Mittwoch, 19. Juni 2024

Cui Bono? Zum Zweiten

 Betrachtungen nach der Europawahl 2024

Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn.
10 Prozent sicher, und man kann es überall anwenden;
20 Prozent, es wird lebhaft;
50 Prozent, positiv waghalsig;
für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß;
300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.

Karl Marx

Bei der Europawahl am 9. Juni erzielte die AfD mit 15,9 % zwar ein Ergebnis, das, je nach eigener politischer Positionierung, unter den Erwartungen oder unter den Befürchtungen lag, immerhin weit entfernt von den 31,4 % des französischen Rassemblement National (RN) oder den 28,8 % der Fratelli d'Italia (FI), nichtsdestotrotz ist man alarmiert, denn

  • die AfD wurde zweitstärkste Partei in Deutschland insgesamt,
  • sie wurde stärkste Partei in den fünf ostdeutschen Ländern sowie bei den gleichzeitig abgehaltenen Kommunalwahlen in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt,
  • die linke Mitte (SPD, Grüne) brach dramatisch ein,
  • Sahra Wagenknechts „linke“ Renegatenpartei holte gerade einmal 160.000 Stimmen von der AfD, von SPD und Linker zusammen jedoch über eine Million.

Die AfD sowie die o. g. RN und FI werden gemeinhin, für meine Begriffe verharmlosend, als rechtspopulistische Parteien bezeichnet – Habermas nannte sie 2016  den „Saatboden für einen neuen Faschismus“. Populistisch meint so viel wie volksnah, wobei die Parteien stets selbst definieren, was Volk ist und wer dazu gehört. Dieser Aspekt ist publizistisch hinreichend beleuchtet worden und braucht hier nicht thematisiert zu werden. Im Folgenden soll stattdessen auf zwei Fragen eingegangen werden, die m. E. von Bedeutung für den Umgang mit den Rechtspopulisten sind. Das ist zum einen die Frage danach, von wem und warum sie gewählt werden, und zum anderen die, wessen Interessen sie objektiv vertreten. Letztere wurde bereits 2019 im Blogpost Cui Bono? behandelt und soll nun weiter vertieft werden.

Die alte und die neue Mittelklasse

In der 2019 erschienene Aufsatzsammlung „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ des Soziologen Andreas Reckwitz[1] widmet sich der zweite Aufsatz einer Klassentheorie. Unter der Überschrift „Von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft: Neue Mittelklasse, alte Mittelklasse, prekäre Klasse“ analysiert Reckwitz die sich seit den 1970er Jahren langsam aber stetig vollziehende Ausdifferenzierung der westlichen Gesellschaften in drei sozioökonomisch und soziokulturell unterschiedene Klassen. Dass dieser Unterscheidung keine marxistische Klassendefinition zu Grunde liegt, ist dem Autor wohl bewusst, wie er in einer Fußnote anmerkt. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, seien Reckwitz´ Überlegungen hier kurz referiert.

Zunächst diagnostiziert Reckwitz drei maßgebliche Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte:

  1. Den Wandel von der Industriegesellschaft der Nachkriegsperiode bis etwa 1973/74 hin zur postindustriellen Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch die Verlagerung industrieller Produktionskapazitäten in die Schwellen- und vormaligen Entwicklungsländer im Zuge der beschleunigten Globalisierung  seit den 1990er Jahren, die einerseits zu einer Deindustrialisierung und dementsprechend zum Schrumpfen des klassischen Industrieproletariats und anderseits zur Ausweitung der Dienstleistungssektoren geführt hat.
  2. Die Bildungsexpansion, die, auch durch das Aufstiegsversprechen der Sozialdemokratie, dazu geführt hat, dass heute mehr Menschen einen akademischen Abschluss anstreben als eine klassische Berufsausbildung.
  3. Den Wertewandel in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem in dem durch die Bildungsexpansion angewachsenen akademischen Milieus, weg von einem kulturell relativ homogenen Kommunitarismus hin zu einem universalistischen und multikulturellen Kosmopolitismus.

Diese, natürlich eng miteinander verzahnten Entwicklungen haben nach Reckwitz die sozioökonomisch unterhalb der Oberschicht der Superreichen angesiedelten 99 % der Bevölkerung der westlichen Nationalstaaten in drei Klassen aufgespalten – neue Mittelklasse, neue Unterklasse und, zwischen ihnen, alte Mittelklasse.

