Mittwoch, 18. März 2015

Always the same. The Great Transformation von Karl Polanyi

Was ist´s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist´s, das man getan hat ? Eben das man hernach tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.
Geschieht auch etwas, davon man sagen möchte: Siehe, das ist neu? Es ist zuvor auch geschehen in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind.
Buch Kohelet 1,9-10


„Die Rückzahlung von Auslandskrediten und die Rückkehr zu stabilen Währungen wurden als Prüfsteine rationaler Politik gewertet; und kein privates Leid, keine Verletzung der Sou­veränität wurde als ein zu großes Opfer gewertet, wenn es um die Wiederherstellung der monetären Bonität ging. Die Entbehrungen der durch die Deflation arbeitslos Geworde­nen; die Notlage der öffentlich Bediensteten, die ohne Federlesens entlassen wurden, ja so­gar der Verzicht auf nationale Rechte und der Verlust verfassungsmäßiger Freiheiten wur­den als angemessener Preis für die Erfüllung der Forderung nach einem ausgeglichenen Budget und einer gesunden Währung betrachtet, jenen vorrangigen Grundsätzen des Wirt­schaftsliberalismus.“

Dies ist nicht die Analyse der Linkspartei zum bisherigen Umgang der Troika mit Grie­chenland. Das Zitat ist der 1944 erschienenen Abhandlung The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen des Wirtschaftshistorikers und Soziologen Karl Polanyi1 entnommen, und es bezieht sich auf die großen Krisen der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die ja in der kollektiven Erinnerung von uns Deutschen fast ausschließlich durch die Hyperinflation präsent sind. Gleichwohl offenbart die zitierte Passage, dass die Symptome der aktuellen Krise des kapi­talistischen Wirtschaftssystems keineswegs neu sind, so dass man sich doch fragen sollte, ob nicht auch die Ursachen die gleichen wie damals vor fast 90 Jahren sein könnten.

In seinem Buch erzählt Polanyi die Geschichte der modernen Marktwirtschaft als Ge­schichte einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, nämlich der Umwandlung „der na­türlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren“. The Great Transforma­tion ist dabei eine dieser großen Erzählungen darüber, warum wir sind, wer und was wir sind, und wie wir so geworden sind. Anhand konkreter historischer Ereignisse im Großbri­tannien des beginnenden 19. Jahrhunderts beschreibt Polanyi, dass und wie der liberale Staat, der Staat der Marktgesellschaft, wie Polanyi sie nennt, den freien, unregulierten Markt überhaupt erst geschaffen hat. Er widerlegt damit das wirtschaftsliberale Dogma, dass Wirtschaften auf der natürlichen Neigung der Menschen zum Tauschhandel und damit auf der Existenz von Märkten beruhe. Vielmehr zeigt er, wie Regierungshandeln und Gesetzgebung spätestens seit 1834 mit der Abschaffung des Speenhamland-Gesetzes, einer Art früher Sozialgesetzgebung zum Schutz der verarmten Landbevölkerung vor dem Hungertod, zunächst einen freien Arbeitsmarkt schufen und parallel dazu auch ein Markt für Grund und Boden entstand. Zusammen mit der zunehmenden „Fetischisierung“, wie Marx es nannte, des Geldes als Ware entstand so binnen weniger Jahrzehnte der institutionelle Kern der liberalen Marktgesellschaft, begleitet von einer radikalen, vornehmlich auf die Ideen von Adam Smith und Jeremy Bentham zurückgehenden Veränderung des herrschenden Menschenbildes hin zum egoistischen Homo oeconomicus. Damit bestätigte sich gleichsam das Marxsche Diktum: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ Polanyi verdeutlicht dies, wenn er schreibt: „Denn während bis zur Zeit Adam Smith´diese Tendenz im Leben keiner bekannten Gesellschaft in größerem Maße hervorgetreten war und bestenfalls eine untergeordnete Rolle im Wirtschaftsleben spielte, herrschte hundert Jahre später ein industrielles System über den Großteil der Erde, das praktisch und theoretisch implizierte, daß die Menschheit in allen ihren wirtschaftlichen, wenn nicht gar in ihren politischen, intellektuellen und geistigen Aktivitäten von dieser einen besonderen Tendenz bestimmt wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte Herbert Spencer … das Prinzip der Arbeitsteilung mit Tausch und Tauschhandel gleichsetzen, und fünfzig Jahre später konnten Ludwig von Mises und Walter Lippmann denselben Trugschluss wiederholen. Aber um diese Zeit brauchte man keine Argumente mehr. Eine Unzahl von Autoren, die sich mit Nationalökonomie, Gesellschaftsgeschichte, Staatswissenschaft und allgemeiner Gesellschaftswissenschaft befaßten, waren den Spuren von Adam Smith gefolgt und übernahmen sein Paradigma vom Tauschhandel treibenden Wilden als ein Axiom für ihre jeweiligen Wissenschaften.“2 Und leider, so muss man wohl konstatieren, hat der angeblich naturgegebene Homo oeconomicus immer noch, wenn auch nur als theoretisches Modell eines Nutzenmaximierers, eine zentrale Rolle in den Wirtschaftswissenschaften inne. 

