I
In
seinem äußerst lesenswerten Buch „Geist, Sprache und
Gesellschaft“1
befasst sich der amerikanische Philosoph John
R. Searle hauptsächlich mit
dem ersten der drei titelgebenden Phänomene und erläutert dabei
auch seine Position zum Thema Willensfreiheit.
Die Frage nach der Möglichkeit und der Natur des freien Willens wird
seit Jahrhunderten nicht nur in der Philosophie kontrovers
diskutiert. Auch John Searle beantwortet die Frage nicht, er legt
aber eine interessante Darstellung des Sachverhalts vor, die ich zum
besseren Verständnis zunächst kurz referieren werde, um im
Anschluss eigene Ansichten zu Searles Position und zur Frage selbst
zu entwickeln.
Dem
Bewusstsein widmet John Searle die drei zentralen Kapitel von „Geist,
Sprache und Gesellschaft“. Für Searle lässt sich das Bewusstsein
biologisch als ein höherstufiges Merkmal des Gehirns mit der
besonderen Eigenschaft der Subjektivität, also der Fähigkeit zur
Ich-Perspektive verstehen. Neben der Subjektivität eignet dem
Bewusstsein Intentionalität.
Mit diesem Terminus wird das Vermögen des Bewusstseins
bezeichnet, sich auf etwas zu beziehen. Gemeint ist damit
schlichtweg, dass ein Gedanke einen gedachten Inhalt hat (Man denkt
nicht einfach nur, man denkt etwas.),
eine Wahrnehmung einen wahrgenommenen Gegenstand (Man sieht nicht
einfach nur, man sieht etwas.),
ein Wunsch eine gewünschte Sache (Man wünscht nicht einfach nur,
man wünscht etwas.).
Spätestens seit Descartes Meditationen
stellen Philosophen die Frage nach der Möglichkeit
intentionaler Verursachung,
danach also, wie intentionale psychische Zustände (Überzeugungen,
Wünsche, Absichten) kausal in die reale Welt wirken und so
materielle Phänomene2
verursachen können. Um zu einer Lösung zu gelangen, erklärt Searle
zunächst sein Verständnis von Kausalität, indem er sich vom
mechanistischen Modell der Verursachung, wie es von David Hume
vertreten wurde und nach Searles Meinung noch immer von einer
Mehrheit der Philosophen vertreten wird, klar abgrenzt, um
anschließend zu erläutern, wie aus seiner Sicht intentionale
Verursachung funktioniert.
Über
den Körper hat das Bewusstsein eine basale Beziehung zur realen
Welt. Intentionale Zustände repräsentieren die reale Welt oder
sie imaginieren, wie die reale Welt sein sollte. Diese Beziehung
zwischen Bewusstsein und Welt bezeichnet Searle als
Ausrichtung eines
intentionalen Zustands. Die Beziehung der Ausrichtung kann eine
Welt-auf-Geist-Ausrichtung oder
eine Geist-auf-Welt-Ausrichtung
sein: „Überzeugungen,
Wahrnehmungen und Erinnerungen haben die Geist-auf-Welt-Ausrichtung,
weil es ihr Ziel ist, zu repräsentieren, wie die Dinge sind. Wünsche
und Absichten haben die Welt-auf-Geist-Ausrichtung, weil es ihr Ziel
ist, nicht zu repräsentieren, wie die Dinge sind, sondern wie wir
sie gerne hätten bzw. wie wir sie zu machen gedenken.“3
Wie man weiß, kann das Bewusstsein auch
auf sich selbst ausgerichtet sein – dann ist es Selbstbewusstsein
und hat eine Null-Ausrichtung.
Entscheidend
für das Verständnis der Ausrichtung von Intentionalität ist nach
Searle der Begriff der Erfüllung:
„Ein intentionaler Zustand
ist erfüllt, wenn die Welt so ist, wie der intentionale Zustand sie
repräsentiert.“4
Das bedeutet, bei Geist-auf-Welt-Ausrichtung ist der intentionale
Zustand erfüllt, wenn er die Welt (weitgehend) richtig
repräsentiert. Hier wirkt die kausale Verursachung von der Welt auf
den Geist. Bei Welt-auf-Geist-Ausrichtung ist der intentionale
Zustand erfüllt, wenn die Welt (weitgehend) so ist, wie er
sie haben wollte. Die kausale Verursachung wirkt also vom Geist auf
die Welt.
So
weit, so verständlich, so plausibel. Oder auch nicht.