Die neue Mittelklasse, die zugleich eine Akademikerklasse ist, befindet sich im Zentrum aller drei genannten ökonomisch-kulturellen Wandlungsprozesse und stellt sich damit als die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte dar. Sie ist die Trägerin der Bildungsexpansion ebenso wie der Postindustrialisierung, in deren Wissensökonomie sie in der Regel beschäftigt ist. Zugleich ist sie die wichtigste Vertreterin des mit dem Wertewandel verknüpften Liberalisierungsprozesses.  

Die neue Unterklasse wird gebildet von den Verlierern der Deindustrialisierung und der Bildungsexpansion, von denen, die seit den 1980er Jahren aus der alten Mittelschicht herausgefallen sind oder noch nie dazu gehörten. Diese Gruppe findet sich vor allem in deindustrialisierten, strukturschwachen Regionen, ob in Nordfrankreich, dem Mittleren Westen der USA oder Teilen Ostdeutschlands. Ein anderer, wichtiger Teil der prekären Klasse ist das sogenannte Dienstleistungsproletariat (bspw. Care-Arbeit, Logistik, Lieferdienste). Diese ist konzentriert auf die Metropolregionen, die die entsprechenden Arbeitsplätze in großer Zahl anbieten.

Die alte Mittelklasse ist, was von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft (Helmut Schelsky) der 1950er und 1960er Jahre übriggeblieben ist. Die alte Mittelklasse umfasst vor allem Personen in mittleren beruflichen Positionen mit mittleren Bildungsabschlüssen: Facharbeiter, Angestellte mit Berufsausbildung, die klassische Büro- und Dienstleistungstätigkeiten ausüben, Beamte im mittleren Dienst, selbständige Handwerker. Ökonomisch sind die Angehörigen dieser Gruppe, anders als die der neuen Unterklasse, nicht abgehängt, wenn sie auch nicht zu den Gewinnern der Wandlungsprozesse zu zählen sind, sondern sich selbst eher auf der Verliererseite verorten. Allerdings, und das ist höchst relevant, empfinden sie sich häufig als soziokulturell und politisch unterprivilegiert. Im Unterschied zur auf die Metropolregionen konzentrierten neuen ballt sich die alte Mittelklasse in den Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen Raum. Dazu Reckwitz:

Wichtiger noch als ihr materieller Status ist aber die Tatsache, dass die alte Mittelklasse kulturell in die Defensive geraten ist: Ihre Lebensprinzipien haben ihre vormalige gesellschaftliche Dominanz verloren und ihre Lebenswelten verlagern sich vom gesellschaftlichen Zentrum an die Peripherie. Hier wirken mehrere Dimensionen einer mehr oder minder subtilen kulturellen Entwertung. Man leidet nicht unbedingt unter einer objektiv schlechten Situation, sondern unter einer, die sich im Vergleich zur Vergangenheit und zur neuen Mittelklasse gefühlt relativ verschlechtert hat…

Diese alte Mittelklasse ist das potenzielle Wählerreservoir der AfD und anderer populistischer Parteien, ergänzt um jenen Teil der prekären Klasse, der überhaupt noch politisch interessiert ist und an Wahlen teilnimmt.  Ihre Sorgen (um sozioökonomischen Abstieg, kulturelle Überfremdung, Fremdbestimmung durch abgehobene Eliten, Verfall der Sitten etc.) und Ressentiments werden passgenau bedient, wenn nicht gar bewusst geschürt. Es genügt ein Blick in das Grundsatz- und das EU-Wahlprogramm der AfD, worauf zurückzukommen sein wird.

Nun wird man einwenden, dass es im Osten jene breite Mittelschicht der alten Bundesrepublik ja nie gegeben habe, und das stimmt auch. Was es allerdings gegeben hat, war das Versprechen, mit der deutschen Einheit in diese aufgenommen zu werden, just zu der Zeit, als sie bereits am Verschwinden war. Dieses Versprechen traf auf eine, trotz sozialistischer Propaganda, in weiten Teilen kleinbürgerlich sozialisierte Bevölkerung („das Land der kleinen Leute“, wie Günther Gauß es nannte), in der die Werte der alten Mittelklasse - Fleiß, Selbstdisziplin, Ordnung und, vor allem in den soziokulturell eher traditionellen Regionen Sachsens und Thüringens (einschl. des Südens von Sachsen-Anhalt), Familienzusammenhalt sowie räumliche und soziale Verwurzelung – mindestens genauso lebensbestimmend waren wie im Westen. Es ist nur zu verständlich, dass in diesen Milieus nun weder eine akademische und kosmopolitische Linke (Sahra Wagenknechts „Selbstgerechte“) noch eine ihre einstmalige Stammwählerschaft - die hart arbeitende Mittelschicht - zugunsten der neuen Unterklasse verraten habende Sozialdemokratie mit Zustimmung in Form von Wählerstimmen rechnen können.

