Vor
einiger Zeit bekam ich Hermann Hesses Erzählung „Siddhartha. Eine
indische Dichtung“ geschenkt, verbunden mit der, mittels markierter
Textpassagen ausgedrückten dringenden Bitte der oder des
Schenkenden, das Buch auch zu lesen.
Nun
fehlte mir zugegebenermaßen bislang der Zugang zu Hesse, nicht wegen
seines Stils, sondern eher wohl wegen der Attitüde. „Steppenwolf“
und „Glasperlenspiel“ hatte ich vor vielen Jahren gelesen, fand
aber keinen rechten Bezug dazu. Die Außenseiterattitüde hatte mir
irgendwie missfallen, und das hing wohl zusammen mit meinem damaligen
Selbstverständnis. Diese Zeiten sind lange vorbei. Mit dem
Lesen von „Siddhartha“ hat sich die Distanz zu Hesse jedenfalls
verringert, und vielleicht sollte ich „Steppenwolf“ wieder und
„Unterm Rad“ überhaupt mal lesen.
Ich
habe nicht vor, „Siddhartha“ hier in Gänze zu besprechen, eine
kurze Inhaltsangabe scheint mir zum Verständnis des Folgenden
dennoch angebracht. Die Erzählung beginnt in Anlehnung an die
überlieferte Geschichte vom historischen Buddha Siddhartha
Gautama. Auf der Suche nach der Wahrheit schließt
sich der Brahmanensohn Siddhartha zusammen mit seinem Freund
Govinda zunächst einer Gruppe asketischer Wandermönche, den
Samanas, an, trifft dann auf den legendenumwobenen ersten Buddha
Gotama, erkennt aber bei dieser Begegnung, dass dessen Weg nicht
der seinige werden kann. Siddhartha trennt sich vom Freund Govinda
und geht in die Stadt. Dort lehrt ihn die Edelkurtisane Kamala die
Kunst der körperlichen Liebe. Er bleibt bei Kamala und arbeitet,
zunächst um sich ihre Liebesdienste auch leisten zu können,
erfolgreich für einen Kaufmann, was ihn sehr wohlhabend, aber auch
hochmütig werden lässt. Nach Jahren geht ihm auf, dass auch
dieses Leben nicht zum angestrebten Ziel führt. So begibt er sich
wieder auf asketische Wanderschaft und trifft am Fluss auf den
Fährmann Vasudeva,
der ihm, wie es scheint, zu der Wahrheit verhelfen kann und
mit dem er bis zu dessen Tod zusammen lebt und arbeitet. Zum Ende der
Geschichte, da Siddhartha seine Erlösung gefunden hat, kommt
es zu einem Wiedersehen zwischen den einstigen Freunden Govinda
und Siddhartha, die nun, inzwischen alt geworden, ihre gewonnenen
Weisheiten austauschen.
Nun
ist „Siddhartha“ mitnichten eine indische Dichtung. Nicht
nur weil hier ein Europäer gedichtet hat, sondern auch und gerade
weil in der Erzählung eine westlich geprägte kosmopolitische und
gleichsam ökumenische Grundhaltung zum Ausdruck kommt, ähnlich der
Botschaft des Romans „Life
of Pi“ des Kanadiers Yann Martell, die ein genuines Produkt der
europäischen Aufklärung ist. Jedenfalls lassen sich bei der
Lektüre verschiedenste Bezüge zu traditionell westlichem Denken und
zu traditionell westlicher Erzählweise entdecken, was in meinem
Fall auch daran liegen mag, dass ich mich in den östlichen
Philosophie- und Glaubenstraditionen nicht besonders auskenne -
Platon und die Bibel sind mir halt vertrauter. Anders gesagt, ich
habe zwar vor langer Zeit einiges gelesen – die Veden,
buddhistische Texte, Laotse und Konfuzius, mich allerdings damit
nicht intensiv auseinander gesetzt, so dass mir etwaige Bezüge
fehlen.