Intentionale
Verursachung sei entscheidend für das Verständnis unseres
Verhaltens, schreibt Searle: „Wenn menschliches Verhalten rational
ist, beruht es auf Gründen, aber die Gründe erklären das Verhalten
nur, wenn die Beziehung zwischen dem Grund und dem Verhalten sowohl
eine logische als auch eine kausale ist. In Erklärungen
rationalen menschlichen Verhaltens wird somit wesentlich vom Werkzeug
der intentionalen Verursachung Gebrauch gemacht.“5
Er verdeutlicht dies am Beispiel der rational nachvollziehbaren
Beweggründe Hitlers, die Sowjetunion zu überfallen (d.i. Wunsch
nach Lebensraum im Osten), die allerdings nicht ausreichend gewesen
seien, dieses Vorhaben auch auszuführen, da Hitler sich trotz seiner
Beweggründe auch anders hätte entscheiden können. Searle
kommt zu dem Schluss, dass die Erklärung menschlichen Verhaltens
mittels intentionaler Verursachung nicht deterministisch ist, es also
keinen hinreichenden kausalen Zusammenhang zwischen intentionalen
Zuständen und menschlichen Handlungen gibt, ausgenommen
pathologische Fälle, wie Sucht oder Zwangsstörung: „Wenn ich mein
eigenes Verhalten damit erkläre, daß ich die Überzeugungen und
Wünsche angebe, die mein Handeln motiviert haben, dann impliziere
ich damit normalerweise nicht, daß ich mich nicht hätte anders
verhalten können.“6
Searle diagnostiziert eine Lücke
zwischen den intentionalen Gründen der Entscheidung und der
Entscheidung selbst, sowie eine weitere Lücke
zwischen der Entscheidung
und dem Vollzug der Handlung. Damit gemeint sind nicht zeitliche
oder logische Lücken, sondern kausale Lücken, die Ausdruck dessen
seien, was wir Willensfreiheit
nennen. Unser Handeln ist nicht vollständig determiniert, weder
durch äußere, objektive noch durch innere, subjektive Tatbestände.
Searle, wie viele andere Philosophen, sieht eben darin eine
Erklärungslücke.
Meiner
Ansicht nach gibt es diese Lücke
nicht. Es gibt
offensichtlich das Phänomen des freien Willens und das der
Handlungsfreiheit, und wir empfinden
auch die von Searle festgestellten Lücken, nur eine Erklärungslücke
kann ich nicht sehen. Ich bestreite, dass intentionale Zustände
das Handeln nicht vollständig determinieren können, behaupte
vielmehr, dass Willensfreiheit
ein psychologisches Phänomen ist, nicht aber eine
geistesphilosophische Kategorie und werde im Folgenden versuchen,
dies zu begründen.
II
Das
Gehirn, das menschliche zumal, ist ein hochkomplexes System. Der
Hirnforscher Wolf Singer meint: "Das Gehirn ist ein klassisches
komplexes System, weil es aus sehr vielen Elementen besteht, die
miteinander verkoppelt sind und auf diese Weise eine Dynamik
entwickeln können, die charakteristisch ist für komplexe Systeme.
Es kommt noch hinzu, dass die Dynamik, die sich daraus entwickelt,
eine nichtlineare Dynamik ist. Es ist ein nichtlineares komplexes
System und wahrscheinlich das komplexeste, dass wir auf der Erde
überhaupt kennen.“7
Komplexität
bezeichnet die Eigenschaft eines Systems, dass man sein
Gesamtverhalten selbst dann nicht beschreiben kann, wenn man
vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und
ihre Wechselwirkungen besitzt. Die Komplexität eines Systems steigt
mit der Anzahl an Elementen, der Anzahl der Verknüpfungen zwischen
diesen Elementen sowie der Funktionalität dieser Verknüpfungen.
Aus
der Systemtheorie weiß man, dass komplexe Systeme bzw. Modelle
komplexer Systeme sich dadurch auszeichnen, dass ihre mathematische
Beschreibung, wenn sie denn überhaupt bekannt ist, nichtlinear ist.
Darauf bezieht sich auch Wolf Singer. Das wohl vertrauteste Beispiel
eines nichtlinearen komplexen Systems ist die Erdatmosphäre. Zu
deren mathematischer Beschreibung dienen die Lorenz-Gleichungen, ein
System nichtlinearer Differentialgleichungen, dessen numerische
Lösungen ein grafisches Gebilde ergeben, das als Lorenz-Attraktor8
bekannt ist.