Wem nützt es?

Im Blogpost Cui Bono? wurde geltend gemacht, dass die AfD eine bürgerliche Partei in zweierlei Hinsicht ist. Sie ist zum einen, wie wir gesehen haben, eine Partei des Kleinbürgertums der alten Mittelklasse. In dieser Rolle ist sie nicht die einzige Partei – auch und sogar mehr noch erheben CDU und CSU diesen Anspruch als traditionelle Volksparteien der Mitte, was sich auch in den z. T. erbittert geführten parteiinternen Auseinandersetzungen um „Brandmauern nach rechts“ zeigt. Zum anderen wirkt die AfD, wie letztlich alle bürgerlichen Parteien, systemstabilisierend, indem sie die latente und zuweilen akute (siehe Corona) Protesthaltung des sich aus welchen Gründen auch immer benachteiligt fühlenden Kleinbürgers aufnimmt und in eine aus Sicht des Kapitals das Wirtschaftssystem nicht gefährdende Richtung lenkt, denn solange mit denen da oben, den Eliten, nicht die Kapitaleigner und Manager gemeint sind, besteht für diese keine Gefahr. Besonders deutlich wird dies in der energie-, umwelt- und verkehrspolitischen Programmatik der Partei.

Das Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2016 behandelt in 14 Kapiteln die Themen Demokratie und Grundwerte, Europa und EURO, Innere Sicherheit und Justiz, Außen- und Sicherheitspolitik, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Familien und Kinder, Kultur, Sprache und Identität, Schule, Hochschule und Forschung, Einwanderung, Integration und Asyl, Wirtschaft, digitale Welt und Verbraucherschutz, Finanzen und Steuern, Energiepolitik, Natur- und Umweltschutz, Land- und Forstwirtschaft, Infrastruktur, Wohnen und Verkehr. Die grundlegend vertretenen und den parteilichen Zusammenhalt stiftenden Werte werden bereits in der Präambel verdeutlicht.

Als freie Bürger treten wir ein für direkte Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft, Subsidiarität, Föderalismus, Familie und die gelebte Tradition der deutschen Kultur.

Man sieht sich in der Tradition der Revolutionen von 1848 (Nationalstaat von unten) und 1989 (Wir sind das Volk.), gibt diesem Bezug aber die bekannte völkische Note.

Wir sind offen gegenüber der Welt, wollen aber Deutsche sein und bleiben. Wir wollen die Würde des Menschen, die Familie mit Kindern, unsere abendländische christliche Kultur, unsere Sprache und Tradition in einem friedlichen, demokratischen und souveränen Nationalstaat des deutschen Volkes dauerhaft erhalten.

Bis zum Kapitel 12 Energiepolitik findet sich im Grundsatzprogramm kaum eine Position, die nicht in dieser oder jener Art auch von einer x-beliebigen national- oder wertekonservativen Partei vertreten werden könnte (zum Konservatismus siehe den Blogpost Cui Bono?), zumal einige der Forderungen zur Asyl- und Einwanderungspolitik in Kapitel 9 inzwischen von den Parteien der Mitte übernommen wurden. Bei der Energiepolitik allerdings wird es interessant. Zunächst geht es massiv gegen den Klimaschutz.

Unter dem Schlagwort „Klimaneutrales Deutschland 2050“ durch „Dekarbonisierung“ missbraucht die deutsche Regierung die steigende CO2-Konzentration zur „Großen Transformation“ der Gesellschaft, mit der Folge, dass die persönliche und wirtschaftliche Freiheit massiv eingeschränkt wird.

Anschließend wird die Abschaffung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und des  Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes gefordert, wobei letzteres inzwischen wirklich außer Kraft gesetzt und durch das Gebäudeenergiegesetz ersetzt wurde, und es werden Bioenergie negativ sowie Fracking und Kernenergie positiv thematisiert. Wie sehr sich die AfD seither auch auf dem Feld der Energie- und Klimapolitik radikalisiert hat, zeigt ihr Programm zur Europawahl 2024. Ebenfalls im Kapitel 12 Klima, Energie und Digitalisierung findet man die folgenden Ausführungen.

Fossile Energieträger waren und sind die Grundlage unseres Wohlstands. Die Behauptung einer Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie ist vielmehr eine politische Agenda zur Besteuerung der Luft zum Atmen und damit der Durchsetzung gesellschaftlicher Umgestaltungen (Große Transformation). Es ist ein ökosozialistisches Projekt, welches zwangsläufig zur dramatischen Reduktion des Wohlstandes und zur totalitären Freiheitseinschränkung führt. Der jetzt schon schwindende Wohlstand und unsere mangelnde Zukunftsfähigkeit sind eine direkte Folge der aus rein politischen Gründen betriebenen Dekarbonisierung. Befangen in der Ideologie der großen Gesellschaftstransformation, begibt sich die EU immer stärker auf einen internationalen Sonderweg. Der globale Haupttreiber dieser fatalen Ideologie sind die nicht demokratisch legitimierten Brüsseler Bürokraten mit ihrem Green Deal.