Die Große Transformation ist nach Polanyi die nahezu weltweite Durchsetzung der libera­len Marktgesellschaft unter dem ideologischen Paradigma des Laissez-faire in der hun­dertjährigen, weitgehend (jedenfalls für West- und Zentraleuropa) friedlichen Periode zwi­schen dem Wiener Kongress, der sich i.ü. dieser Tage zum 200. Mal jährt, und dem Aus­bruch des Ersten Weltkriegs. Diese liberale Marktgesellschaft wird von Polanyi folgender­maßen charakterisiert: „Eine Marktwirtschaft ist ein ökonomisches System, das aus­schließlich von Märkten kontrolliert, geregelt und gesteuert wird; die Ordnung der Waren­produktion und -distribution wird diesem selbstregulierenden Mechanismus überlassen. Eine Wirtschaftsform solcher Art beruht auf der Erwartung, der Mensch werde sich so ver­halten, daß er einen maximalen Geldgewinn erziehlt3. Sie setzt Märkte voraus, auf denen das zu einem bestimmten Preis verfügbare Angebot an Gütern (einschließlich Dienstleis­tungen) gleich der Nachfrage zu diesem Preis ist. Sie setzt die Existenz von Geld voraus, das in den Händen seiner Besitzer als Kaufkraft wirksam ist. Die Produktion wird dann von den Preisen bestimmt, denn die Profite jener, die die Produktion lenken, werden von diesen Preisen abhängen; die Distribution der Güter wird ebenfalls von den Priesen abhän­gig sein, denn Preise bilden Einkommen, und mit Hilfe dieser Einkommen werden die er­zeugten Güter unter den Mitgliedern der Gesellschaft verteilt. Unter dieser Voraussetzung wird die Produktion und Distribution von Gütern ausschließlich durch die Preise gesichert.

Selbstregulierung bedeutet, dass die gesamte Produktion auf dem Markt zum Verkauf steht und daß alle Einkommen aus diesen Verkäufen entstehen. Dementsprechend gibt es Märk­te für alle Wirtschaftsfaktoren, nicht nur für Güter (immer mit Einschluss der Dienstleis­tungen), sondern auch für Arbeit, Boden und Geld, deren Preise jeweils Warenpreise, Löh­ne, Bodenrente und Zins genannt werden. Diese Begriffe weisen bereits darauf hin, dass Preise die Einkommen bilden: der Zins ist der Preis für die Geldnutzung und bildet das Einkommen jener, die in der Lage sind, Geld zur Verfügung zu stellen; die Bodenrente ist der Preis für die Landnutzung und bildet das Einkommen jener, die Boden zur Verfügung stellen; der Lohn ist der Preis für die Nutzung von Arbeitskraft und bildet das Einkommen jener, die sie anbieten; der Warenpreis schließlich trägt zum Einkommen jener bei, die ihre unternehmerischen Fähigkeiten anbieten, das als Profit bezeichnete Einkommen entsteht in Wirklichkeit aus der Differenz zwischen zwei Arten von Preisen, dem Preis der produ­zierten Güter und deren Kosten, das heißt, dem Preis der Waren, die für ihre Erzeugung erforderlich sind. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann werden alle Einkommen aus Verkäufen auf dem Markt entstehen, und die Einkommen werden gerade ausreichen, alle produzierten Waren zu kaufen.