Ein
wesentliches Verhaltenselement komplexer dynamischer Systeme sind
Bifurkationen.
Das sind zeitliche Verzweigungspunkte, an denen der weitere Prozess
offen ist, d.h. er ist nicht eindeutig determiniert, hat
gewissermaßen die freie Wahl. Unmittelbar vor der Bifurkation
ist die Chaoszone, die diese Wahl erlaubt. Bifurkationen entstehen
aus geringfügen Fluktuationen in chaotischen Prozessen durch
Rückkopplungs- und daraus resultierende Verstärkungseffekte.
Dadurch wird eine der Zukunftsoptionen, die dem Prozess vor dem
Verzweigungspunkt offen stehen, bevorzugt und eben realisiert.
Nebenbei,
während meiner Doktorandenzeit in den 1980er Jahren gab es an
unserer Uni eine mathematische Forschungsgruppe, die sich mit eben
diesen Bifurkationsphänomenen in nichtlinearen dynamischen
Prozessen befasst hat. Die Theorie vom Chaos und von Katastrophen,
von Bifurkationen, Fraktalen und dissipativen Prozessen war damals
dank der Arbeiten von Mandelbrot,
Thom,
Zeeman
und Prigogine9
schwer in Mode. Ein paar Jahre später begegnete mir das Phänomen
auch in praxi,
als ich Strömungsvorgänge in Atomkraftwerksarmaturen zu berechnen
hatte. Die mathematische Simulation des Schließprozesses einer
Schnellschlussarmatur, deren Aufgabe es sein sollte, im Störfall
selbsttätig, binnen einer Sekunde ein Kühlrohr von 1 m
Durchmesser abzuschotten, ließ keine zuverlässigen Vorhersagen des
Systemverhaltens zu. Die numerischen Näherungsrechnungen
bifurgierten und divergierten - und zwar desto stärker und
desto schneller, je feiner das Näherungsgitter war.
Nun
könnte man meinen, es läge nur an der Schwäche unserer
physikalischen Modelle und mathematischen Methoden, dass
solche nichtlinearen komplexen Systeme nicht prognostizierbar sind,
und die Fortschritte der Wettervorhersage auf der Grundlage immer
besserer Modelle und immer leistungsfähigerer Computer scheinen das
zu bestätigen. Instabilität, Chaos, Bifurkationen und abrupte,
katastrophale Veränderungen des Systemverhaltens sind
jedoch intrinsische Merkmale nichtlinearer dynamischer Prozesse. Der
entscheidende Unterschied zwischen linearen und nichtlinearen
Systemen besteht darin, dass bei letzteren winzigste Veränderungen
der Ausgangsparameter gravierende Konsequenzen für das
Systemverhalten haben können. Der bekannte Butterfly-Effekt10
zeigt dies anschaulich.
In
den Naturwissenschaften ist man sich weitgehend darüber einig, dass
aus der Nichtvorhersehbarkeit nichtlinearer dynamischer Systeme nicht
auf deren Indeterminiertheit geschlossen werden kann. Vielmehr
ist es wohl so, dass die in der Heisenbergschen
Unbestimmtheitsrelation11
ausgedrückten absoluten Grenzen der Messgenauigkeit den Spielraum
für die Ausgangsparameter liefern, der eben wegen der intrinsischen
Systemeigenschaften zu Bifurkationen mit unvorhersehbarem Ausgang
führt. Auf einem mikroskopischen Raum-Zeit-Niveau sind Bifurkationen
anscheinend determiniert, weshalb auch von deterministischen
chaotischen Prozessen
gesprochen wird, nur lässt sich diese Determiniertheit nicht
beobachten.
III
Doch
zurück zur Willensfreiheit, zum Gehirn und zu John Searle. Es wurde
versucht, die mit den diagnostizierten Lücken inkriminierte
Indeterminiertheit unter Bezug auf die Quantenmechanik und deren
statistische Interpretation zu deuten. Neurophysiologische
Prozesse seien ja elektrische und elektrochemische Prozesse auf
molekularer und z.T. subatomarer Ebene, und da dort die Gesetze der
Quantenphysik wirksam seien, wären auch die neurophysiologischen
Prozesse im Hirn diesen unterworfen.12
Das heißt, in der Lücke
zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung wie auch in der Lücke
zwischen Entscheidung und
Handlung würde der quantenphysikalische Zufall walten. Auch John
Searle neigt zu solchen Überlegungen, wie er vor einigen Jahren in
einem FAZ-Interview
äußerte13.