Das Maßnahmenpaket „Fit for 55“ der EU-Kommission, mit dem die Reduktion des CO2-Ausstoßes um 55 % bis 2030 erreicht werden soll, wird als ökosozialistische Umverteilung apostrophiert.

Mittels der medial befeuerten Klimakatastrophen-Vorhersage will „Fit für 55“ nicht nur eine Energiewende, sondern auch eine Konsumwende, eine Ressourcenwende, eine Mobilitätswende, eine Ernährungswende und eine industrielle Wende umsetzen. Das geplante Verbot von Öl- und Gasheizungen ist ein schwerer Eingriff in die Eigentums- und Grundrechte der Bürger, den die AfD politisch bekämpft.

Es folgt eine Liste von Forderungen, die wohl jeden Ökoaktivisten schaudern lassen.

    • Abschaffung aller Klimaschutzgesetze auf nationaler und europäischer Ebene sowie Stopp der Programme „Green Deal“, „Fit für 55“ und anderer CO₂-Reduktionspläne der Brüsseler Bürokraten.
    • Abschaffung des EU-Emissionshandels und kein „CO₂-Ausgleich“ an den EU-Außengrenzen.
    • Renationalisierung der Energiepolitik.
    • Jeder Staat muss seine Versorgung mit Strom selbst sicherstellen.
    • Streichung der Subventionen für die volatile Solar- und Windenergie.
    • Diversifizierung der Energielieferanten (Staaten und Techniken).
    • Aufklärung der Nord-Stream-Anschläge und Reparatur der beschädigten Leitungen.
    • Kernenergieforschung wieder aufnehmen. Deutschland und Europa müssen wieder zu den führenden Anbietern im Bereich der Kernenergie werden. Gerade mit Blick auf den politisch herbeigeführten Abbau von deutschen industriellen Fähigkeiten im Bereich der Kerntechnik sind hierfür europäische und internationale Forschungskooperationen anzustreben.
    • Wiederaufnahme der Stromproduktion in den sechs seit dem Ende des Jahres 2021 außer Dienst gestellten deutschen Kernkraftwerken.
    • Regulatorische Benachteiligung von Kernenergie aufheben (z. B. Taxonomie).
    • Kohleverstromung (inkl. Braunkohle) erhalten, mindestens bis ausreichend Kernreaktoren am Netz sind.

Nicht unerwartet wird ähnliches im Kapitel 9 des Wahlprogramms zur Verkehrspolitik gefordert.

Die AfD unterstützt und fördert den motorisierten Individualverkehr als beliebteste und modernste Möglichkeit der Fortbewegung. Intelligente Technik und stauvermeidende Verkehrsführung schützen dabei die Umwelt. Wissenschaftlich mangelhaft begründete Maßnahmen, wie z. B. Dieselfahrverbote oder die Einrichtung von Umweltspuren, erreichen dies nicht. Gleichzeitig fordert die AfD den Erhalt und Ausbau von innerstädtischen Fahrspuren und Parkraum zur Vermeidung von wachsendem Verkehrschaos sowie zum Schutz der Attraktivität des Einzelhandels. Die AfD lehnt ein generelles Tempolimit auf Bundesautobahnen strikt ab.

Das soll genügen, es geht hier auch nicht um jedes Detail. Die grundsätzliche Tendenz der AfD-Positionen ist hinreichend erkennbar. Und es sollte auch erkennbar sein, dass die Partei sich mit ihren Forderungen nur vordergründig als Sachwalterin der kurzfristigen subjektiven Interessen ihrer potenziellen Wählerschaft aus den Reihen der alten Mittelklasse und der prekären Klasse stilisiert. Sollte sie auf EU-Ebene im Bunde mit anderen Parteien des rechtspopulistischen Spektrums, womöglich aber auch zusammen mit linkspopulistischen Parteien wie dem BSW an Einfluss gewinnen, würde sie objektiv zur parlamentarischen Stütze nicht der alten Mittelklasse, sondern der alten fossilen Industrien, der Energiekonzerne, der Gas- und Kohleverstromer und der von ihnen abhängigen energieintensiven Produzenten von Stahl, Aluminium oder Zement.