So
aber kam mir zum Ende der Lektüre von „Siddhartha“ die bekannte
Passage aus dem Brief an die Hebräer
in den Sinn: „Darum
musste er in allem seinen Brüdern gleich sein, um ein barmherziger
und treuer Hohepriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes
zu sühnen. Denn da er selbst in Versuchung geführt wurde und
gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt
werden.“ (Hebr. 2,17) Die Rede ist natürlich von Jesus Christus,
und sie besagt, wie auch die Erzählung Hesses, dass nur ein Mensch,
der das ganze Menschsein in allen seinen guten und schlechten
Facetten am eigenen Leib erlebt hat, zur Wahrheit gelangen kann.
Durch
die Auftrennung der historischen Person des Siddhartha
Gautama Buddha
in zwei literarische Gestalten -Siddhartha und Gotama - stellt Hesse
in gewisser Weise den Buddhismus auf christliche Füße, um mit
der Schilderung von Siddharthas Lebensgeschichte beide Religionen zu
konterkarieren. Aus meiner beschränkten Sicht unterscheiden sich
nämlich Christentum und Buddhismus in einem wesentlichen Punkt:
Sicher wollen beide den Menschen einen Weg zur Erlösung zeigen.
Während aber der Buddhismus die Entgeistigung
des Körpers als
Weg zur Erlösung ansieht, lehrt das Christentum die
Entkörperlichung
des Geistes.
Hesse konterkariert diese Erlösungsstrategien mit der Geschichte vom
Fluss, die mit Heraklits „panta rhei“ am Beginn zumindest der
europäischen Philosophie steht, sowie mit Vasudevas ruhigen
Meditationen über die Zeit:
»Ja
Siddhartha«,
sprach er. »Es
ist doch dieses, was du meinst: daß der Fluß überall zugleich ist,
am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der
Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und daß es
für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Vergangenheit,
nicht den Schatten Zukunft?«1
»...nie
ist der Mensch ganz heilig oder ganz sündig. Es scheint ja so, weil
wir der Täuschung unterworfen sind, daß Zeit etwas Wirkliches sei.
Zeit ist nicht wirklich...Und wenn Zeit nicht wirklich ist, so ist
die Spanne, die zwischen Welt und Ewigkeit, zwischen Leid und
Seligkeit, zwischen Böse und Gut zu liegen scheint, auch eine
Täuschung.«2
Buddhismus
und Christentum lehren auf ihre je eigene Weise, dass die Erlösung
nur durch Verlassen des Zeitstroms erreicht werden kann. Der Mensch
scheint ja gleichsam gefangen im und genötigt vom linearen,
irreversiblen Fluss der Zeit, ihn ängstigt aber auch die
Aussicht auf zyklische Wiederkehr des immer Gleichen. 40 Jahre
vor Hesse spricht Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft“
von der Wiederkehr des immer Gleichen gar als von dem größtem Übel:
– Wie,
wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste
Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben, wie du es
jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige
Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern
jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles
unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und
Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und
dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick
und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder
umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« – Würdest
du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den
Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen
ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist
ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über
dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und
vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem »willst du
dies noch einmal und noch unzählige Male?« würde als das größte
Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir
selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr
zu verlangen,
als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –
3
Wie
wohltuend gelassen und weise wirkt dagegen die Einsicht oder
vielleicht auch nur Anerkennung dessen, dass Zeit
nur ein Hilfskonstrukt unseres Verstandes ist, um dem Paradox der
permanenten Veränderung der eigentlich dauerhaften Dinge einen
Begriff und einen Sinn zu geben. Es scheint, als schließe Hesse mit
Vasudevas Meditationen an an Hegels radikales Prozessdenken, nach dem
wirklich
nur der Prozess als solcher ist: „Der Prozeß der wirklichen Dinge
selbst macht also die Zeit.“4
Und wie der Fluss ist der Prozess natürlich überall zugleich, weil
er das
Ganze
ist. Wobei aber die Pointe von Nietzsches Schreckensbild ja darin
besteht, dass er uns dazu auffordert, uns dem größten
Übel
zu stellen, es zu akzeptieren und unser Leben im vollen Bewusstsein
dessen zu leben, dass
es so ist.