Die
rein quantenmechanische Argumentation leuchtet nicht so recht ein,
denn das Gehirn besteht zwar wie alle materiellen Objekte dieser Welt
aus Quanten, ist selbst jedoch ein makroskopisches und kein
quantenmechanisches System. Ich glaube auch nicht, dass es der
Berufung auf die Quantenphysik bedarf, um die Lücken
zu schließen. Betrachtet man nämlich das Gehirn als
dynamisches und
als biologisches System, sollten die folgenden Aspekte, die ich
nachfolgend näher erläutern werde, ins Zentrum der Aufmerksamkeit
rücken:
(1) Biologische Systeme sind selbst
organisierende Systeme fernab des thermodynamischen Gleichgewichtszustands.
(3)
Die Kausalität in der klassischen Physik ist
zeitsymmetrisch.
Die
letzte Feststellung ist Ausdruck der Tatsache, dass der
Kausalitätsbegriff in der klassischen Physik zwar mit dem
Zeitbegriff verwoben ist, in seiner Verwendung in klassischen
physikalischen Modellen aber insofern zeitunabhängig, als die
Gleichungen zeitsymmetrisch sind. Dies gilt für die klassische
Mechanik wie auch für die Relativitätstheorie. Erst in der
statistischen Thermodynamik und in der Quantenphysik wird diese
formale Zeitsymmetrie aufgehoben. Mit den Gesetzen der klassischen
(makroskopischen) Physik können Prognosen in beide
Zeitrichtungen angestellt werden. Aus dem bekannten Jetztzustand
eines Systems können sowohl die Systemzustände in der Zukunft als
auch die Systemzustände in der Vergangenheit zuverlässig berechnet
werden. Aus dem Jetztzustand des Universums bspw. kann auf seine
weitere Entwicklung geschlossen werden, es lassen sich aber auch
seine früheren Zustände bis kurz nach dem Urknall rekonstruieren.
Die Kausalität in der klassischen Physik ist also auch in dem Sinne
zeitsymmetrisch, als nicht nur von einer bekannten Ursache auf eine
Wirkung geschlossen werden kann, sondern auch umgekehrt von einem
bekannten Zustand auf dessen Ursache.
Dass
John Searle Lücken
zwischen intentionalem Zustand und Entscheidung sowie zwischen
Entscheidung und Handlung sieht, zeigt, dass er diesen klassischen
Kausalitätsbegriff verwendet, was insofern verwundert als er ja
selbst, wie oben angemerkt, das von Hume inspirierte mechanistische
Verständnis von Verursachung als überholt charakterisiert hatte. Er
möchte von der Handlung auf die Entscheidung schließen können und
von der Entscheidung auf den intentionalen Zustand. Was wir bei
anderen Menschen zuallererst wahrnehmen, ist ihr Handeln - alles
Weitere ist Zuschreibung. Die Erklärung der kausalen Beziehung
zwischen Handlung und Entscheidung muss also zunächst von der
wahrgenommenen Handlung ausgehen, wozu auch das Sprechen über diese
Handlung gehört. Die Erklärungslücke entsteht nur dann, wenn die
Erklärung folgendermaßen von statten gehen soll:
Eine
Erklärung von Handlung H wäre nun, unter der Annahme des
Vorhandenseins von Ih
bei P zunächst Eh und
daraus H kausal abzuleiten. Dies aber wäre die Anwendung des
Kausalitätsverständnisses der klassischen Physik. Das moderne
Verständnis von Kausalität berücksichtigt hingegen die Existenz
von deterministischen chaotischen Systemen:
Man sagt, B hängt kausal von A ab (oder:
A verursacht B), wenn
- A zeitlich vor B liegt,
In
dieser modernisierten Formulierung ist der Kausalitätsbegriff
grundsätzlich asymmetrisch gegenüber der Zeitrichtung und
damit adäquater zu der in (2) festgestellten zeitlichen
Gerichtetheit realer Prozesse: Aus dem Eintreten von B kann nun
nichts Verlässliches mehr über das Eintreten von A
geschlussfolgert werden, denn B hätte auch ohne A eintreten können,
nur wäre das womöglich sehr unwahrscheinlich gewesen. Dieses
Verständnis von Kausalität vorausgesetzt, verschwinden die
Erklärungslücken umgehend. Zur Erläuterung werde ich (1)
heranziehen.