Es folgt eine weitere Gruppe von Annahmen, die sich auf den Staat und dessen Politik be­ziehen. Es darf nichts geben, das die Bildung von Märkten behindert, auch darf keine Ein­kommensbildung zugelassen werden, die nicht durch Verkäufe entsteht. Weiter darf es kein Eingreifen in die Anpassung der Preise an geänderte Marktbedingungen geben, ganz gleich, ob es sich um den Preis von Waren, Arbeitskraft, Boden oder Geld handelt. Es muss daher nicht nur Märkte für alle Elemente der Wirtschaft geben, sondern es darf auch keine Maßnahme oder Politik zugelassen werden, die das Geschehen auf diesen Märkten beein­flussen würde. Es dürfen daher weder der Preis noch Angebot oder Nachfrage festgesetzt oder geregelt werden; zulässig sind nur solche Richtlinien und Maßnahmen, die die Selbst­regelung des Marktes sichern, indem Verhältnisse geschaffen werden, die den Markt zur einzig wirksamen Kraft im wirtschaftlichen Bereich machen.“4 Und als heutiger Leser ist man geneigt hinzuzufügen: Nicht nur im wirtschaftlichen Bereich. Denn was ist, gerade im letzten Absatz des Zitats anderes beschrieben als die von Kanzlerin Merkel 2011 geforderte marktkonforme Demokratie.5

Nach Polanyi sollte die so charakterisierte Marktgesellschaft unweigerlich an sich selbst zu Grunde gehen, denn ihre Grundannahmen von der Warenförmigkeit der Produktionsfak­toren Arbeitskraft, Boden und Geld sind willkürlicher Natur und schlicht falsch: „Arbeit ist bloß eine andere Bezeichnung für eine menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich ge­hört, das seinerseits nicht zum Zwecke des Verkaufs, sondern zu gänzlich anderen Zwe­cken hervorgebracht wird; auch kann diese Tätigkeit nicht vom restlichen Leben abge­trennt, aufbewahrt oder flüssig gemacht werden.6 Boden wiederum ist nur eine andere Be­zeichnung für Natur, die nicht vom Menschen produziert wird; und das eigentliche Geld, schließlich, ist nur ein Symbol für Kaufkraft, das in der Regel überhaupt nicht produziert, sondern durch den Mechanismus des Bankwesens oder der Staatsfinanzen in die Welt ge­setzt wird. Keiner dieser Faktoren wird produziert, um verkauft zu werden. Die Bezeich­nung von Arbeit, Boden und Geld als Waren ist somit völlig fiktiv.“7

Dass ein solches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nicht umgehend an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert ist, wie es bekanntlich Karl Marx anhand seiner Analysen pro­gnostizierte, sondern sich zunächst, sicher auch mit einigen Krisen, einer hundertjährigen Prosperität erfreuen konnte, lag laut Polanyi daran, dass die liberale Marktwirtschaft sich im Zusammenspiel mit dem liberalen Staat die passende Gesellschaftsform geschaffen hat, die Marktgesellschaft. Das Wirtschaften wird aus dem sozialen Kontext herausgelöst, es er­füllt keine sozialen Funktionen, wie noch in den Epochen davor, sondern bildet nun eine separate Wirtschaftsordnung, die nach eigenen Regeln und Gesetzen, gleichsam außerhalb des sonstigen gesellschaftlichen Geschehens funktioniert. Der marktkonforme Staat wäre demnach einer, der sich zum einen komplett aus dem Wirtschaftsleben heraushält und zum anderen die institutionellen Rahmenbedingungen für die dauerhafte Aufrechterhal­tung der Warenfiktion von Arbeit, Boden und Geld schafft. Das politisch Spannende dar­an ist nun, dass, weil das Wirtschaftssystem in Marktgesellschaften weitgehend losgelöst vom konkreten Staatsaufbau ist, der marktkonforme Staat vielerlei Gestalt annehmen kann, ohne dass er grundsätzlich gegen das Laissez-faire-Prinzip verstoßen müsste. Er muss nicht demokratisch sein oder republikanisch, inzwischen haben wir es ja mit einer Vielfalt von prinzipiell marktkonformen kapitalistischen Staatsordnungen zu tun, deren Möglichkeit wohl nur mit dieser systemischen Autonomie des Wirtschaftens zu erklären ist: Anglo-amerikanisches Modell (USA, Großbritannien, ehem. Commonwealth), soziale Marktwirtschaft (EU, Japan), Staatskapitalismus mit und (meist) ohne demokratische Strukturen (China, Russland und einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion), dynastische und halbdynastische Systeme (Golfstaaten, Naher Osten, Zentral- und Ostasien), Theokra­tie (Iran), politischer Sozialismus (Bolivien, Venezuela).

