Sonntag, 12. März 2023

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung.
Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft
gibt ihm seinen Sinn und seine Gerechtigkeit.
Carl Schmitt


Der nun schon über ein Jahr andauernde Krieg in der Ukraine wird uns von politischer und sonstiger öffentlicher Seite als Krieg zwischen zwei souveränen Nationalstaaten unter Einsatz regulärer Streitkräfte, als zwischenstaatlicher Krieg präsentiert: Die ukrainische Armee kämpft gegen die russische. Aber ist das wirklich so einfach?

Diese Frage ist alles andere als irrelevant, denn von ihrer Beantwortung hängt ab, inwiefern auf diesen Krieg, auf die kämpfenden Seiten und auf die kämpfenden Personen das klassische Kriegsrecht in Gestalt der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention, vollumfänglich anwendbar ist.

Ich denke, weder für die ukrainische noch für die russische Seite kann diese Frage mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Dazu ist die Gemengelage von bewaffneten Einheiten, kämpfendem Personal sowie eingesetzten Waffen und nichtmilitärischen Mitteln zu unübersichtlich. Offensichtlich wird der Krieg auf beiden Seiten hybrid geführt, also unter Einsatz von regulären und irregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nichtmilitärischen Mitteln. Hinzu kommt, dass er nach meinem Dafürhalten eher den Charakter eines Bürgerkrieges hat. Nicht nur, weil Putin bereits vor dem Angriff die Ukraine und deren Bevölkerung zum historisch angestammten Teil Russlands erklärt hat, sondern auch, weil es sich faktisch um zweierlei Sezessionskrieg handelt. Zum einen wird mit Unterstützung Russlands in der Ostukraine seit 2014 ein mehr oder weniger offener Sezessionskrieg zur Ablösung des Donbas vom ukrainischen Staat geführt, zum anderen hatte der Angriff der russischen Armee am 24. Februar 2022 zum Ziel, eine seinerzeit friedlich verlaufene Sezession, die Herauslösung der Ukraine aus der Sowjetunion, mit militärischen Mitteln rückgängig zu machen. Aus Sicht der Ukraine ist der Krieg mithin ein um 30 Jahre „verspäteter“ Sezessionskrieg.

Der Charakter des Krieges als „versteckter“ Bürgerkrieg erklärt, jedenfalls in Teilen, die unglaubliche Brutalität der Kriegsführung, von der wir im Westen ja nur den russischen Anteil zu Gehör und zu Gesicht bekommen. Auf beiden Seiten agieren irreguläre Verbände, von denen die Wagner-Gruppe und das Asow-Regiment (im Stahlwerk Mariupol zerrieben) nur die bekanntesten sind. Auch die Separatistenverbände im Donbas sind irregulär, ebenso wie diverse, nur selten thematisierte ultranationalistische Freiwilligenkorps auf ukrainischer Seite. Irreguläre militärische Einheiten neigen, da meist leichter und schlechter bewaffnet als reguläre Truppen, zum Partisanentum. Auch wenn der Begriff des Partisanen etwas altmodisch erscheint - inzwischen wurde er vom Begriff des Terroristen abgelöst, scheint er mir doch der angemessene zu sein, um einerseits Erklärungen für die Art der Kriegsführung zu finden und andererseits Überlegungen über einen möglichen weiteren Verlauf des Krieges bis zu seiner möglichst baldigen Beendigung anzustellen.

Der moderne Partisan“, schrieb Carl Schmitt 1963, „erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung steigert.“ Ausdrücklich macht Schmitt diese Aussage auch für den Bürgerkrieg geltend. Dass dies berechtigt ist, haben nicht zuletzt die Balkankriege der 1990er Jahre gezeigt. Die zitierte Aussage entstammt der Schrift „Theorie des Partisanen“1 (TP). In dieser stellt Schmitt Überlegungen zum Charakter des modernen, entgrenzten Krieges zwischen Kombattanten an, die das klassische Kriegsrecht nicht oder kaum noch einhalten, also nahezu aller Kriege nach dem 1. Weltkrieg, die mir angesichts des Kampfgeschehens in der Ukraine höchst, um nicht zu sagen erschreckend aktuell zu sein scheinen.