Aussage
(1) besagt, dass biologische Systeme - auch das Gehirn - Systeme
sind, die
- offen sind und permanent mit ihrer Umwelt Materie und Energie austauschen (Stoffwechsel),
- mittels des Stoffwechsels ihre eigenen Strukturen aufrechterhalten (Strukturbildung im thermodynamischen Nichtgleichgewicht sowie Homöostase),
- sich selbst organisieren in dem Sinne, dass sie ihren Systemzustand selbstständig an Veränderungen äußerer oder innerer Faktoren anpassen (adaptive Selbstregulation).
Das
dritte Merkmal ist hier das entscheidende, denn die Selbstregulation
basiert auf Rückkopplung.
Das System bewertet mehr oder weniger regelmäßig seinen eigenen
Zustand und verändert diesen bei Bedarf mittels entsprechender
Rückkopplungsmechanismen so lange, bis wieder ein optimaler
Zustand erreicht ist. Da das System auf dieser Ebene noch kein
Gedächtnis im eigentlichen Sinne hat, muss es vom festgestellten
Jetztzustand auf die Gründe und Ursachen der Abweichung vom
optimalen Zustand schließen. Dass dies im Regelfall zuverlässig
funktioniert, ist der Evolution geschuldet, die dafür sorgt, dass
eben nur zuverlässig arbeitende, stoffwechselnde und
selbstregulierende Systeme überleben - das Gedächtnis ist ein
genetisches.
Fehler aufgrund von Fehlinterpretation sind dabei bekanntlich
nicht ausgeschlossen. Man denke nur an Allergien und
Autoimmunerkrankungen.
Auf
der Ebene der höheren geistigen Funktionen, um die es ja bei der
Fragestellung eigentlich geht, geschieht etwas Ähnliches: Um für
sich die Begründung einer Handlung H aus einer Entscheidung Eh
zu liefern und einer Entscheidung Eh
aus einem intentionalen Zustand Ih,
muss das Gehirn die Erklärungsschritte a, b und c vollziehen.
Es muss Hypothesen über vorangegangene eigene Systemzustände
anstellen und bewerten, ob diese hypothetischen Zustände
das Zustandekommen von H bewirkt haben könnten. Zum Glück haben wir
nicht nur ein genetisches Gedächtnis sondern auch ein
neuronales,
in dem vorangegangene Systemzustände als Erinnerungen
gespeichert sind. Das Gehirn ist aber ein nichtlineares komplexes
System und als biologisches System zu allem Überfluss auch noch ein
thermodynamisches Nichtgleichgewichtssystem. Jedes Aufstellen von
Hypothesen, jede Suche im Gedächtnis und jedes Vergegenwärtigen
von Gedächtnisinhalten und damit früheren Systemzuständen
verändert, wie jede geistige Funktion, das System selbst, bewirkt
Rückkopplungen, kurzzeitige chaotische Prozesse und Bifurkationen,
deren Auslöser unklar und deren Ausgang unvorhersehbar ist. Dem
Gehirn bleibt dann nur die Interpretation von plausiblen
kausalen Zusammenhängen anhand von Wahrscheinlichkeiten im
Sinne von Teil 2 der obigen Kausalitätsdefinition.
IV
Was
subjektiv als Willens- bzw. Handlungsfreiheit erscheint, könnte
tatsächlich nichts weiter sein als eine Selbstzuschreibung aufgrund
des Fehlens anderer Anhaltspunkte für das Zustandekommen von
Entscheidungen und Handlungen. Die entscheidungsrelevanten
Parameter sind aus den im Gedächtnis abgelegten Systemzuständen
wegen ihrer ursprünglichen Irrelevanz für das Gesamtsystem nicht
mehr rekonstruierbar. Auch dies eine Konsequenz der Komplexität
des Systems. Wenn wir eine Entscheidung treffen, dann tun wir dies
nicht nur aufgrund eines bestimmten intentionalen Zustands (z.B.
Wünschen), sondern bewerten, welche Folgen die Handlung, für
die wir uns zu entscheiden gedenken, für uns und für andere haben
könnte. Wir stellen Prognosen über die Zukunft an, und je
schwerwiegender die möglichen Folgen der Handlung erscheinen, desto
langwieriger und konzentrierter ist der Entscheidungsprozess,
desto mehr Parameter und Einflussfaktoren fließen ein und desto
überlegter erscheint dann die Handlung. Nun weiß jeder, dass je
schwerwiegender eine getroffene Entscheidung war, umso tiefer hat sie
sich - und mit ihr der Entscheidungsprozess mit all seinen
Parametern und Einflussfaktoren - ins Gedächtnis eingegraben.
