Im
Editorial der aktuellen Ausgabe 03/2016 des Philosophiemagazins
beklagt Chefredakteur Wolfram Eilenberger einen sich ausbreitenden
„bekenntnisdurstigen Eigentlichkeitsterror“, der einen dazu
zwingen will, zu allem und jedem eine Haltung zu beziehen und einen
„weltanschaulichen Offenbarungseid“ abzulegen. Statt dessen
plädiert Eilenberger für eine „Kultur der Ironie, des Antestens,
Auslotens, Maskierens, der wohlwollenden Provokation und damit auch
der wechselseitigen Kränkungsresistenz“. (Merke: Dies wurde weit
vor der Causa Böhmermann resp. extra 3 geschrieben.)
Dem kann ich mich nur anschließen, meine aber, dass dieser Zwang zur
permanenten Entscheidung für oder gegen etwas, unabhängig von der
häufig in diesem Zusammenhang mit der Frage „Das meinst Du jetzt
nicht wirklich?“ einhergehenden Forderung nach unbedingter
Authentizität, Folge einer beunruhigenden gesamtgesellschaftlichen
Entwicklung ist.
In
den Krisen der vergangenen Monate und Jahre ist die Politik, die
offizielle institutionelle (Parlamente, Regierungen) wie auch die
außerinstitutionelle (Bewegungen, neue Parteien) in einen Aktions-
und Reaktionsmodus verfallen, bei dem die Entscheidung
als solche zum Kern
politischen Handelns geworden ist. Die einen treffen permanent
Entscheidungen zur Rettung, zum Ausstieg, zum Schutz, zur Abwehr, zur
Aufnahme, zum Einsatz usf. Die anderen fordern permanent
Entscheidungen ein, die möglichst ihren eigenen Interessen dienen
sollen. Eine wirkliche und ergebnisoffene Auseinandersetzung um beste
sinnvolle Lösungen der Probleme findet anscheinend nicht mehr statt.
Die Ethik der kommunikativen
Rationalität ist
suspendiert. Es geht nur noch um Ja oder Nein, um Freund oder Feind,
um Wir oder Die, um Alles oder Nichts.
Ich
halte dies für eine pathologische Entwicklung: Die Krankheit des
Dezisionismus
hat den öffentlichen Raum befallen. Im politischen Kontext steht der
Dezisionist auf dem Standpunkt, dass eine legal getroffene
Entscheidung keiner weiteren normativen oder rationalen Begründung
bedarf. Die Entscheidung legitimiert sich aus sich selbst heraus bzw.
über das Recht des Entscheiders zu entscheiden. Eine argumentative
Auseinandersetzung über Gründe und Folgen oder gar die Legitimität
der Entscheidung erübrigt sich. Der eingangs beschriebene Aktions-
und Reaktionsmodus aktueller deutscher und europäischer politischer
Exekutivorgane kann deshalb nur dezisionistisch genannt werden.
Von
Fall zu Fall mag es durchaus Gründe geben, warum politische
Entscheidungen dezisionistisch getroffen werden: Zum einen kann
Zeitdruck eine Rolle spielen, in Not- oder Krisensituationen etwa,
zum anderen können es handfeste Sachzwänge sein, die diese oder
jene Entscheidung unumgänglich machen. Gerade wirkliche und
vermeintliche Sachzwänge werden nur allzu oft zur Begründung
angeführt. Die Entscheidungen werden dann als alternativlos
deklariert. An Beispielen, insbesondere aus der heimischen
Politikszene ist kein Mangel:
- Banken müssen gerettet werden, weil sie systemrelevant sind.
- Erbschaftssteuer darf nicht erhoben werden, weil dies Arbeitsplätze gefährden würde.
- Aus dem gleichen Grund wird entschieden, dass Edeka Kaisers-Tengelmann übernehmen kann.
- Griechenland muss im Euroraum gehalten werden, denn: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“
- Sämtliche deutschen Atomkraftwerke werden abgeschaltet, weil in Japan eine Naturkatastrophe ein AKW beschädigt hat.
- Edward Snowden kann kein Asyl gewährt werden, weil die USA ein Rechtsstaat seien, in dem ihm keine Todesstrafe drohen würde.
- Flüchtlinge und Migranten müssen unkontrolliert ins Land gelassen werden, denn andernfalls „ist das nicht mein Land“.
- Und jüngst: Gegen Jan Böhmermann kann ein Ermittlungsverfahren nach § 103 StGB eröffnet werden, weil die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat ist (nein, weil aktuell gute Beziehungen zur Türkei alternativlos sind).
