Montag, 22. April 2024

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus - Die Ethik der Gemeinschaft

Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein,
die gerade deshalb eine ist, weil jedes ihrer Mitglieder ganz auf
sich allein gestellt gegen das Alleinsein kämpft.
Zygmunt Bauman

Nimmt man die Ausführungen zur Subjektkonstitution im vorangegangenen Teil 3 dieser Aufsatzreihe auch nur ansatzweise ernst, so wird klar, wie absurd und realitätsfern die politische Theorie des Neoliberalismus mit samt ihrer individualistisch-utilitaristischen Ethik der allen sozialen Bindungen enthobenen Verfolgung individueller Präferenzen in Wahrheit ist. Stattdessen hat sich gezeigt, und das sollte eigentlich jedem von uns schon intuitiv einsichtig sein, dass die Person, dass der individuelle Mensch außerhalb sozialer Beziehungen und Zusammenhänge zwar denkbar ist, ein solches Denkkonstrukt aber bestenfalls eine zweckgebundene Abstraktion im Kontext vulgär-ökonomischer Theorien darstellt und keinerlei Bezug zur realen Lebenswelt hat.

Wie wir gesehen haben, war bereits Marx Mitte des 19. Jahrhunderts zu dieser Erkenntnis gelangt (8. Feuerbachthese, Deutsche Ideologie), und G. H. Mead hatte sie Anfang des 20. Jahrhunderts, unabhängig von Marx, sozialphilosophisch begründet. Beide Denker waren jedoch nicht die ersten. Bereits Aristoteles beschreibt den Menschen als zoon politicon, als politisches Tier, eingebettet in die Gemeinschaft der antiken Polis. Für ihn ist ein Leben des Einzelnen ohne dessen aktive Mitwirkung an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse kein gutes Leben. Hegel hätte einem solchen Menschen, also einem, der das Leben wesentlich nur erträgt und nicht gestaltet, wohl ein „unglückliches Bewusstsein“ attestiert (Phänomenologie des Geistes, IV, B).

Kommunitaristische Kritik am neoliberalen Menschenbild

Der Kommunitarismus entstand in den 1980er Jahren als politikphilosophischer Gegenentwurf sowohl zum sich seinerzeit durchsetzenden Neoliberalismus als auch zur einflussreichen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (A Theory of Justice, 1971). Beide, Neoliberalismus wie Rawls´ theoretische Konstruktion, gehen aus vom Individuum und dessen partikularen Interessen, sie setzen ein ganz bestimmtes, vom Utilitarismus geprägtes Menschenbild voraus, nämlich das eines ungebundenen, quasi freischwebenden Selbst, das seine Handlungsentscheidungen unabhängig davon trifft, in welche konkreten sozialen Kontexte und Beziehungen es eingebunden ist, welcher Kulturgemeinschaft es angehört oder welche Verpflichtungen es gegenüber seinen Mitmenschen hat, kurzum, einer Person, die, um es mit einem Heideggerschen Begriff zu benennen, nirgendwohin „geworfen“ ist. Dass ein solches Theoriekonstrukt idealistisch, ahistorisch und in seinen Prämissen nicht haltbar ist, wurde bei der Diskussion der Subjektkonstitution (siehe Teil 3) hinlänglich nachgewiesen.

In seinem Buch „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982) hat der amerikanische Philosoph Michael Sandel das Konzept von Rawls einer ähnlich gelagerten Kritik unterzogen. Aus seiner Sicht führt die Vorstellung vom ungebundenen Selbst zur Vorstellung von einer Person ohne jeglichen Charakter und, da sich der Charakter einer Person nur in sozialen Kontexten, innerhalb eines vorhandenen normativen Rahmens sowie in individuellen und gemeinschaftlichen Handlungserfahrungen bildet, ohne jegliche Moral. Damit einher geht die Kritik des im Westen vorherrschenden negativen Freiheitsbegriffs, unter dem gemeinhin der Schutz des Einzelnen vor den möglichen Ansprüchen der Mehrheit verstanden wird. Dagegen bringt Sandel einen positiven, bürgerschaftlichen Freiheitsbegriff in Anschlag, nach dem Freiheit gerade daran besteht, in gemeinschaftlichen Beratungen, Aushandlungen und Aktionen Dinge mit seinen Mitmenschen zu bewerkstelligen und nicht gegen sie.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor (der akademische Lehrer Sandels) argumentiert in ähnlicher Weise, „dass der Mensch außerhalb einer Sprachgemeinschaft und einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Gut und Böse, gerecht und ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt“ sein kann.[1] Dagegen verfolgt Taylor eine soziale Konzeption des Menschen, die, angewendet bspw. auf die Migrationspolitik, zu interessanten Implikationen führen kann. Nach Taylor nämlich haben Personen Rechte nur innerhalb einer Gemeinschaft, nur als Mitglieder dieser Gemeinschaft. Daraus ergibt sich für den Einzelnen die Verpflichtung dazuzugehören.[2] In Auseinandersetzung mit Isaiah Berlin argumentiert auch Taylor für einen positiven Begriff von politischer Freiheit, die er mit „kollektiver Selbstregierung“ identifiziert.