Die Parameter und Einflussfaktoren könnten nämlich von höchster
Relevanz für die künftige Bewertung von Systemzuständen sein,
werden deshalb gespeichert und sind so später auch leichter
rekonstruierbar. Solch schwerwiegende Entscheidungen (z.B. zu
heiraten) erscheinen retrospektiv als erheblich folgerichtiger,
determinierter und subjektiv weniger frei getroffen als
irgendwelche x-beliebigen Alltagsentscheidungen (z.B. ein Bier
zu trinken). Andererseits kann es auch sein, dass, je mehr subjektive
Gründe ich retrospektiv für meine Entscheidung anführen kann, umso
selbstbestimmter, umso freier getroffen erscheint sie mir und
anderen.
Das
von John Searle diagnostizierte Problem der Willensfreiheit, die als
Phänomen in kausalen Erklärungslücken zwischen intentionalem
Zustand und Entscheidung sowie Entscheidung und Handlung erscheint,
ist nach meiner Überzeugung kein philosophisches sondern ein
rein psychologisches
Thema. Allenfalls kann sich noch die Neurobiologie damit
auseinander setzen. Wie so viele psychische Phänomene erschließt
sich das Problem, das die Willensfreiheit für die Philosophie
darstellt, aus der Selbstreferenzialität
unseres Denkens: Das Gehirn, ein komplexes nichtlineares System,
interpretiert seine eigenen Systemzustände. Der Philosoph nun
versucht, über die Welt und damit freilich auch über sich selbst
als einem Vertreter der Gattung Mensch von einer möglichst
objektiven Position aus nachzudenken. Thomas
Nagel hat diesem
Grundwiderspruch allen Philosophierens seine fundamentale Abhandlung
„Der Blick von Nirgendwo“14
gewidmet. Von Kurt Gödel
und Alan Turing
haben wir gelernt, dass Selbstreferenzialität unweigerlich zu
Widersprüchen führt - so vergleichsweise einfache
Gedankengebäude wie die elementare Arithmetik oder die theoretische
Informatik scheitern bei dem Versuch, ihre eigene Schlüssigkeit
nachzuweisen, an der Möglichkeit von Selbstreferenzialität. Besteht
nicht umso mehr Grund zu der Annahme, dass der Mensch bei dem Versuch
scheitern sollte, die Schlüssigkeit seiner eigenen Entscheidungen
und Handlungen zu erklären?
Unser,
auch psychisch wirksamer Selbsterhaltungstrieb hat sich den freien
Willen wohl als Selbstzuschreibung
konstruiert. Was schlussendlich nicht heißen soll, dass ich ein
Gegner der Willensfreiheit bin. Im Gegenteil, subjektiv bestehe ich
darauf, nur denke ich auch, dass diese Kategorie ihren Platz in der Moral- und Rechtsphilosophie hat und zwar genau in dem oben intendierten Sinn
der Fähigkeit des Individuums, die Folgen des eigenen Handelns
hinreichend prognostizieren und bewerten zu können. In diesem
juristischen und meinetwegen auch alltäglichen Kontext hat der
Begriff der Willensfreiheit einen Sinn und eine Berechtigung.
Und was die Eingangsfrage, "Kann man wollen, was man will?" betrifft, ich weiß es nicht, schätze aber, die Antwort lautet: Nein.
1
John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. Suhrkamp 2004
2
wie natürlich auch fremdpsychische Phänomene. Vgl. auch Thomas
Nagel. Was bedeutet das alles? Reclam 1984, Kap. 3: Das
Fremdpsychische
3 John R. Searle. Geist, Sprache und Gesellschaft. S. 124
4
ebenda, S. 125
5
ebenda, S. 129
6
ebenda, S. 129f
7
Zitiert nach:
http://www.3sat.de/page/?source=/scobel/121678/index.html
10
http://de.wikipedia.org/wiki/Schmetterlingseffekt
(18.12.2012)
12
u.a. Roger Penrose. Computerdenken. Spektrum 1991
14
Thomas Nagel. Der Blick von Nirgendwo. Suhrkamp 1992
Schönen Dank für den blog und diesen Beitrag.
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