Montag, 28. Januar 2013

Kinderwörter


Im Anschluss an die Ankündigung des Thienemann Verlags, Änderungen am Text von Ort­fried Preußlers Kinderbuch „Die kleine Hexe“ vorzunehmen und dabei das Wort Neger zu ersetzen, ist eine bundesweite Diskussion entbrannt, in der die Gegner dieses Vorgehens als selbsternannte Verteidiger von Authentizität und Werktreue selbst vor Zensurunter­stellungen in Richtung des Verlags nicht zurückschrecken. Das verwundert.
Mit dem Satz: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ hat Witt­genstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ ein grundlegendes Axiom jeglicher nachfolgenden Sprachwissenschaft formuliert. Gebrauch in der Sprache, nicht in der Lite­ratur. Das ist ein entscheidender Unterschied, denn Sprache ist, anders als Literatur, vor­nehmlich gesprochene Sprache. Der Leser von Literatur erschließt die Bedeutung der Sätze und Wörter eines literarischen Werkes nicht anhand eines dem Werk beigefügten Thesau­rus, sondern bringt sie gewissermaßen zur Lektüre bereits mit, was nicht ausschließt, dass er während der Lektüre ggf. Umdeutungen vornehmen muss. Die gesprochene Sprache, die Alltagssprache, die Umgangssprache gehen der literarischen Werksprache voraus und bestimmen erstinstanzlich deren Interpretation.
Wenn nun ein literarisches Wort in der Sprache nicht mehr in Gebrauch ist oder sich sein Gebrauch in der Sprache über die Jahre seit der Werkentstehung gravierend verändert hat, sieht sich der Leser, falls er nicht über den nötigen historisch-kritischen Sachverstand verfügt, ge­zwungen, zu Duden oder Wörterbuch (gerne auch online) zu greifen, was die Lektüre nicht unbedingt flüssiger macht. Dass es sich bei dem Wort Neger um eines handelt, dessen Be­deutung sich seit den 1950er Jahren entschieden gewandelt hat, und das, zumindest nach Maßstäben der political correctness, gar nicht mehr in Gebrauch sein dürfte, wird niemand ernsthaft bestreiten. Seinen Kindern wird man dieses Wort genauso wenig beibringen und auch erlauben wollen wie Fidschi, Zigeuner oder Kümmeltürke. Warum also sollte der Ne­ger noch Platz in der Kinderliteratur haben?
Wer hier auf Authentizität oder historische Werktreue pocht, hat nicht verstanden, wozu Kinderliteratur da ist und von wem sie gelesen wird. Will man allen Ernstes, dass sich Kinder beim Lesen eines Kinderbuches mit dem gesellschaftlichen und sprachli­chen Kontext zur Entstehungszeit des Buches auseinandersetzen? Grimms Mär­chen werden gelesen und verstanden, ohne dass die Leser etwas über die Zeit und Umstände ihrer Entstehung  wissen müssen. Kinderliteratur zeichnet sich, wie andere gute Literatur auch, eben dadurch aus, dass sie sich allein durch sich selbst verständlich machen kann. Noch weniger kann man wollen, dass in der Sprache nicht mehr gebräuchliche oder, wie im konkreten Fall, richtigerweise aus der Sprache verschwindende Wörter auf solche Weise künstlich am Leben erhalten werden. Also raus mit dem ganzen Mist.



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