch
unterstützt werden konnten. Indem sie
nach ihrem Wahlsieg 1998 die Modernisierung des Arbeitsmarktes, des
Unternehmenssteuerrechts, der Außen- und der Umweltpolitik angingen,
beförderten sie objektiv die Stabilisierung des deutschen Wirtschaftssystems auf
Kosten breiter Arbeitnehmerschichten. Spätestens mit der Banken- und der
nachfolgenden Schuldenkrise begann der Modernisierungskonsens zwischen Teilen
des Kapitals und der “Neuen Mitte“ zu bröckeln. Nach dem Lehman-Zusammenbruch
2008 und in den darauf folgenden wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen
wurde es plötzlich wieder opportun, öffentlich nicht nur vom Neoliberalismus,
sondern vom Kapitalismus schlechthin und seinem akuten Versagen zu sprechen.
Offen wurde über Alternativen zum neoliberalen Wirtschaftsmodell diskutiert,
über Post-Wachstum und Degrowth, über die Entmachtung des
Finanzkapitals mittels alternativer Geldschöpfungsmethoden wie Schrumpfgeld
oder Digitalwährungen. Mehr noch, zur Deutung der Krisen und deren Folgen
besann man sich sogar der im ökonomischen Mainstream längst ad acta gelegten
Theorien eines gewissen Karl Marx. Kurzum, in den ersten Jahren der Bankenkrise
scheint es, als bliese der Zeitgeist dem Finanzkapital, dem Kapitalismus
überhaupt kräftig entgegen - auch in
Deutschland. Der Kleinbürger droht, dem
Kapital von der Stange zu gehen und sich dem linken politischen Spektrum
zuzuwenden, dem sich zwischen 2009 und 2013 die Möglichkeit zu einer
strukturellen Mehrheit aus SPD, Die Linke und B90/Grüne eröffnet. Von der
Merkel-Union ist keine Unterstützung zu erwarten, die erreicht bei der
Bundestagswahl 2009 gerade mal 33,5 % und scheint, wie die Sozialdemokraten,
auf einem absteigenden Ast. Es ist an der Zeit für etwas Neues.
Die Schuldenkrise in den
südlichen Ländern der Eurozone, namentlich in Griechenland, bietet die
Gelegenheit, den Kleinbürger wieder einzufangen. Dieser ist reichlich
ungehalten darüber, mit welchen angeblichen Unsummen seines hart erarbeiteten
Steuergeldes die Südländer vor der Staatspleite gerettet werden sollen. Die anfänglich als Professorenpartei
belächelte Alternative für Deutschland des Bernd Lucke bedient passgenau die
kleinbürgerlichen Instinkte und Ressentiments, indem sie gegen den Euro und
gegen die Eurorettung auftritt. Mit der Fetischisierung der D-Mark bedient die
AfD bereits den nationalen Affekt, artikuliert aber zugleich auch das Unbehagen
am Neoliberalismus Brüsseler Prägung. Es mag sein, dass das Kapital nicht an
der Wiege der AfD stand, als aber Anfang 2014 mit Hans-Olaf Henkel, dem früheren
BDI-Präsidenten und Geschäftsführer von IBM Deutschland, einer seiner exponiertesten Vertreter der Partei beitrat,
wurde klar, dass es seine Interessen in der AfD vertreten wissen wollte.
Mit der Flüchtlingskrise des
Jahres 2015 schwenkt die AfD vom Anti-Euro-Kurs um auf einen Anti-Flüchtlings-
und Anti-Merkel-Kurs. Da hat Henkel die Partei bereits wieder verlassen; seinen Platz hat inzwischen wohl Alice Weidel eingenommen. Im
Verein mit PEGIDA und deren Ablegern wird wiederum der nationale Affekt
bedient, wieder werden Missgunst und Neid geschürt. Waren 2012/13 die „faulen
Griechen“ das bevorzugte Hassobjekt der kleinbürgerlichen Besitzstandswahrer,
sind es nun die „Asyltouristen“, die auf unsere Kosten durchgefüttert werden.
