Sonntag, 17. April 2016

Die dezisionistische Krankheit

Im Editorial der aktuellen Ausgabe 03/2016 des Philosophiemagazins beklagt Chefredakteur Wolfram Eilenberger einen sich ausbreitenden „bekenntnisdurstigen Eigentlichkeitsterror“, der einen dazu zwingen will, zu allem und jedem eine Haltung zu beziehen und einen „weltanschaulichen Offenbarungseid“ abzulegen. Statt dessen plädiert Eilenberger für eine „Kultur der Ironie, des Antestens, Auslotens, Maskierens, der wohlwollenden Provokation und damit auch der wechselseitigen Kränkungsresistenz“. (Merke: Dies wurde weit vor der Causa Böhmermann resp. extra 3 geschrieben.) Dem kann ich mich nur anschließen, meine aber, dass dieser Zwang zur permanenten Entscheidung für oder gegen etwas, unabhängig von der häufig in diesem Zusammenhang mit der Frage „Das meinst Du jetzt nicht wirklich?“ einhergehenden Forderung nach unbedingter Authentizität, Folge einer beunruhigenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist.
In den Krisen der vergangenen Monate und Jahre ist die Politik, die offizielle institutionelle (Parlamente, Regierungen) wie auch die außerinstitutionelle (Bewegungen, neue Parteien) in einen Aktions- und Reaktionsmodus verfallen, bei dem die Entscheidung als solche zum Kern politischen Handelns geworden ist. Die einen treffen permanent Entscheidungen zur Rettung, zum Ausstieg, zum Schutz, zur Abwehr, zur Aufnahme, zum Einsatz usf. Die anderen fordern permanent Entscheidungen ein, die möglichst ihren eigenen Interessen dienen sollen. Eine wirkliche und ergebnisoffene Auseinandersetzung um beste sinnvolle Lösungen der Probleme findet anscheinend nicht mehr statt. Die Ethik der kommunikativen Rationalität ist suspendiert. Es geht nur noch um Ja oder Nein, um Freund oder Feind, um Wir oder Die, um Alles oder Nichts.
Ich halte dies für eine pathologische Entwicklung: Die Krankheit des Dezisionismus hat den öffentlichen Raum befallen. Im politischen Kontext steht der Dezisionist auf dem Standpunkt, dass eine legal getroffene Entscheidung keiner weiteren normativen oder rationalen Begründung bedarf. Die Entscheidung legitimiert sich aus sich selbst heraus bzw. über das Recht des Entscheiders zu entscheiden. Eine argumentative Auseinandersetzung über Gründe und Folgen oder gar die Legitimität der Entscheidung erübrigt sich. Der eingangs beschriebene Aktions- und Reaktionsmodus aktueller deutscher und europäischer politischer Exekutivorgane kann deshalb nur dezisionistisch genannt werden.
Von Fall zu Fall mag es durchaus Gründe geben, warum politische Entscheidungen dezisionistisch getroffen werden: Zum einen kann Zeitdruck eine Rolle spielen, in Not- oder Krisensituationen etwa, zum anderen können es handfeste Sachzwänge sein, die diese oder jene Entscheidung unumgänglich machen. Gerade wirkliche und vermeintliche Sachzwänge werden nur allzu oft zur Begründung angeführt. Die Entscheidungen werden dann als alternativlos deklariert. An Beispielen, insbesondere aus der heimischen Politikszene ist kein Mangel:
  • Banken müssen gerettet werden, weil sie systemrelevant sind.
  • Erbschaftssteuer darf nicht erhoben werden, weil dies Arbeitsplätze gefährden würde.
  • Aus dem gleichen Grund wird entschieden, dass Edeka Kaisers-Tengelmann übernehmen kann.
  • Griechenland muss im Euroraum gehalten werden, denn: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“
  • Sämtliche deutschen Atomkraftwerke  werden abgeschaltet, weil in Japan eine Naturkatastrophe ein AKW beschädigt hat.
  • Edward Snowden kann kein Asyl gewährt werden, weil die USA ein Rechtsstaat seien, in dem ihm keine Todesstrafe drohen würde.
  • Flüchtlinge und Migranten müssen unkontrolliert ins Land gelassen werden, denn andernfalls „ist das nicht mein Land“.
  • Und jüngst: Gegen Jan Böhmermann kann ein Ermittlungsverfahren nach § 103 StGB eröffnet werden, weil die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat ist (nein, weil aktuell gute Beziehungen zur Türkei alternativlos sind).