Vielleicht ist das von ihr gar nicht beabsichtigt, auch wenn es so aussieht, als hätten einige ihrer Mandatsträger eine gewisse Nähe zu ausländischen Unternehmungen des fossilen Sektors. Noch meidet die deutsche Wirtschaft die Nähe zur Partei. 2020 kamen lediglich 19% des Parteibudgets aus Spenden[2]. Das kann sich jedoch schnell ändern, wenn, siehe Eingangszitat, die entsprechende Profirate zu erwarten ist. Auch die Nationalsozialisten wurden erst seit dem Februar 1933, kurz vor der „Machtergreifung“, signifikant von der deutschen Großindustrie unterstützt.

***

Die Alternative für Deutschland ist eine große Mogelpackung. Außer einem antiquierten Nationalismus á la Trumps MAGA, nur eben in schäbigem völkisch-deutschen Gewand, hat sie keinen „Markenkern“. Den intelligenteren unter ihren exponierten Vertretern wie Alice Weidel oder Mark Jongen nimmt man nicht einmal ab, dass sie ernsthaft hinter ihren eigenen kruden Einlassungen stehen. In ihren vorderen Reihen sieht man keine Überzeugungstäter, stattdessen einen Haufen politischer Glücksritter, die auf dem Ticket eines regressiven Zeitgeists[3] zu Mandaten, Ämtern und Pöstchen kommen wollen. Die Folgen des so ermogelten Erfolgs haben vorerst die armen Würstchen in der Kommunalpolitik zu tragen, wie jener Robert Sesselmann, der nach den Höhen des Wahlkampfs als Landrat des Kreises Sonneberg seit nunmehr einem Jahr die Mühen der realbürokratischen Ebene erleben darf.

Sollte diese Diagnose korrekt sein, wäre das ein gute Nachricht, wenn auch keine beruhigende.


[1]    Andreas Reckwitz. Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp 2019

[3] Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Hrsg. Heinrich Geiselberger. Suhrkamp 2017

Montag, 22. April 2024

Die kommende Gemeinschaft. Teil 4

Kommunitarismus - Die Ethik der Gemeinschaft

Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein,
die gerade deshalb eine ist, weil jedes ihrer Mitglieder ganz auf
sich allein gestellt gegen das Alleinsein kämpft.
Zygmunt Bauman

Nimmt man die Ausführungen zur Subjektkonstitution im vorangegangenen Teil 3 dieser Aufsatzreihe auch nur ansatzweise ernst, so wird klar, wie absurd und realitätsfern die politische Theorie des Neoliberalismus mit samt ihrer individualistisch-utilitaristischen Ethik der allen sozialen Bindungen enthobenen Verfolgung individueller Präferenzen in Wahrheit ist. Stattdessen hat sich gezeigt, und das sollte eigentlich jedem von uns schon intuitiv einsichtig sein, dass die Person, dass der individuelle Mensch außerhalb sozialer Beziehungen und Zusammenhänge zwar denkbar ist, ein solches Denkkonstrukt aber bestenfalls eine zweckgebundene Abstraktion im Kontext vulgär-ökonomischer Theorien darstellt und keinerlei Bezug zur realen Lebenswelt hat.

Wie wir gesehen haben, war bereits Marx Mitte des 19. Jahrhunderts zu dieser Erkenntnis gelangt (8. Feuerbachthese, Deutsche Ideologie), und G. H. Mead hatte sie Anfang des 20. Jahrhunderts, unabhängig von Marx, sozialphilosophisch begründet. Beide Denker waren jedoch nicht die ersten. Bereits Aristoteles beschreibt den Menschen als zoon politicon, als politisches Tier, eingebettet in die Gemeinschaft der antiken Polis. Für ihn ist ein Leben des Einzelnen ohne dessen aktive Mitwirkung an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse kein gutes Leben. Hegel hätte einem solchen Menschen, also einem, der das Leben wesentlich nur erträgt und nicht gestaltet, wohl ein „unglückliches Bewusstsein“ attestiert (Phänomenologie des Geistes, IV, B).

Kommunitaristische Kritik am neoliberalen Menschenbild

Der Kommunitarismus entstand in den 1980er Jahren als politikphilosophischer Gegenentwurf sowohl zum sich seinerzeit durchsetzenden Neoliberalismus als auch zur einflussreichen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (A Theory of Justice, 1971). Beide, Neoliberalismus wie Rawls´ theoretische Konstruktion, gehen aus vom Individuum und dessen partikularen Interessen, sie setzen ein ganz bestimmtes, vom Utilitarismus geprägtes Menschenbild voraus, nämlich das eines ungebundenen, quasi freischwebenden Selbst, das seine Handlungsentscheidungen unabhängig davon trifft, in welche konkreten sozialen Kontexte und Beziehungen es eingebunden ist, welcher Kulturgemeinschaft es angehört oder welche Verpflichtungen es gegenüber seinen Mitmenschen hat, kurzum, einer Person, die, um es mit einem Heideggerschen Begriff zu benennen, nirgendwohin „geworfen“ ist. Dass ein solches Theoriekonstrukt idealistisch, ahistorisch und in seinen Prämissen nicht haltbar ist, wurde bei der Diskussion der Subjektkonstitution (siehe Teil 3) hinlänglich nachgewiesen.