Damit erweitert sich die potenzielle Wählerschaft der AfD um diejenigen Kleinbürger
der Haltung nach, die objektiv gesehen, die Kosten der globalen Migration zu
tragen haben, ohne dafür eine Gegenleistung staatlicherseits erwarten zu
dürfen. Der Zorn des Kleinbürgers wird jedoch nicht auf die gelenkt, die in
Wirklichkeit die Verantwortung für das Anschwellen der Migrationsströme tragen,
die Kriegstreiber im Nahen Osten, die transnationalen, global operierenden
Unternehmen der Energie- und Rohstoffindustrie, die Großspekulanten an den
Waren-Termin-Börsen oder die neoliberalen Politikdarsteller in Brüssel und
Berlin, sondern auf die Migranten, die doch die eigentlichen Leidtragenden des
globalisierten Kapitalismus sind.
Neuerdings stellt die AfD die
Klimapolitik ins Zentrum ihrer Angriffe auf die „links-liberalen Eliten“.
Vordergründig, weil die Themen „Euro“ und „Flüchtlinge“ sich offensichtlich
totgelaufen haben und kaum noch Erregungspotenzial bieten. Auch haben die
letzten Landtagswahlen gezeigt, dass damit keine weiteren Stimmenzuwächse zu
erzielen sind. Objektiv gesehen aber geht es wieder darum, das Kleinbürgertum
abzuholen. Das nämlich soll sich akut bedroht fühlen von den gar nicht so
weitreichenden Klimaschutzvorhaben der Bundesregierung und noch mehr gar von
denen der Grünen oder der Linken. Wieder geht es um Neid und Besitzstandswahrung.
Die Grünen werden zum Hauptgegner erkoren, und der Zorn des Kleinbürgers soll
sich gegen sie richten. Wieder soll von
den Verursachern abgelenkt werden,
in dem nicht der Klimawandel selbst negiert, sondern bestritten wird, dass
dieser menschengemachte, also genuin wirtschaftliche Ursachen hat.
Dementsprechend sei es laut AfD auch völlig unnütz, irgendetwas dagegen zu
unternehmen. Schon gar nicht müssten die Braunkohleverstromung eingestellt, der
verbrennungsmotorisierte Individualverkehr verteuert oder der Fleischkonsum
reduziert werden.
Cui bono? Wem also nützt eine
solche Propaganda? Offensichtlich solchen Branchen wie Bergbau,
Energiewirtschaft, Automobilbau, Agrochemie und Agrarindustrie, denen also, die
am meisten von den Klimaschutzmaßnahmen betroffen wären. Statt jedoch wie die
Unionsminister Scheuer und Klöckner offen für deren Interessen einzustehen,
stilisiert die AfD den Kleinbürger zum Opfer und sich selbst zu dessen
Interessenvertreter. Es geht dabei nicht nur um die kurzfristige Profitsicherung,
den Shareholer Value in den genannten Branchen. Es geht auch um den
langfristigen Erhalt der neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsweise
schlechthin, deshalb die massive politische Bekämpfung der Grünen, die man den
Unionsparteien und der schwächelnden FDP offenbar nicht mehr zutraut. Die
Grünen waren schon immer latent antikapitalistisch. Daran haben auch die
Rechtsdrift unter Fischer oder die schwarz-grünen Regierungskoalitionen in den
Ländern nichts geändert. Selbst, wenn sie nicht offen antikapitalistisch
auftreten, müssen doch ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen als
systemgefährdend erscheinen. Dagegen wird nun die angebliche Bürgerlichkeit der
AfD in Stellung gebracht. Zusätzlich zu den schon mobilisierten
kleinbürgerlichen Wählerschichten sollen diejenigen angesprochen werden, die,
weil Klimapolitik bislang nicht mit Sozialpolitik verbunden wird, bei den
Klimaschutzmaßnahmen höchstwahrscheinlich draufzahlen werden.
So ist die AfD bürgerlich
in zweierlei Sinn: Vordergründig stellt sie sich dar als wahre
Interessenvertreterin des Kleinbürgers. Objektiv jedoch vertritt sie die
Interessen der Kapitaleigner, des Großbürgertums, der Bourgeoisie, indem
sie jenen Kleinbürger, entgegen seinen wirklichen Interessen, weiter an dasjenige
Wirtschaftssystem zu binden trachtet, das sich offensichtlich als unfähig
erwiesen hat, die drängendsten Menschheitsprobleme zu lösen.