Für den Bürger mag der praktizierte Dezisionismus die an sich komplizierten politischen Prozesse übersichtlicher machen, weil sie auf einfache Ja/Nein-Entscheidungen heruntergebrochen werden. Auch liebt es der Bürger nicht, so eine verbreitete Ansicht, wenn Parteien und Regierungen ihre internen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte öffentlich austragen;  er will Konsens und klare Kante zugleich. Was der Bürger dabei häufig nicht sieht, ist, dass sich in der dezisionistischen Kante eine zutiefst antiliberale und demokratiegefährdende Haltung zeigt. Die gehäufte Anwendung von Basta- und TINA-Prozeduren im Bereich des Politischen führt ja mitnichten dazu, dass im Interesse der Bevölkerungsmehrheit entschieden wird. Im Gegenteil, wenn politische Auseinandersetzungen nicht mehr offen geführt und Entscheidungsprozesse nicht mehr transparent gemacht werden, wächst der Einfluss der Lobbyisten und der Vertreter  von zumeist wirtschaftlichen Partikularinteressen.
Der von mir schon öfter zitierte Carl Schmitt gilt als der exponierteste Vertreter des Dezisionismus im Bereich des Staatsrechts und der Verfassungslehre. Mit guten Gründen gilt er zudem als „Kronjurist des Dritten Reiches“ (Waldemar Gurian) und intellektueller Wegbereiter der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und des Verfassungsstaates der Weimarer Republik sowie der Errichtung des nationalsozialistischen Führerstaats. Für Schmitt steht der Parlamentarismus in einem Gegensatz zur Demokratie (!) Jenen charakterisiert der Glaube an die Findung von Wahrheit und Richtigkeit durch öffentliche Diskussion im Parlament. Der Parlamentarismus institutionalisiert das „ewige Gespräch“.  Er erscheint Schmitt als Ort apolitischer, bürgerlicher Selbstbespiegelung, die nie zur Entscheidung kommt.  Das Parlament als „Quasselbude“, wie Kaiser  Wilhelm II. den Reichstag einst beschimpfte. Dass Schmitt so über den Parlamentarismus urteilt, ergibt sich aus seinem Begriff des Politischen als Ort der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Ein solcher Politikbegriff hat offensichtlich keinen Platz für den ergebnisoffenen  rationalen Diskurs und den politischen Kompromiss. An die Stelle des Parlamentarismus setzt Carl Schmitt explizit seine Vorstellung von Demokratie als homogenem Nationalstaat unter Ausschluss oder Beseitigung des Heterogenen, gleichsam als institutionalisierter „Volkswille“.
Nach Auschwitz finden solche kruden Politikkonzepte kaum noch Anhänger, und die wenigen werden ihre Ansichten kaum öffentlich äußern. Um so erstaunlicher ist es, dass die politische Praxis eben jene, oben skizzierte dezisionistische Tendenz aufweist, da das Parlament mehr und mehr zur zahnlosen „Quasselbude“ verkommt, während die politischen Entscheidungen längst anderswo getroffen werden. Für den Bürger wird dabei immer undurchsichtiger, an welcher Stelle und von wem eigentlich entschieden wird. Berlin (Regierung, Bundestag), Karlsruhe (Verfassungsgericht), Brüssel (EU-Kommission), Straßburg (EU-Parlament), Luxemburg (EuGH), New York (UNO)? Und was ist mit dem IWF oder der Weltbank? Die gewünschte Eindeutigkeit der Entscheidungen löst sich auf in der Komplexität der globalen Entscheidungsnetzwerke. Und mehr noch, bei den Betroffenen verstärkt sich zusehends das Empfinden, von zwar legalen, aber nicht legitimierten Institutionen beherrscht zu werden.
Wie bereits erwähnt, werden als Begründung für dezisionistische Politik besondere Zwänge herangezogen, die scheinbar außerhalb der Gestaltungsmacht der Akteure liegen. Entscheidungen werden als Ausnahmen von den üblichen politischen Regularien dargestellt, nur, wenn sie gehäuft auftreten, muss gleichwohl die Frage erlaubt sein, ob nicht die bewusste Herbeiführung von Ausnahmetatbeständen das dezisionistische Agieren erst ermöglichen soll.  Einen Hinweis darauf gibt die Beobachtung, dass es sich um Entscheidungen handelt, die vornehmlich der Sicherung von Machtpositionen dienen. An gleicher Stelle war ich vor einiger Zeit bereits auf diesen Aspekt des großkoalitionären resp. merkelschen „Fahrens auf Sicht“ eingegangen. Offenkundig ist damit die Gefahr gegeben, dass dezisionistisches Agieren mit Berufung auf Ausnahmetatbestände von der Ausnahme zur Norm werden könnte und erforderliche demokratische Legitimationen erst im Nachgang erfolgen, sei es durch Parlamentsbeschluss oder durch Plebiszit. In beiden Fällen hätte eine Delegitimation kaum Auswirkungen, weil die Ausnahmeentscheidungen bereits politische Tatsachen geschaffen haben. Jüngstes Beispiel ist das Referendum der Niederländer zum EU-Ukraine-Abkommen.
