Montag, 2. April 2012

Agamben und das Wünschen

Giorgio Agamben ist zweifelsohne populär. Seine Texte werden breit bespro­chen und vom Fachpublikum weidlich auseinander genommen. Ich mag sie trotzdem. Mir gefällt einfach sein Stil. Sein freier, spekulativer Umgang mit den Themen sagt mir mehr zu, als manches tiefschürfende Abarbeiten an der Faktizität des Gegenstands.
Das schmale Sammelbändchen Profanierungen[1] aus dem Jahr 2005 enthält fol­genden kurzen Text:

Wünschen
Wünschen ist das Einfachste und Menschlichste, was es gibt. Warum kön­nen wir uns dann ausgerechnet unsere Wünsche nicht eingestehen, warum fällt es uns so schwer, sie zur Spra­che zu bringen? So schwer so­gar, daß wir sie schließlich ver­borgen halten, irgendwo in uns eine Krypta für sie bauen, wo sie einbalsamiert liegen und warten. 
Wir können unsere Wünsche nicht zur Sprache bringen, weil sie Einbildun­gen von uns sind. Die Krypta enthält in Wirklichkeit nur Bilder, wie ein Buch für Kinder, die noch nicht lesen können, wie die Images d‘Epinal ei­nes Volkes, das weder lesen noch schreiben kann. Der Körper der Wün­sche ist ein Bild. Und was wir uns an einem Wunsch nicht eingestehen können, ist das Bild, das wir uns von ihm ge­macht haben.
Jemandem unsere Wünsche ohne die Bilder mitzuteilen ist brutal. Ihm unsere Bilder ohne die Wünsche mitzuteilen ist fad (wie das Erzählen von Träumen oder Reisen). Aber leicht in beiden Fällen. Die Wünsche als Ein­bildungen und die Bilder als Wünsche mitzuteilen ist die schwierigste Auf­gabe. Deshalb verschieben wir sie. Bis zu dem Augenblick, in dem wir zu verstehen beginnen, daß sie für immer unge­löst bleiben wird. Und daß der Wunsch, den wir uns nicht eingestehen können, wir selbst sind, für immer in der Krypta eingeschlossen.
Der Messias kommt wegen unserer Wünsche. Er trennt sie von den Bil­dern, um sie zu erfüllen. Oder eher, um zu zei­gen, daß sie schon erfüllt sind. Was wir uns eingebildet haben, haben wir schon bekommen. Uner­füllt — bleiben die Bilder des Erfüllten. Aus den erfüllten Wünschen baut er die Hölle, aus den unerfüllbaren Bildern den Limbus. Und aus dem eingebildeten Wunsch, dem reinen Wort, baut er die Seligkeit des Para­dieses.

Man kann diesen Text auch als Spekulation darüber lesen, warum wir uns einen Messias wünschen:
Paradies ist ein Wort für ein Bild, das in der Genesis wiederum mit Wor­ten beschrieben ist. Das Bild vom Paradies ist für uns also ausschließlich durch den Wortlaut der Genesis-Erzählung gegeben. Hinter der Sehnsucht nach dem Paradies verbirgt sich ein Wunsch, den wir uns nicht selbst einbil­den wie unsere anderen Wünsche, sondern dessen Einbildung uns die Bibel (wie auch der Khoran) im Wort vom Paradies vorgibt. Denn: Im Anfang war das Wort. 
Profanierung des Wünschens hieße dann, sich von der definitorischen, bildne­rischen Macht des gegebenen Wortes frei zu machen und seine Wunschbilder selbst in die Worte zu fassen, die es dem Messias am Ende der Zeit ermögli­chen, jedem von uns sein eigenes Paradies zu übergeben.


[1] Giorgio Agamben, Profanierungen, Suhrkamp 2005

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