Schon vor dieser Schrift hatte Carl Schmitt die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts als Weltbürgerkrieg gedeutet, in dem es nicht um Ideologien, sondern nur noch um die Verteilung von Ressourcen geht. Nachdem mit dem Untergang der Sowjetunion der Weltbürgerkrieg offiziell für beendet erklärt und das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, erleben wir inzwischen sein offenes Wiederaufflammen, begleitet von vertrauten ideologischen Verbrämungen ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Wieder geht es um die Verteidigung des Westens, der freien Welt, der liberalen Demokratie gegen die Ansprüche autoritärer, totalitärer, diktatorischer Regime, nur dass diese, bis auf das chinesische und das nordkoreanische keine kommunistischen mehr sind. Und wieder verteidigt sich der Osten gegen die Weltherrschaftsansprüche der USA und die moralische Verkommenheit des Westens. Schmitts damalige, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gemachte Feststellung aber gilt heute noch mehr als damals: In letzter Konsequenz geht es um die Verfügung über endliche Ressourcen und die Verteilung endlicher Märkte im Rahmen eines global durchgesetzten Wirtschaftssystem, das auf unendliches Wachstum angelegt ist.

Doch zurück zum Partisanen. Nach Schmitt ist dieser ein Produkt bürgerlicher, später imperialistischer Eroberungskriege, beginnend mit dem spanischen Guerilla-Krieg gegen Napoleon 1808-1813. Im preußischen Landsturmedikt von 1813 wurde dem Partisanen vom König höchstselbst Legitimität zugesprochen: „Jeder Staatsbürger … ist verpflichtet, sich dem eindringenden Feind mit Waffen aller Art zu widersetzen.“ (TP, S. 47) Clausewitz übernahm diese Legitimation des Partisanen in sein posthum erschienenes Standardwerk „Vom Kriege“. Der legitime Verteidiger der Heimat gegen den Eroberer ist jedoch nur eine Gestalt des Partisanen. Im Weltbürgerkrieg (bis 1989) tritt er in einer weiteren Gestalt auf, der des „weltaggressiven, revolutionären Aktivisten“ (TP, S. 35). „Wo der Krieg auf beiden Seiten als ein nicht-diskriminierender Krieg von Staat zu Staat geführt wird, ist der Partisan eine Randfigur, die den Rahmen des Krieges nicht sprengt und die Gesamtstruktur des politischen Vorgangs nicht verändert.“, schreibt Schmitt. Und weiter: „Wird aber mit Kriminalisierungen des Kriegsgegners im ganzen gekämpft, wird der Krieg z.B. als Bürgerkrieg vom Klassenfeind gegen einen Klassenfeind geführt, ist sein Hauptziel die Beseitigung der Regierung des feindlichen Staates, dann wirkt sich die revolutionäre Sprengwirkung der Kriminalisierung des Feindes in der Weise aus, dass der Partisan zum wahren Helden des Krieges wird. Er vollstreckt das Todesurteil gegen den Verbrecher und riskiert seinerseits, als Verbrecher oder Schädling behandelt zu werden.“ (TP, S. 35f) Hier nun sind wir ganz nahe an dem, was das Kriegsgeschehen in der Ukraine ausmacht. Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, bedarf es noch einer Erläuterung hinsichtlich des Partisanen als „revolutionärem Aktivist“.