In seinem Buch „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982) hat der amerikanische Philosoph Michael Sandel das Konzept von Rawls einer ähnlich gelagerten Kritik unterzogen. Aus seiner Sicht führt die Vorstellung vom ungebundenen Selbst zur Vorstellung von einer Person ohne jeglichen Charakter und, da sich der Charakter einer Person nur in sozialen Kontexten, innerhalb eines vorhandenen normativen Rahmens sowie in individuellen und gemeinschaftlichen Handlungserfahrungen bildet, ohne jegliche Moral. Damit einher geht die Kritik des im Westen vorherrschenden negativen Freiheitsbegriffs, unter dem gemeinhin der Schutz des Einzelnen vor den möglichen Ansprüchen der Mehrheit verstanden wird. Dagegen bringt Sandel einen positiven, bürgerschaftlichen Freiheitsbegriff in Anschlag, nach dem Freiheit gerade daran besteht, in gemeinschaftlichen Beratungen, Aushandlungen und Aktionen Dinge mit seinen Mitmenschen zu bewerkstelligen und nicht gegen sie.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor (der akademische Lehrer Sandels) argumentiert in ähnlicher Weise, „dass der Mensch außerhalb einer Sprachgemeinschaft und einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Gut und Böse, gerecht und ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt“ sein kann.[1] Dagegen verfolgt Taylor eine soziale Konzeption des Menschen, die, angewendet bspw. auf die Migrationspolitik, zu interessanten Implikationen führen kann. Nach Taylor nämlich haben Personen Rechte nur innerhalb einer Gemeinschaft, nur als Mitglieder dieser Gemeinschaft. Daraus ergibt sich für den Einzelnen die Verpflichtung dazuzugehören.[2] In Auseinandersetzung mit Isaiah Berlin argumentiert auch Taylor für einen positiven Begriff von politischer Freiheit, die er mit „kollektiver Selbstregierung“ identifiziert.

Auch Michael Walzer beginnt seine kommunitaristische Gerechtigkeitstheorie mit der Kritik am neoliberalen Menschenbild, das aus seiner Sicht eine Verzerrung der Realität darstellt, indem es einen Konkurrenzkampf aller gegen alle suggeriert, der unweigerlich zum Zerfall der Gesellschaft führen muss.[3] Mit ihrem Statement: „There ist no such thing as society.“ hatte einst Margret Thatcher dem zugehörigen Ideologem griffigen Ausdruck verliehen. Inzwischen macht sich der gesellschaftliche Zerfall nicht nur in Nordamerika, wo er am offensichtlichsten ist, bemerkbar, auch hierzulande haben wir es mit einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) zu tun. Zygmunt Bauman sieht darin gar einen Weg „zurück zu Hobbes“, wenn er schreibt: „So, wie es sich für uns anfühlt, ... ist unsere gegenwärtige Welt – eine Welt zunehmend schwindender Bindungen, der Deregulierung und Atomisierung politischer Strukturen, der Trennung von Politik und Macht – abermals Schauplatz eines Krieges aller gegen alle … geworden.“[4] Dagegen stellt sich Michael Walzer. Ihm zufolge steht nicht das Individuum im Zentrum der politischen Theorie, „sondern die Verbindungen, in welche die vielen sich ihrer selbst bewußten Ichs zueinander treten, mithin das Muster und die Struktur ihrer sozialen Beziehungen.“[5]