Auch Michael Walzer beginnt seine kommunitaristische Gerechtigkeitstheorie mit der Kritik am neoliberalen Menschenbild, das aus seiner Sicht eine Verzerrung der Realität darstellt, indem es einen Konkurrenzkampf aller gegen alle suggeriert, der unweigerlich zum Zerfall der Gesellschaft führen muss.[3] Mit ihrem Statement: „There ist no such thing as society.“ hatte einst Margret Thatcher dem zugehörigen Ideologem griffigen Ausdruck verliehen. Inzwischen macht sich der gesellschaftliche Zerfall nicht nur in Nordamerika, wo er am offensichtlichsten ist, bemerkbar, auch hierzulande haben wir es mit einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) zu tun. Zygmunt Bauman sieht darin gar einen Weg „zurück zu Hobbes“, wenn er schreibt: „So, wie es sich für uns anfühlt, ... ist unsere gegenwärtige Welt – eine Welt zunehmend schwindender Bindungen, der Deregulierung und Atomisierung politischer Strukturen, der Trennung von Politik und Macht – abermals Schauplatz eines Krieges aller gegen alle … geworden.“[4] Dagegen stellt sich Michael Walzer. Ihm zufolge steht nicht das Individuum im Zentrum der politischen Theorie, „sondern die Verbindungen, in welche die vielen sich ihrer selbst bewußten Ichs zueinander treten, mithin das Muster und die Struktur ihrer sozialen Beziehungen.“[5]

Für unser Thema von Interesse ist, dass Walzer ausleuchtet, welche Rolle moralische Normen und Gewohnheiten bei der Konstitution sozialer Beziehungen spielen. In seiner Interpretation bedarf die Gemeinschaft keiner besonderen, „neu erfundenen“ Moral, sondern kann sich auf bestehende moralische Prinzipien stützen, denen die Menschen immer schon folgen. Ohne dies zu explizieren, nähert sich Walzer damit neueren Moraltheorien, die die Entstehung gewisser, offenbar universal gültiger moralischer Mindeststandards u. a. aus der biopsychosozialen Evolution des Homo sapiens erklärt[6], wie auch den Ansichten seines neopragmatistischen Kollegen Richard Rorty, der meint, dass unser gewöhnlicher, unreflektierter Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen verfügt, um in der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial kompetent zu handeln, ohne dabei auf allgemeine und daher abstrakte moralische Prinzipien (Letztbegründungen) zurückgreifen zu müssen. Das meint gleichwohl nicht, dass Menschen überall und zu allen Zeiten den gleichen moralischen Normen folgen, sondern lediglich, dass ein Grundbestand von Verboten resp. Verpflichtungen ausgemacht werden kann, der uns allen gemeinsam ist und, soweit dies historisch rekonstruierbar ist, es immer schon war. Dazu gehören das Verbot zu morden, das Verbot zu betrügen, das Verbot zu stehlen usf.[7] Ungeachtet dessen muss Moral in ihren weiteren normativen Verästlungen als historisch und soziokulturell gewachsen angesehen werden, so dass wir es, auf die Menschheit als ganze bezogen, mit einem „heillosen Pluralismus“ von Ethiken zu tun haben, und vor uns die Aufgabe der Interpretation steht. Nach Walzer ist in moralischen Fragen der Heuristiker gefragt, nicht der Theoretiker.