Wenn aber selbst Plebiszite als Formen direkter Demokratie keinen Einfluss mehr auf die Legitimität politischer Entscheidungen haben, dann muss die Frage nach der Verortung des Souveräns im Europa des 21. Jahrhunderts wie auch auf nationalstaatlicher Ebene gestellt werden.  Der Zulauf, den populistische Parteien in ganz Europa erhalten, lässt vermuten, dass sich große Bevölkerungsgruppen nicht mehr als Teil der Staatssouveränität sehen, die ihnen von den jeweiligen Verfassungen zugesichert wird (§ 20, 2 GG etwa), sondern, ebenso wie ich, eher der Auffassung sind, dass, wie der Politikwissenschaftler Reinhard Mehring fragend formuliert: „die Souveränität in Deutschland und Europa längst zum Elitenprojekt geworden“ ist. Dass sie dabei den falschen Propheten hinterherlaufen, da es denen ebenso wenig um die Wiedereinsetzung der verfassungsmäßigen Souveränität geht, sondern nur um simplen Elitenaustausch, soll hier nicht thematisiert werden.
Souveränität definiert sich über den Umgang mit der Ausnahme, behauptete Carl Schmitt in seiner  Politischen Theologie von 1922: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Wenn das richtig ist, und wenn der Ausnahmezustand bewusst herbeigeführt wird, um dezisionistisch entscheiden zu können, dann laufen wir wirklich Gefahr, dass der Ausnahmezustand zur Regel wird. Denn absehbar ist, dass die Häufigkeit der Krisen und Katastrophen nicht abnehmen wird, und je weniger sich die politischen Akteure mit der Vorbeugung oder Vermeidung befassen, weil sie mehr mit aktuellen Ad-hoc-Aktionen beschäftigt sind oder mit den Aufräumarbeiten infolge der gerade durchstandenen Krisen,  desto häufiger werden die Ausnahmetatbestände und die damit begründeten TINA-Entscheidungen.  Zu besichtigen ist dies bei der aktuellen „Bewältigung“ der Flüchtlingskrise, wo mit dem „Outsourcing“ der Krisenphänomene auf den Balkan, in die Türkei und nach Nordafrika bereits die Keime für die nächsten humanitären Katastrophen gelegt werden. Fast scheint es, als wolle man den Philosophen  Giorgio Agamben nachträglich ins Recht setzen, hatte dieser doch schon 1995, zu Beginn seines Homo-Sacer-Projekts und lange vor dem syrischen Bürgerkrieg oder Guantánamo,  formuliert: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“ (Homo Sacer, Suhrkamp 2002, S. 177) Agambens These ist, dass das Lager zum universellen Ort der vom globalisierten Kapitalismus Entorteten wird, der Entrechteten, denen nichts geblieben ist als das „nackte Leben“. War das Lager bis ins Späte 20. Jahrhunderts  der Ort der Trennung von Freund und Feind, so wird es nun zum Ort des Fremden.
Mir scheint, dass eine Prämisse aktueller deutscher (und europäischer) Migrationspolitik darin besteht, das Lager als reale Einrichtung möglichst fern vom europäischen Wohlstandsraum zu halten. Es wird alles unternommen, dass es in unmittelbarer politischer und medialer Reichweite keine Lager gibt. Nötigenfalls wird auch einfach der Begriffsgebrauch unterlassen, und statt dessen ist von Aufnahmezentren, Erstaufnahmeeinrichtungen, Hot Spots oder schlicht nur von Camps die Rede, wobei auch jene Camps möglichst fern von deutschem Boden sein sollen. Und wo das Lager, wie im Fall des griechischen Idomeni, trotzdem auf EU-Territorium existiert, wird es umgehend skandalisiert, und die Flüchtlinge selbst werden für seine Existenz verantwortlich gemacht. Nicht nur darf von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen, nein, auf europäischem Boden darf auch nie wieder ein Lager errichtet werden. Man möchte hoffen, dass diese Abscheu vor dem Lager einhergeht mit der Erkenntnis, dass eben jenes Lager eine  Konsequenz der eigenen dezisionistischen Politik ist und deren Begründung mit Ausnahmetatbeständen kein Ersatz für reguläre demokratische Prozesse.   

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