Für unser Thema von Interesse ist, dass Walzer ausleuchtet, welche Rolle moralische Normen und Gewohnheiten bei der Konstitution sozialer Beziehungen spielen. In seiner Interpretation bedarf die Gemeinschaft keiner besonderen, „neu erfundenen“ Moral, sondern kann sich auf bestehende moralische Prinzipien stützen, denen die Menschen immer schon folgen. Ohne dies zu explizieren, nähert sich Walzer damit neueren Moraltheorien, die die Entstehung gewisser, offenbar universal gültiger moralischer Mindeststandards u. a. aus der biopsychosozialen Evolution des Homo sapiens erklärt[6], wie auch den Ansichten seines neopragmatistischen Kollegen Richard Rorty, der meint, dass unser gewöhnlicher, unreflektierter Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen verfügt, um in der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial kompetent zu handeln, ohne dabei auf allgemeine und daher abstrakte moralische Prinzipien (Letztbegründungen) zurückgreifen zu müssen. Das meint gleichwohl nicht, dass Menschen überall und zu allen Zeiten den gleichen moralischen Normen folgen, sondern lediglich, dass ein Grundbestand von Verboten resp. Verpflichtungen ausgemacht werden kann, der uns allen gemeinsam ist und, soweit dies historisch rekonstruierbar ist, es immer schon war. Dazu gehören das Verbot zu morden, das Verbot zu betrügen, das Verbot zu stehlen usf.[7] Ungeachtet dessen muss Moral in ihren weiteren normativen Verästlungen als historisch und soziokulturell gewachsen angesehen werden, so dass wir es, auf die Menschheit als ganze bezogen, mit einem „heillosen Pluralismus“ von Ethiken zu tun haben, und vor uns die Aufgabe der Interpretation steht. Nach Walzer ist in moralischen Fragen der Heuristiker gefragt, nicht der Theoretiker.

Wenngleich der Ausgangspunkt der Überlegungen bei den drei genannten Autoren ein explizit moralischer ist, nämlich die Frage nach dem guten Leben, ist es dem Kommunitarismus jedoch nicht so sehr um Ethik zu tun, sondern um Gerechtigkeit, vornehmlich um Verteilungsgerechtigkeit. Die Gemeinschaft ist der Ort, an dem Güter verteilt werden, und das erste Gut, das zur Verteilung ansteht, ist die Zugehörigkeit zu eben jener Gemeinschaft selbst.

Gemeinschaft und moralische Werte

Sofern hier und im Weiteren von Gemeinschaft die Rede ist, wird mit diesem Begriff keineswegs ein in letzter Zeit anscheinend wieder in Mode gekommenes naiv-romantisches Bild vom wohligen Miteinander, vom Wärmekreis, wie es Göran Rosenberg ausdrückte, evoziert[8]. Ebensowenig ist die im Kontext der Klimakrise vermehrt an- und aufgerufene Weltgemeinschaft gemeint. Vielmehr soll mit Bezug auf die Ausgangsüberlegungen in Teil 1 dieser Reihe  die Gemeinschaft als möglicherweise notwendig sich ergebendes Gebilde unter den Bedingungen einer zerfallenden Gesellschaft, quasi als Notgemeinschaft, und nicht als absichtsvoll und bewusst herbeigeführtes soziales Konstrukt thematisiert werden. Ich folge damit der Sichtweise von Karl Marx, die er 1852 im vielzitierten vierten Satz von „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ dargelegt hat:

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.

Unter den „vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ finden sich auch Gemeinschaften. Diese können, müssen aber nicht, über ein annähernd gleiches Moralverständnis ihrer Mitglieder verfügen. Beispiele dafür sind die christlichen und die religiösen Gemeinschaften überhaupt, die sich über die Jahrhunderte noch immer auch als Notgemeinschaften verstanden und bewährt haben, oder, um aktuelle Entwicklungen aufzugreifen, die verschiedenen Communities der identitätspolitischen Bewegungen (Black Lives Matter, LGBTQ+ etc.), wiewohl gerade hier Vorsicht bei der Beurteilung geboten ist. Die Zugehörigkeit zu dieser Art von Gemeinschaften definiert sich, wenn auch nicht ausschließlich, über einen geteilten moralischen Grundkonsens, der die einen ein- und die anderen ausschließt. Sie wurden und werden nicht im eigentlichen Sinne konstituiert, auch wenn zuweilen solche Narrative vermittelt werden, sondern sie entstehen irgendwie. Die geteilten Werte, oder besser, das gemeinsame Verständnis der Werte erscheint den Mitgliedern der Gemeinschaft als ein natürliches, gewissermaßen ahistorisches und ist deshalb notwendigerweise ein stillschweigendes. Zygmunt Baumann bemerkt dazu knapp:

Eine Gemeinschaft ist entweder stumm – oder erloschen. Sobald sie beginnt, ihre Werte zu preisen, von ihrer unverfälschten Schönheit zu schwärmen und Manifeste zu plakatieren, in denen sie ihre Mitglieder dazu auffordert, ihre Leistungen zu loben, und die Außenstehenden mahnt, in den Lobpreis einzustimmen oder zu schweigen – kann man sicher sein, dass die Gemeinschaft nicht mehr (oder, was auch vorkommen kann, noch nicht) existiert. Eine Gemeinschaft, von der «man spricht» (genauer: eine Gemeinschaft, die sich selbst als solche bezeichnet), ist ein Widerspruch in sich.[9]