Wenngleich der Ausgangspunkt der Überlegungen bei den drei genannten Autoren ein explizit moralischer ist, nämlich die Frage nach dem guten Leben, ist es dem Kommunitarismus jedoch nicht so sehr um Ethik zu tun, sondern um Gerechtigkeit, vornehmlich um Verteilungsgerechtigkeit. Die Gemeinschaft ist der Ort, an dem Güter verteilt werden, und das erste Gut, das zur Verteilung ansteht, ist die Zugehörigkeit zu eben jener Gemeinschaft selbst.

Gemeinschaft und moralische Werte

Sofern hier und im Weiteren von Gemeinschaft die Rede ist, wird mit diesem Begriff keineswegs ein in letzter Zeit anscheinend wieder in Mode gekommenes naiv-romantisches Bild vom wohligen Miteinander, vom Wärmekreis, wie es Göran Rosenberg ausdrückte, evoziert[8]. Ebensowenig ist die im Kontext der Klimakrise vermehrt an- und aufgerufene Weltgemeinschaft gemeint. Vielmehr soll mit Bezug auf die Ausgangsüberlegungen in Teil 1 dieser Reihe  die Gemeinschaft als möglicherweise notwendig sich ergebendes Gebilde unter den Bedingungen einer zerfallenden Gesellschaft, quasi als Notgemeinschaft, und nicht als absichtsvoll und bewusst herbeigeführtes soziales Konstrukt thematisiert werden. Ich folge damit der Sichtweise von Karl Marx, die er 1852 im vielzitierten vierten Satz von „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ dargelegt hat:

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.

Unter den „vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ finden sich auch Gemeinschaften. Diese können, müssen aber nicht, über ein annähernd gleiches Moralverständnis ihrer Mitglieder verfügen. Beispiele dafür sind die christlichen und die religiösen Gemeinschaften überhaupt, die sich über die Jahrhunderte noch immer auch als Notgemeinschaften verstanden und bewährt haben, oder, um aktuelle Entwicklungen aufzugreifen, die verschiedenen Communities der identitätspolitischen Bewegungen (Black Lives Matter, LGBTQ+ etc.), wiewohl gerade hier Vorsicht bei der Beurteilung geboten ist. Die Zugehörigkeit zu dieser Art von Gemeinschaften definiert sich, wenn auch nicht ausschließlich, über einen geteilten moralischen Grundkonsens, der die einen ein- und die anderen ausschließt. Sie wurden und werden nicht im eigentlichen Sinne konstituiert, auch wenn zuweilen solche Narrative vermittelt werden, sondern sie entstehen irgendwie. Die geteilten Werte, oder besser, das gemeinsame Verständnis der Werte erscheint den Mitgliedern der Gemeinschaft als ein natürliches, gewissermaßen ahistorisches und ist deshalb notwendigerweise ein stillschweigendes. Zygmunt Baumann bemerkt dazu knapp:

Eine Gemeinschaft ist entweder stumm – oder erloschen. Sobald sie beginnt, ihre Werte zu preisen, von ihrer unverfälschten Schönheit zu schwärmen und Manifeste zu plakatieren, in denen sie ihre Mitglieder dazu auffordert, ihre Leistungen zu loben, und die Außenstehenden mahnt, in den Lobpreis einzustimmen oder zu schweigen – kann man sicher sein, dass die Gemeinschaft nicht mehr (oder, was auch vorkommen kann, noch nicht) existiert. Eine Gemeinschaft, von der «man spricht» (genauer: eine Gemeinschaft, die sich selbst als solche bezeichnet), ist ein Widerspruch in sich.[9]

Ein grundlegender (nicht nur) moralischer Wert jeder Gemeinschaft und gleichsam ihre Konstituente ist die Gleichheit ihrer Mitglieder. Gleichheit ist daselbst bereits ein erstrebenswertes Gut der Gemeinschaft, denn sie kann nicht per se als gegeben vorausgesetzt werden. Menschen, Personen unterscheiden sich voneinander in den verschiedensten Merkmalen und Eigenschaften, nicht nur in ihren biologischen und psychischen Eigenheiten, auch in ihrer materiellen Ausstattung oder sozialen Stellung. Und auch in der Gemeinschaft können Differenzierungen und Hierarchien vorliegen. Es ist also ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, worin konkret die Gleichheit bestehen soll, was der „Parameter“ ist, in Bezug auf den überhaupt von Gleichheit gesprochen werden kann. Für die Gemeinschaft der Christen (wie auch der Juden und Muslime) bspw. ist dies wohl die Gleichheit vor Gott, für die Gemeinschaft der Kommunisten (ganz grob gesagt) die materielle Gleichheit, und für die Gemeinschaft der Liberalen (die eigentlich keine Gemeinschaft ist und sich auch nicht als solche versteht) die (negativ verstandene) gleiche Freiheit aller.