Für
den Bürger mag der praktizierte Dezisionismus die an sich
komplizierten politischen Prozesse übersichtlicher machen, weil sie
auf einfache Ja/Nein-Entscheidungen heruntergebrochen werden. Auch
liebt es der Bürger nicht, so eine verbreitete Ansicht, wenn
Parteien und Regierungen ihre internen Meinungsverschiedenheiten und
Konflikte öffentlich austragen; er will Konsens und klare
Kante zugleich. Was der Bürger dabei häufig nicht sieht, ist, dass
sich in der dezisionistischen Kante eine zutiefst antiliberale und
demokratiegefährdende Haltung zeigt. Die gehäufte Anwendung von
Basta- und TINA-Prozeduren im Bereich des Politischen führt ja
mitnichten dazu, dass im Interesse der Bevölkerungsmehrheit
entschieden wird. Im Gegenteil, wenn politische Auseinandersetzungen
nicht mehr offen geführt und Entscheidungsprozesse nicht mehr
transparent gemacht werden, wächst der Einfluss der Lobbyisten und
der Vertreter von zumeist wirtschaftlichen
Partikularinteressen.
Der
von mir schon öfter zitierte Carl
Schmitt gilt als der
exponierteste Vertreter des Dezisionismus im Bereich des Staatsrechts
und der Verfassungslehre. Mit guten Gründen gilt er zudem als
„Kronjurist des Dritten Reiches“ (Waldemar Gurian) und
intellektueller Wegbereiter der Beseitigung der parlamentarischen
Demokratie und des Verfassungsstaates der Weimarer Republik sowie der
Errichtung des nationalsozialistischen Führerstaats. Für Schmitt
steht der Parlamentarismus in einem Gegensatz zur Demokratie (!) Jenen charakterisiert der Glaube an die Findung von Wahrheit und
Richtigkeit durch öffentliche Diskussion im Parlament. Der
Parlamentarismus institutionalisiert das „ewige Gespräch“.
Er erscheint Schmitt als Ort apolitischer, bürgerlicher
Selbstbespiegelung, die nie zur Entscheidung kommt. Das
Parlament als „Quasselbude“, wie Kaiser Wilhelm II. den
Reichstag einst beschimpfte. Dass Schmitt so über den
Parlamentarismus urteilt, ergibt sich aus seinem Begriff des
Politischen als Ort der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Ein
solcher Politikbegriff hat offensichtlich keinen Platz für den
ergebnisoffenen rationalen Diskurs und den politischen
Kompromiss. An die Stelle des Parlamentarismus setzt Carl Schmitt
explizit seine Vorstellung von Demokratie als homogenem Nationalstaat
unter Ausschluss oder Beseitigung des Heterogenen, gleichsam als
institutionalisierter „Volkswille“.
Nach
Auschwitz finden solche kruden Politikkonzepte kaum noch Anhänger,
und die wenigen werden ihre Ansichten kaum öffentlich äußern. Um
so erstaunlicher ist es, dass die politische Praxis eben jene, oben
skizzierte dezisionistische Tendenz aufweist, da das Parlament mehr
und mehr zur zahnlosen „Quasselbude“ verkommt, während die
politischen Entscheidungen längst anderswo getroffen werden. Für
den Bürger wird dabei immer undurchsichtiger, an welcher Stelle und
von wem eigentlich entschieden wird. Berlin (Regierung, Bundestag),
Karlsruhe (Verfassungsgericht), Brüssel (EU-Kommission), Straßburg
(EU-Parlament), Luxemburg (EuGH), New York (UNO)? Und was ist mit dem
IWF oder der Weltbank? Die gewünschte Eindeutigkeit der
Entscheidungen löst sich auf in der Komplexität der globalen
Entscheidungsnetzwerke. Und mehr noch, bei den Betroffenen verstärkt
sich zusehends das Empfinden, von zwar legalen, aber nicht
legitimierten Institutionen beherrscht zu werden.
Wie
bereits erwähnt, werden als Begründung für dezisionistische
Politik besondere Zwänge herangezogen, die scheinbar außerhalb der
Gestaltungsmacht der Akteure liegen. Entscheidungen werden als
Ausnahmen von den üblichen politischen Regularien dargestellt, nur,
wenn sie gehäuft auftreten, muss gleichwohl die Frage erlaubt sein,
ob nicht die bewusste Herbeiführung von Ausnahmetatbeständen das
dezisionistische Agieren erst ermöglichen soll. Einen Hinweis
darauf gibt die Beobachtung, dass es sich um Entscheidungen handelt,
die vornehmlich der Sicherung von Machtpositionen dienen. An gleicher
Stelle war ich vor
einiger Zeit bereits auf diesen Aspekt des großkoalitionären resp.
merkelschen „Fahrens auf Sicht“ eingegangen. Offenkundig ist
damit die Gefahr gegeben, dass dezisionistisches Agieren mit Berufung
auf Ausnahmetatbestände von der Ausnahme zur Norm werden könnte und erforderliche demokratische Legitimationen erst im Nachgang
erfolgen, sei es durch Parlamentsbeschluss oder durch Plebiszit. In
beiden Fällen hätte eine Delegitimation kaum Auswirkungen, weil die
Ausnahmeentscheidungen bereits politische Tatsachen geschaffen haben.
