Donnerstag, 17. Januar 2013

…was es ist


In Ridley Scotts Filmklassiker Blade Runner (1982) gibt es eine höchst bemerkenswerte Szene: Deckard hat Rachael soeben dem Voight-Kampff-Test unterzogen und spricht nun mit Dr. Tyrell über sein Ergebnis. Der ist beeindruckt darüber, dass es zwar erheblich mehr Fragen als üblich bedurfte, um heraus zu finden, dass Rachael ein Replikant ist (aus Sicht von Deckard und Tyrell verbietet sich die Verwendung des p.c. Ausdrucks „Replikantin“), Deckard schlussendlich aber doch dahinter gekommen ist. Tyrell erklärt Deckard den Grund dafür: „Sie weiß es nicht.“, woraufhin Deckard die bedeutsame Frage stellt: „Wie kann es nicht wissen, was es ist?“ („How can it not know, what it is?“)
Mit dieser Frage bezieht sich Deckard zunächst gewissermaßen nur auf die Gattungszugehörigkeit. Also: Kann es sein, dass ein Replikant, ein künstlicher Organismus oder auch eine künstliche Person, wie der Android Bishop in Alien3 sich selbst bezeichnet, nicht weiß, dass er/es künstlich ist? Oder allgemeiner: Kann es sein, dass ein intelligentes, vernunftbegabtes Wesen nicht weiß, was es für ein Wesen ist?
Implizit unterstellt diese Fragestellung, dass es für das betreffende Individuum einen Unterschied machen sollte, ob es natürlich oder ob es künstlich ist. Abgesehen davon, dass sich in einer solchen Unterstellung ein anthropozentrisches Weltbild offenbart, das behauptet, das Natürliche habe definitorische Hoheit über das Künstliche, was vor allem im Kontext der Filmszene keineswegs gerechtfertigt zu sein scheint, denn noch während des zitierten Dialogs zwischen Deckard und Tyrell bringt dieser das Credo seines Unternehmens mit dem Slogan: „Menschlicher als der Mensch“ auf den Punkt und stellt eben jene Definitionshoheit in Frage. Also abgesehen davon scheint Deckard mit seiner Frage ausdrücken zu wollen, dass ein künstliches intelligentes Wesen entweder wissen sollte, dass es künstlich ist, beispielsweise dadurch, dass seine Schöpfer ihm dies mitgeteilt hätten (das wäre trivial), oder, und nur das macht die Intention von Deckards Frage überhaupt erst interessant, dass es dies fühlen sollte, also ein subjektives Empfinden dafür haben sollte, nicht natürlichen Ursprungs zu sein. Aber kann das sein? Wie kann es fühlen, was es ist?
Angenommen, es kann dies. Angenommen, es würde einen Unterschied in der Selbstwahrnehmung machen, ob das Wesen durch die Vereinigung von Ei- und Samenzelle in die Welt gekommen ist oder dank mikrobiokybernetischer Ingenieurskunst. Nach der Theorie Siegmund Freuds sollte es einen solchen Unterschied geben, selbst wenn er dem betreffenden Wesen nicht bewusst wäre, denn, was die Selbstwahrnehmung und die Selbstinterpretation betrifft, hätte es schlicht keine adäquaten Vergleichsmaßstäbe, da ihm entscheidende Phasen der psychischen Individualentwicklung fehlten. Es wäre vergleichbar mit einem Asperger-Autisten, dem mangels einer Theory of Mind2 (ToM) die emotionalen Äußerungen seiner Umgebung größtenteils entgehen. Allerdings bezieht sich Freuds Theorie auf menschliches Bewusstsein und Unterbewusstsein, nicht auf künstliches. Warum sollte ein künstliches kognitives System, so menschengleich es auch konstruiert und gebaut sein mag, über vergleichbare mentale Zustände verfügen - vergleichbar in dem Sinne, dass unsere gängigen psychologischen Theorien anwendbar sind?
Im Film lautet die Antwort auf Deckards Frage schlicht: Künstliche Erinnerungen. Die für das Nichtwissen um die eigene Künstlichkeit erforderliche Kontingenz der Individualgeschichte wird mittels implantierter oder programmierter Erinnerungssequenzen einer natürlichen Person hergestellt. Auch das eine sehr weitgehende Annahme: Um sich als natürlicher Mensch zu empfinden, genügt es, wie ein natürlicher Mensch auszusehen, aus menschlichem Material zu bestehen und menschliche Erinnerungen zu haben. Vielleicht genügt das ja auch wirklich, und das Vorhandensein einer spezifisch menschlichen inneren Gefühlswelt und einer ToM ist für die menschliche Befindlichkeit völlig irrelevant. Mein Innenleben ist eine zutiefst subjektive Angelegenheit, von der nur ich selbst Kenntnis habe. Das Innenleben einer anderen Person bleibt mir notwendigerweise und trotz ToM größtenteils unzugänglich. Realistisch betrachtet, kann deshalb auch ich als Mensch nicht mit letzter Gewissheit wissen, was ich bin. Diese Einsicht erzeugt in Deckard die agnostische Paranoia, die die weitere Filmhandlung durchzieht.1