Wie ein solches marktkonformes Staatswesen durchgesetzt wurde, illustriert Polanyi, der zum Ende des Zweiten Weltkriegs die eben skizzierten, pluralen Entwicklungen natürlich nicht prognostizieren konnte, sondern eine völlig andere Vorstellung von der Zukunft der Marktwirtschaft hatte, worüber noch zu sprechen sein wird, anhand des Umgangs mit dem bereits erwähnten Speenhamland-Gesetz. Nach diesem Gesetz wurde staatlicherseits allen Armen ein Existenzminimum zugestanden – zum einen als eine Art Sozialhilfe, zum ande­ren als Lohnzuschuss. Wer hier nun an Hartz IV, Kombilohn o.ä. denkt, liegt wohl nicht ganz falsch. Die Anwendung des Gesetzes zwischen 1795 und 1834 zeitigte allerdings völlig unbeabsichtigte Seiten- und Folgeeffekte: Die Lohnzuschüsse führten dazu, dass die Löhne unter das Existenzminimum sanken, und für die Bedürftigen wurde es attraktiver, das Existenzminimum auch ohne Arbeit direkt vom Staat zu beziehen. Bei denen, die trotzdem arbeiteten oder zur Arbeit in Arbeitshäusern gezwungen wurden, sank die Arbeitsmoral, weil es ja völlig gleichgültig war, woher das existenzsichernde Einkommen bezogen wurde. Die Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität waren verheerend. Polanyi kommentiert lapidar: „Der Versuch, eine kapitalistische Ordnung ohne einen Arbeitsmarkt zu schaffen, war völlig gescheitert.“8

Das Recht auf Lebensunterhalt wurde 1834 abgeschafft, die Armen so sich selbst überlas­sen, und wer auf dem nun geschaffenen Arbeitsmarkt keinen Platz fand, galt fortan als Ar­beitsloser und war in den Augen eines großen Teils der Gesellschaft selbst schuld an sei­nem Schicksal. "Es kristallisierten sich gleichsam zwei Nationen heraus.“, schreibt Polanyi, „Zur Verblüffung der denkenden Menschen zeigte es sich, daß unerhörter Reichtum von unerhörter Armut nicht zu trennen war. Gelehrte erklärten einhellig, man habe eine Lehre entdeckt, welche die Gesetzmäßigkeiten, die die Welt des Menschen bestimmen, außer Zweifel stellte. Im Namen dieser Gesetzmäßigkeiten wurde das Mitgefühl aus den Herzen getilgt, und eine stoische Entschlossenheit, die menschliche Solidarität im Namen des größten Glücks für die größte Zahl aufzugeben, erhielt den Rang einer weltlichen Religion."9

Höhepunkt der Great Transformation war für Polanyi die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit internationalem Frieden durch die vier Einrichtungen Kräftegleichgewicht, Goldstan­dard, selbstregulierender Markt und liberaler Staat. Als jedoch der Goldstandard als fester Umrechnungsmaßstab der internationalen Währungen Anfang der 1930er Jahre schritt­weise aufgegeben wurde, war der Zusammenbruch der liberalen Marktgesellschaft, den Polanyi u.a. auch mit der eingangs zitierten Passage konstatierte, beinahe nur noch eine Frage der Zeit. Polanyi hegte die Hoffnung, dass mit der Weltwirtschaftskrise von 1929/30 und dem erforderlichen massiven regulierenden Eingreifen der Staaten in ihre Volkswirt­schaften das letzte Stündlein des liberalen Kapitalismus, wie er ihn kannte, geschlagen habe, und an seine Stelle ein humaneres Wirtschaften ohne frei Märkte für Arbeit, Boden und Geld treten würde. Er selbst entwickelt in seinem Buch entsprechende Ideen unter Be­zugnahme auf die utopisch-sozialistischen Experimente Robert Owens und dessen Entde­ckung der Gesellschaft. 