Jüngstes Beispiel ist das Referendum der Niederländer zum
EU-Ukraine-Abkommen.
Wenn
aber selbst Plebiszite als Formen direkter Demokratie keinen Einfluss
mehr auf die Legitimität politischer Entscheidungen haben, dann muss
die Frage nach der Verortung des Souveräns im Europa des 21.
Jahrhunderts wie auch auf nationalstaatlicher Ebene gestellt werden.
Der Zulauf, den populistische Parteien in ganz Europa erhalten, lässt
vermuten, dass sich große Bevölkerungsgruppen nicht mehr als Teil
der Staatssouveränität sehen, die ihnen von den jeweiligen
Verfassungen zugesichert wird (§ 20, 2 GG etwa), sondern, ebenso wie
ich, eher der Auffassung sind, dass, wie der Politikwissenschaftler
Reinhard Mehring fragend formuliert: „die Souveränität in
Deutschland und Europa längst zum Elitenprojekt geworden“ ist.
Dass sie dabei den falschen Propheten hinterherlaufen, da es denen
ebenso wenig um die Wiedereinsetzung der verfassungsmäßigen
Souveränität geht, sondern nur um simplen Elitenaustausch, soll
hier nicht thematisiert werden.
Souveränität
definiert sich über den Umgang mit der Ausnahme, behauptete Carl Schmitt
in seiner Politischen
Theologie von 1922:
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Wenn
das richtig ist, und wenn der Ausnahmezustand bewusst herbeigeführt
wird, um dezisionistisch entscheiden zu können, dann laufen wir
wirklich Gefahr, dass der Ausnahmezustand zur Regel wird. Denn
absehbar ist, dass die Häufigkeit der Krisen und Katastrophen nicht
abnehmen wird, und je weniger sich die politischen Akteure mit der
Vorbeugung oder Vermeidung befassen, weil sie mehr mit aktuellen
Ad-hoc-Aktionen beschäftigt sind oder mit den Aufräumarbeiten
infolge der gerade durchstandenen Krisen, desto häufiger
werden die Ausnahmetatbestände und die damit begründeten
TINA-Entscheidungen. Zu besichtigen ist dies bei der aktuellen
„Bewältigung“ der Flüchtlingskrise, wo mit dem „Outsourcing“
der Krisenphänomene auf den Balkan, in die Türkei und nach
Nordafrika bereits die Keime für die nächsten humanitären
Katastrophen gelegt werden. Fast scheint es, als wolle man den
Philosophen Giorgio
Agamben nachträglich
ins Recht setzen, hatte dieser doch schon 1995, zu Beginn seines
Homo-Sacer-Projekts und lange vor dem syrischen Bürgerkrieg oder
Guantánamo,
formuliert: „Das Lager ist
der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu
werden beginnt.“ (Homo
Sacer, Suhrkamp 2002, S. 177) Agambens These ist, dass das Lager zum
universellen Ort der vom globalisierten Kapitalismus Entorteten wird,
der Entrechteten, denen nichts geblieben ist als das „nackte
Leben“. War das Lager bis ins Späte 20. Jahrhunderts der Ort
der Trennung von Freund und Feind, so wird es nun zum Ort des
Fremden.
Mir
scheint, dass eine Prämisse aktueller deutscher (und europäischer)
Migrationspolitik darin besteht, das Lager als reale
Einrichtung möglichst fern vom europäischen Wohlstandsraum zu
halten. Es wird alles unternommen, dass es in unmittelbarer
politischer und medialer Reichweite keine Lager gibt. Nötigenfalls
wird auch einfach der Begriffsgebrauch unterlassen, und statt dessen
ist von Aufnahmezentren, Erstaufnahmeeinrichtungen, Hot Spots oder
schlicht nur von Camps die Rede, wobei auch jene Camps möglichst
fern von deutschem Boden sein sollen. Und wo das Lager, wie im Fall
des griechischen Idomeni, trotzdem auf EU-Territorium existiert, wird
es umgehend skandalisiert, und die Flüchtlinge selbst werden für seine
Existenz verantwortlich gemacht. Nicht nur darf von deutschem Boden
nie wieder ein Krieg ausgehen, nein, auf europäischem Boden darf
auch nie wieder ein Lager errichtet werden. Man möchte hoffen, dass
diese Abscheu vor dem Lager einhergeht mit der Erkenntnis, dass eben jenes Lager eine Konsequenz der eigenen dezisionistischen Politik ist
und deren Begründung mit Ausnahmetatbeständen kein Ersatz für
reguläre demokratische Prozesse.
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