Man
kann nämlich in
und mit der Zeit
leben, wie Vasudeva und, ihm folgend, Siddhartha es tun, indem sie
sich dem Fluss gleichsam ergeben. So unterliegen sie in ihrer
Wahrnehmung keinem Diktat, weder dem Diktat der schreckenden
Wiederkehr des immer Gleichen, weil ja nichts wiederkehrt, sondern
alles, wie der Fluss als Ganzes, immer schon da ist, noch dem der
Ausrichtung auf das unvermeidliche Ende, der wir Menschen wohl
unsere letztlich zerstörerische Umtriebigkeit zuschreiben
können, da in jedem Moment das Ende und der Anfang, so wie Quelle
und Mündung, ja schon präsent sind. So zielgerichtet, strukturiert
und zeitlich geordnet unser Leben auch erscheinen mag, sollte es doch
nicht die eine Akkordzeit
im „Weltinnenraum des Kapitals“ (Sloterdijk) sein, von der wir
uns beherrschen lassen, vielmehr sind es zwei Zeiten, denen man sich
ganz
bewusst
aussetzen kann: Zum einen die zyklische
Zeit der
täglichen, wöchentlichen, monatlichen, jährlichen Wiederkehr der
immer gleichen Verrichtungen und Rituale, die uns das Gefühl
von Identität gibt - die zyklische Zeit gleichsam als
Vertrauensanker der Selbstgewissheit. Zum anderen die lineare,
die messbare Weltzeit, die immer schon da ist, egal, was wir tun und
was mit uns geschieht, die im oben erwähnten Hegelschen Sinne vom
Prozess der Dinge selbst gemacht wird, und die man so gesehen nur
sein
lassen
kann.
Die
Rede vom Fluss weckt nicht nur Zeitassoziationen - mit der Figur des
Fährmanns kommt unweigerlich die Frage nach der Überquerung des
Flusses ins Spiel. Diesem Zweck könnte auch eine Brücke
dienen, doch Hesse bedient sich dieser Option nicht, obwohl die
Brücke als literarische und philosophische Metapher eine lange
Tradition hat. Ein Grund dafür mag in der Abgegriffenheit der
Brückenmetapher selbst liegen, ein anderer in der Verfestigtheit und
Statik des Bildes. Wichtiger scheint mir: Eine Brücke kann
man auch allein überqueren, und es spielt auch keine Rolle,
wer sie gebaut hat und wie lange sie schon die Ufer des Flusses
miteinander verbindet. Der Fährmann hingegen begleitet den
Reisenden bei der Überfahrt, ohne ihn kann diese gar nicht
geschehen, es sei denn der Reisende machte sich selbst zum Fährmann,
was jedoch mit dem Risiko verbunden wäre, die Fähre nicht zu
beherrschen und zu scheitern. Der Reisende muss dem Fährmann also
notgedrungen vertrauen, im Gegenzug hilft der Fährmann dem
Reisenden, in dem er ihn nicht nur zum anderen Ufer bringt,
sondern eben auch bei ihm ist. So ist der Reisende auch bei seiner
vielleicht schwersten Überfahrt nicht allein, der Fährmann ist bei
ihm, wie Charon bei
den Toten auf ihrer letzten Reise über den Fluss Acheron. Die Brücke
steht somit gleichsam für den abstrakten, unsichtbaren Gott, den
Gott des Regenbogens5,
der Morgen und Abend verbindet, und, in ihrer Starre und Festigkeit,
auch für das unverrückbare Schicksal. Der Fährmann hingegen steht
für den konkreten, personellen Gott, der unsere Fahrt über den
Fluss des Lebens ermöglicht, lenkt und begleitet, uns aber auch
die Freiheit lässt, über den Ort unseres Anlegens am anderen Ufer
mit zu entscheiden.
1 Hermann
Hesse. Siddhartha. Suhrkamp 1974, S. 87
2 Ebd.
S. 114
3 Friedrich
Nietzsche . Die fröhliche Wissenschaft. Insel 2000. Aphorismus 341
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