Entstehung und Bewältigung der aktuellen großen Finanz- und Schuldenkrise zeigen aber selbst dem ökonomisch unbedarften Laien, dass sich seit dem Erscheinen von The Great Transformation nur sehr wenig wirklich geändert hat. Sicher, man sollte die sozialen Er­folge der so genannten Sozialen Marktwirtschaft, wie überhaupt des kontinentaleuropäi­schen wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismusmodells nicht klein reden, dabei jedoch auch nicht vergessen, dass diese unbestreitbaren Errungenschaften in rigider Abgrenzung zum national-sozialistischen Modell der Vergesellschaftung des Individuums und im Wettbe­werb mit Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen des real existierenden Sozialismus und im institutionellen Rahmen eines korporatistischen Konsenses von Wirtschaft und Ge­werkschaften erreicht wurden. Polanyi selbst gibt eine Erklärung, warum seine Hoffnung, „das Ende der Marktwirtschaft“ könne „den Anfang einer Ära nie dagewesener Freiheit be­deuten“ unerfüllt bleiben könnte: „Indessen sehen wir diesen Weg durch ein ethisches Hindernis versperrt. Planung und Kontrolle werden als Verleugnung der Freiheit angegrif­fen. Freies Unternehmertum und Privateigentum werden als Wesensmerkmale der Frei­heit deklariert, und es heißt, keine auf anderen Grundlagen errichtete Gesellschaft verdie­ne es, frei genannt zu werden. Die durch Regelung geschaffene Freiheit wird als Unfreiheit denunziert; die Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlfahrt, die sie bietet, werden als Tarnung der Versklavung verspottet.“10 Man muss leider feststellen, dass auch die Argumentations­linien die gleichen geblieben sind wie vor nunmehr 70 Jahren. Und gerade weil sich diese Argumentationslinien inzwischen tief in unsere individuelle und kollektive Psyche einge­prägt haben11, scheint es fast aussichtslos zu sein, dem real existierenden, globalen markt­wirtschaftlichen System, das sich doch angesichts der verheerenden Krisenfolgen und der offensichtlich damit einhergehenden beschleunigten Umverteilung von unten nach oben hinreichend diskreditiert zu haben scheint, Alternativen entgegen zu setzen. Statt dessen erschrickt man darüber, wie viel Zulauf und Zuspruch marktradikale Ideologen wie die AfD oder der so genannte Wirtschaftsflügel der CDU erhalten, von denen genau die ein­gangs zitierte „Forderung nach einem ausgeglichenen Budget und einer gesunden Wäh­rung“ erhoben wird. 

Das Frappierendste an Polanyis Abhandlung ist ihre offensichtliche Aktualität. Auch über 70 Jahre nach ihrer Abfassung findet der Leser sich in der gleichen Welt wieder, zu der der Autor damals schon den Abgesang verfasst hatte. Was mich nun zu einem eher persön­lichem Statement bringt. Je länger und intensiver ich mich mit der Sozial- und Geistesge­schichte des 18. und 19. Jahrhunderts, das ja bis 1914 andauerte, beschäftige desto häufi­ger beschleicht mich der Gedanke, dass das 20. Jahrhundert ein verlorenes war. Zwei Weltkriege mit unermesslichen Opfern, Diktaturen und ideologisch gerechtfertigte Mas­senmorde, koloniale Barbarei und in deren mittelbarer Folge ethnische Säuberungen, Einsatz von Massenvernichtungswaffen und furchtbarste Experimente an lebendigen Men­schen. Konzentrationslager, Internierungslager, Flüchtlingslager, das Lager überhaupt, wie Agamben12 es beschreibt, als biopolitischer Lebensraum des 20. und man möchte hinzufü­gen, auch des 21. Jahrhunderts. Auch, wenn ich Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche lese und demgegenüber den (bis vor kurzem) als den größten Denker des letzten Jahrhunderts angesehenen Heidegger, dann scheint mir demgegenüber der geistes- und ideengeschicht­liche wie auch der zivilisatorische Fortschritt gegen Null zu tendieren.


1Karl Polanyi. The Great Transformation. Suhrkamp 2014 (im folgenden zitiert als TGT), S. 196f
2TGT, S. 72
3Erinnert sei an dieser Stelle an die Auseinandersetzung Max Webers mit der „eigentümlichen Ethik“ des Gelderwerbs eines Benjamin Franklin in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. C.H.Beck 2004. S. 75ff
4TGT, S 102f
5Hoffnung macht immerhin, dass dieser Ausdruck auf der Kandidatenliste zum Unwort des Jahres 2011 stand.
6Aber sehr wohl können inzwischen offenbar viele andere menschliche Tätigkeiten und Lebensbereiche in die Warenfiktion und Marktkonformität gezwungen werden: Bildung, Fortpflanzung, Kunst, Sport, Spielen, Bloggen usf., zu schweigen von Kindern oder Organen.
7TGT, S 107f 
8TGT, S. 117
9TGT, S. 146
10TGT, S. 339
11Richard Sennet. Der flexible Mensch. Siedler 1998
12Giorgio Agamben. Homo sacer. Suhrkamp 2002

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