Carl Schmitt hat sehr luzide beobachtet, dass bereits vor der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch in dem an diese anschließenden russischen Bürgerkrieg der Berufsrevolutionär, wie Lenin ihn nannte, als Partisan im nationalen und internationalen Bürgerkrieg agiert. „Nur der revolutionäre Krieg ist für Lenin wahrer Krieg, weil er aus absoluter Feindschaft entspringt. Alles andere ist konventionelles Spiel… Sein konkreter absoluter Feind war der Klassenfeind, der Bourgeois, der westliche Kapitalist und dessen Gesellschaftsordnung in jedem Lande, in dem sie herrschte.“ (TP, S. 56) Im Großen Vaterländischen Krieg war es Lenins Nachfolger Stalin gelungen, die beiden beschriebenen Typen des Partisanen, den Verteidiger der Heimat und den Weltrevolutionär, zu verbinden.

Dass die Ukrainer aufgrund ihrer quantitativen und bislang auch waffentechnischen Unterlegenheit z. T. gezwungen sind, einen Partisanenkrieg gegen die Russen zu führen bzw. für einen Partisanenkrieg typische Taktiken anzuwenden, ist nur allzu offensichtlich. Gleichwohl bewegt sich auch die russische Seite in diesem Narrativ, das sich aus der von Schmitt beschriebenen leninschen und stalinschen Traditionslinie speist und anscheinend auch in der russischen Bevölkerung noch tief verankert ist. Zwar ist von Revolution natürlich keine Rede mehr, doch Putins Propaganda beschwört das immer gleiche Feindbild: Der Westen, der Russland zu umklammern sucht, wird zum „absoluten Feind“ erklärt, die von ihm unterstützte ukrainische Regierung wird als nazistisch kriminalisiert, mithin auch jeder, der für die Ukraine kämpft. Deshalb ist es, folgt man Lenin, auch geradezu geboten, „sich ohne Dogmatismus oder vorgefaßte Prinzipien … anderer, legaler oder illegaler, friedlicher oder gewaltsamer, regulärer oder irregulärer Mittel und Methoden nach Lage der Sache“ zu bedienen (TP, S. 54). In der Traditionslinie des hybrid geführten Befreiungskriegs gegen Nazideutschland, in dem reguläre Truppen und Partisanenverbände, zumal auf ukrainischem und belorussischem Territorium, häufig koordiniert gegen den Feind vorgingen, kommen im aktuellen Krieg auf russischer Seite sowohl reguläre als auch irreguläre Verbände zum Einsatz, während das ukrainische Hinterland „nach Lage der Sache“ aus der Luft terrorisiert wird.

Welche Erkenntnisse lassen sich nun daraus über der weiteren Verlauf und ein mögliches Ende des Krieges gewinnen? Beide kriegführenden Seiten haben es auf der jeweils anderen mit Partisanen zu tun. Partisanen jedoch kann man nur mit Partisanenmethoden bekämpfen, so dass der Krieg, wenn er so weitergeht, zu einem Partisanenkrieg werden könnte. Hier ein mögliches Szenario: Schon jetzt ist ja von einem möglicherweise lang andauernden Abnutzungskrieg die Rede. Je länger die waffentechnische und die moralische Abnutzung auf russischer Seite andauert, desto stärker wird auch in deren Kampfhandlungen das partisanische Element. In den Straßen von Donezk und anderen Städten des Donbas werden sich zunehmend „nach Lage der Sache“ vermischte, aus regulären und irregulären Kämpfern bestehende Verbände gegenüber stehen. Ob die ukrainischen Verbände sich dauerhaft ihre „Zivilität“ bewahren werden, sei einmal dahin gestellt. In den zähen Kämpfen dieser Verbände werden alle, auch die grausamsten Mittel eingesetzt, denn es wird nicht mehr um Sieg oder Niederlage im Krieg gehen, sondern nur noch um das nackte Überleben der Kämpfenden. Angesichts der dabei auf beiden Seiten begangenen Verbrechen wird, so die Hoffnung, der internationale politische und moralische Druck auf die ursprünglichen Kriegsparteien so stark, dass diese sich genötigt sehen, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Ob es so kommt, ist ungewiss. Spekulation allenthalben.

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1 Carl Schmitt. Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 2002 (1963)


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