Am Beispiel der Religionsgemeinschaften lässt sich ein zweiter Wert ausmachen – die Brüderlichkeit. Brüderlichkeit, verstanden als kollektive Solidarität, ist unabdingbare Voraussetzung für die Beständigkeit der Gemeinschaft und die Verlässlichkeit zwischen ihren Mitgliedern. Für das einzelne Mitglied sind damit gemeinschaftsspezifische Rechte und Pflichten verbunden, die u. U. institutionell abgesichert werden müssen, etwa durch Sanktionierung bei Verstößen. Zu diesen Pflichten gehört zuallererst die oben erwähnte, von Charles Taylor postulierte Verpflichtung dazuzugehören.[10]

Zur Heiligen Dreifaltigkeit der Französischen Revolution fehlt uns nur noch der Wert der Freiheit. Immer wieder und besonders im neoliberalen Diskurs wird der Eindruck erweckt, als könnten die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit realiter nicht miteinander in Einklang gebracht werden – würden je zwei von ihnen realisiert, bliebe der dritte auf der Strecke. Die Verfolgung der Ziele Brüderlichkeit und Gleichheit würde demnach die Freiheit, und zwar die Freiheit des Individuums, so sehr einschränken, dass Gemeinschaft schlechthin abzulehnen sei. Doch wie oben,  bei der kurzen Darstellung der kommunitaristischen Positionen von Michael Sandel und Charles Taylor zu sehen war, liegt diesem Urteil ein negativer Freiheitsbegriff zu Grunde, wohingegen es im vorliegenden Kontext um die positive politische Freiheit als „kollektiver Selbstregierung“ geht. Seinen historischen Bezug findet der negative Freiheitsbegriff des Liberalismus wohl in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, während der positive sich zu Recht auf die Revolutionäre von 1789 und, wie ich meine, ihre Nachfolger, die Revolutionäre von 1848, die Kommunarden von 1871 und selbst die vorstalinistischen Bolschewiken von 1917 berufen kann.

Es sollte einsichtig sein, dass die Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einerseits eine Idealvorstellung vom Wertefundament einer Gemeinschaft ausdrückt und andererseits nur einen, wenn auch zentralen Teil der von den Mitgliedern realer, konkreter Gemeinschaften geteilten Werte darstellt. Zudem ist jeder der drei Werte für sich in seiner jeweiligen Konkretion in hohem Maße problematisch. So postulieren bspw. David Graeber und David Wengrow in „Anfänge“[11] drei Grundfreiheiten des Menschen:  weggehen zu können, nicht gehorchen zu müssen und im Stande zu sein, neu über die sozialen Beziehungen zu entscheiden. Offensichtlich ist nur die letzte mit dem Leben in einer Gemeinschaft vereinbar, denn die beiden anderen gehören zu den negativen Freiheiten. Gleichheit und Brüderlichkeit wiederum bergen in sich die Gefahr der Abschottung gegen die, die nicht so sind wie wir, die Anderen („l‘enfer, c‘est les Autres.“) und sich nicht an unsere Regeln halten. Aber womöglich wird gerade dies nötig sein, wenn wir als soziale Wesen überleben wollen.

 


[1]      Charles Taylor.  Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Suhrkamp 1992

[2]      Charles Taylor. Atomismus. In Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Hrsg. Bert van den Brink und Willem van Reijen, 73–106. Suhrkamp 1995

[3]      Michael Walzer. Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Campus 1992

[4]      Zygmunt Baumann. Retrotopia. Suhrkamp 2017, S. 59

[5]      Michael Walzer. a.a.O. S. 179

[6]      Siehe bspw. Michael Tomasello. Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral. Suhrkamp 2020

[7]      Im Kern handelt es sich wohl um die vier „großen“ Tabus: Tötungstabu, Nahrungstabu, Inzesttabu und Sprachtabu.

[8]      Siehe dazu den Radio-Essay von Stefan Kühl.

[9]      Zygmunt Baumann. Gemeinschaften. Suhrkamp 2009. S. 4

[11]    David Graeber, David Wengrow. Anfänge. Klett-Cotta, 2022

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