Montag, 7. Mai 2012

Fassadenkletterer


Im Januar 2005 hatte ich im Auftrag der bayerischen Justiz für mehrere Tage in Bayreuth zu tun. Ich war in einem kleinen Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs abgestiegen. Kurz nach der Ankunft setzte ich mich in das Hotelrestaurant, um bei einem Kaffee die bevorstehenden Aktionen durchzugehen und ein paar flankierende Notizen zu machen. Durch die Restaurantfenster konnte man auf die gegenüberliegende Hauswand blicken, an der Fassadenklettererfiguren aus Plastik befestigt waren. Solche Figuren kennt man ja vornehmlich aus der Adventszeit, wo sie als Weihnachtsmänner die Häuserfassaden „verzieren“. Diese hier jedoch waren einfache, unbekleidete Figuren in Rot und Blau, die irgendwie an Keith-Haring-Männchen erinnerten.

Kurz, nachdem ich mich gesetzt und den Kaffee bestellt hatte, kam ein schon recht betagter Herr zu mir an den Tisch, der sich als der Hoteleigentümer vorstellte und mir umgehend ungefragt mitteilte, er habe das Hotelmanagement an seinen Sohn abgegeben und schaue dem ganzen Betrieb nur noch so zu. Er fragte nach dem Zweck meines Hierseins und wie ich auf sein Hotel gekommen sei. Wir unterhielten uns ein wenig über Gott und die Welt. Dann fragte er unvermittelt, ob ich Jude sei. Ich zuckte zusammen und war zunächst völlig perplex. Was sollte diese Frage? Nach ein paar Sekunden hatte ich mich wieder gefangen und verneinte, stellte ihm aber die Gegenfrage, wie er dann darauf käme, ich könne Jude sein. Daraufhin verwies er auf meine große Nase. Nun ist das mit meiner Nase so, dass sie wirklich recht groß ist, allerdings keine sonderliche Krümmung aufweist, es sei denn man rechnet den Buckel des oberen Nasenrückens dazu. Die Nasenspitze ist jedoch keine Spitze sondern eher ein Knödel. Alles in allem ist meine Nase weder von vorn noch im Profil eine Schönheit. Aber sie fällt auf. Den breiten, buckligen Rücken hat sie von meinem Vater, der ihn wiederum von dem seinen und von seiner Mutter geerbt hat. Jedenfalls sind die charakteristischen Nasenzüge sowohl auf den Fotos von Opa Hugo als auch von Oma Grete auszumachen. Hugo starb im Herbst 1945 in einem Internierungslager der Roten Armee, Grete stammte aus einer alteingesessenen Großbauernfamilie. Der im Dritten Reich vorzulegende Stammbau geht zurück bis ins 18. Jahrhundert und befindet sich in meinem Besitz. Der Hotelbesitzer irrte also definitiv.
Er redete weiter, es habe damals viele Juden in der Stadt gegeben, die wären dann aber alle weggeschafft worden. Ihn hätten sie nicht gestört, es seien auch freundliche Leute darunter gewesen, und das hätte auch alles nicht sein müssen. Vieles wäre ja gut gewesen damals, aber das mit den Juden hätte man nicht machen sollen. Und das mit Auschwitz habe man ja nicht gewusst. Mir wurde immer unwohler. Warum erzählte er mir das? Ich hätte ihn unterbrechen sollen, ihm sagen, dass mir sein Nazigeschwurbele auf den Geist geht und ich nicht verstehe, wie man 60 Jahre nach dem Krieg noch solch eine Schwachsinn von sich geben kann. Statt dessen ließ ich ihn weiter faseln – wohl auch aus anerzogenem Respekt vor dem Alter - und dachte bei mir: Das also waren damals die Täter. Nie zuvor hatte ich mit einem Täter gesprochen. Im Osten war das bis 1990 ein Tabuthema. Da erwähnten ältere Lehrer höchstens mal, dass sie in der HJ oder im BDM waren. Mehr Aufklärung gab es nicht. Die Nazis waren eh die anderen, und das Dritte Reich hatte irgendwo bei Pipaponesien (© Lothar Kusche) gelegen. 
Nun hätte ich also die Gelegenheit nutzen können. Doch ich schaute nur betreten aus dem Restaurantfenster. Und einen Moment lang erschienen mir die Fassadenklettererfiguren wie die fliehenden Juden von Bayreuth.

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