Man kann die Frage auch von einer anderen Seite aus beleuchten. In immer besserem Maße sind wir in der Lage, natürliche Bestandteile des menschlichen Körpers - Zellen, Gewebe, Organe, Gliedmaßen – durch künstliche zu ersetzen. Das können sowohl organische als auch anorganische Substitute sein. Literatur und Film haben solche Szenarien schon früh unter dem Stichwort Cyborgisierung thematisiert. Primär geht es mir aber nicht um das Element der Kybernetisierung, nicht um elektronische Bauteile oder Nanosonden wie bei der Ver-Borg-erung3 in Star Trek Next Generation o.ä., sondern darum, ob und wie der spezifisch menschliche Erlebnisgehalt von Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlen, die innere Befindlichkeit also, sich bei zunehmender Entmenschlichung des Körpers verändern und wann die Gewissheit, Mensch zu sein, erodieren und dem Gefühl weichen könnte, es nicht mehr zu sein.
Wie ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe, verfügt jeder von uns über ein Körpermodell, das den eigenen biologischen Körper umfasst und auch Fremdkörper wie Werkzeuge, Sportgeräte oder künstliche Gliedmaßen integrieren kann. Selbst nicht vorhandene, nur vorgestellte Teile des Körpers oder imaginierte Körpererweiterungen können unter bestimmten Umständen vom Körpermodell als eigene integriert werden.4 So könnte es durchaus sein, dass, egal, was mit einem menschlichen Körper angestellt wird, welche Teile durch künstliche ersetzt und welche künstlichen Zusatzkomponenten hinzu gefügt werden, der Mensch sich immer noch als Mensch fühlen würde. Möglicherweise stellt sich die Frage nach dem Übergang von Mensch zu Nichtmensch gar nicht, so lange das Gehirn, das ja das Körpermodell konstruiert, nicht massiv angetastet wird. Und möglicherweise ist es gar nicht die eigene Befindlichkeit, die Selbstwahrnehmung, das Selbstmodell, was den Unterschied ausmacht.
Der oben erwähnte Prozess der Ver-Borg-erung im fiktiven Star-Trek-Universum (wo er Assimilation heißt) besteht m.E. weniger in der technischen Cyborgisierung der zu integrierenden Individuen, als darin, dass diese in eine neue Sozialstruktur aufgenommen werden. Dem geht zwar der technische Anpassungsprozess (Nanosonden, zusätzliche Bauteile etc.) voraus, doch bestimmend für das neue Selbstverständnis der assimilierten Subjekte wird ihre Sozialisation als Seven of Nine bzw. als Teil eines umfassenden Kollektivs, in dem sich soziale und mentale Interaktion gegenseitig bedingen.
Der Ausbruch aus dem Kollektiv kann nur gelingen, wenn das Kollektivmitglied einen Teil seiner Individualität bewahrt oder zurückgewinnt, und sei es auch nur den individuellen Namen, der ganz im Sinne von Thomas Nagel5 eine Bedingung für die Identifikation des subjektiven Ich mit dem objektiven Wesen ist, in dessen Körper dieses Ich steckt. So muss Captain Jean-Luc Picard notwendigerweise als Locutus6 und nicht als durchnummerierte Drohne assimiliert werden, weil ihm andernfalls die spätere Selbstbefreiung aus dem Kollektiv, dieser Akt der individuellen Desintegration, unmöglich gemacht würde.
Das Gegenteil von Assimilation ist Ausgrenzung. Die Erfahrung des Ausgegrenztseins macht Rachael in dem Moment, da sie den Voight-Kampff-Test „besteht“. Sie gehört nun nicht mehr zur menschlichen Spezies, obwohl sie wie ein natürlicher Mensch aussieht, (möglicherweise) aus menschlichem Material besteht und menschliche Erinnerungen hat. Indem er Rachael wider besseres Wissen als menschliche Person behandelt, versucht Deckard, sie wieder zurück zu holen, wenn auch nicht in die naturbelassene Menschheit so doch immerhin in eine minimale soziale Gemeinschaft - die 2-Personen-Urgemeinschaft des Garten Eden.
Und darin liegt wohl der Schlüssel: Ich bin und weiß, was ich bin, nur durch meine Sozialisation, durch meine Integration in einen gemeinschaftlichen Kontext, der, und sei er noch so klein, mir aber die Gewissheit gibt, dazu zu gehören, unabhängig davon, was ich selbst von mir halte. Entscheidend für die Selbstgewissheit und das Selbstempfinden einer Person ist das Wechselverhältnis von Individuation und Sozialisation. Das Ich spiegelt sich nicht nur, es manifestiert sich im Wir. Das Individuum ist Person nur insofern es sich einer menschlichen Gemeinschaft zugehörig weiß. Wird man als menschliches Individuum behandelt, fühlt man sich auch als solches. Wird man von der Gemeinschaft ausgegrenzt, kann alles Menschliche in einem absterben. Insofern besteht Hoffnung, dass, selbst wenn irgendwann eine signifikanter Teil der Menschheit aus größtenteils künstlichen „Bauteilen“, einschließlich neuronaler Implantate, bestehen sollte, und sage keiner, dass diese Vorstellung unsinnig sei, er doch zu uns gehören würde, vorausgesetzt wir würden ihn als Teil der Menschheit annehmen und nicht als Ansammlung von Fremdkörpern.
1 Verschiedentlich ist auf die phonetische Nähe der Namen Deckard und Descartes verwiesen worden.
4 Antonio R. Damasio, Descartes´ Irrtum. List 2004
5 Thomas Nagel. Der Blick von Nirgendwo. Suhrkamp 2012
6 Star Trek TNG: In den Händen der Borg, Angriffsziel Erde


PS (14.02.2013): Bis heute wusste ich nicht, dass der mit Carbon-Prothesen laufende Leichtathlet Oscar Pistorius auch "Blade Runner" genannt wird. Welche Ironie...



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