Ein grundlegender (nicht nur) moralischer Wert jeder Gemeinschaft und gleichsam ihre Konstituente ist die Gleichheit ihrer Mitglieder. Gleichheit ist daselbst bereits ein erstrebenswertes Gut der Gemeinschaft, denn sie kann nicht per se als gegeben vorausgesetzt werden. Menschen, Personen unterscheiden sich voneinander in den verschiedensten Merkmalen und Eigenschaften, nicht nur in ihren biologischen und psychischen Eigenheiten, auch in ihrer materiellen Ausstattung oder sozialen Stellung. Und auch in der Gemeinschaft können Differenzierungen und Hierarchien vorliegen. Es ist also ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, worin konkret die Gleichheit bestehen soll, was der „Parameter“ ist, in Bezug auf den überhaupt von Gleichheit gesprochen werden kann. Für die Gemeinschaft der Christen (wie auch der Juden und Muslime) bspw. ist dies wohl die Gleichheit vor Gott, für die Gemeinschaft der Kommunisten (ganz grob gesagt) die materielle Gleichheit, und für die Gemeinschaft der Liberalen (die eigentlich keine Gemeinschaft ist und sich auch nicht als solche versteht) die (negativ verstandene) gleiche Freiheit aller.

Am Beispiel der Religionsgemeinschaften lässt sich ein zweiter Wert ausmachen – die Brüderlichkeit. Brüderlichkeit, verstanden als kollektive Solidarität, ist unabdingbare Voraussetzung für die Beständigkeit der Gemeinschaft und die Verlässlichkeit zwischen ihren Mitgliedern. Für das einzelne Mitglied sind damit gemeinschaftsspezifische Rechte und Pflichten verbunden, die u. U. institutionell abgesichert werden müssen, etwa durch Sanktionierung bei Verstößen. Zu diesen Pflichten gehört zuallererst die oben erwähnte, von Charles Taylor postulierte Verpflichtung dazuzugehören.[10]

Zur Heiligen Dreifaltigkeit der Französischen Revolution fehlt uns nur noch der Wert der Freiheit. Immer wieder und besonders im neoliberalen Diskurs wird der Eindruck erweckt, als könnten die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit realiter nicht miteinander in Einklang gebracht werden – würden je zwei von ihnen realisiert, bliebe der dritte auf der Strecke. Die Verfolgung der Ziele Brüderlichkeit und Gleichheit würde demnach die Freiheit, und zwar die Freiheit des Individuums, so sehr einschränken, dass Gemeinschaft schlechthin abzulehnen sei. Doch wie oben,  bei der kurzen Darstellung der kommunitaristischen Positionen von Michael Sandel und Charles Taylor zu sehen war, liegt diesem Urteil ein negativer Freiheitsbegriff zu Grunde, wohingegen es im vorliegenden Kontext um die positive politische Freiheit als „kollektiver Selbstregierung“ geht. Seinen historischen Bezug findet der negative Freiheitsbegriff des Liberalismus wohl in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, während der positive sich zu Recht auf die Revolutionäre von 1789 und, wie ich meine, ihre Nachfolger, die Revolutionäre von 1848, die Kommunarden von 1871 und selbst die vorstalinistischen Bolschewiken von 1917 berufen kann.

Es sollte einsichtig sein, dass die Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einerseits eine Idealvorstellung vom Wertefundament einer Gemeinschaft ausdrückt und andererseits nur einen, wenn auch zentralen Teil der von den Mitgliedern realer, konkreter Gemeinschaften geteilten Werte darstellt. Zudem ist jeder der drei Werte für sich in seiner jeweiligen Konkretion in hohem Maße problematisch. So postulieren bspw. David Graeber und David Wengrow in „Anfänge“[11] drei Grundfreiheiten des Menschen:  weggehen zu können, nicht gehorchen zu müssen und im Stande zu sein, neu über die sozialen Beziehungen zu entscheiden. Offensichtlich ist nur die letzte mit dem Leben in einer Gemeinschaft vereinbar, denn die beiden anderen gehören zu den negativen Freiheiten. Gleichheit und Brüderlichkeit wiederum bergen in sich die Gefahr der Abschottung gegen die, die nicht so sind wie wir, die Anderen („l‘enfer, c‘est les Autres.“) und sich nicht an unsere Regeln halten. Aber womöglich wird gerade dies nötig sein, wenn wir als soziale Wesen überleben wollen.

 


[1]      Charles Taylor.  Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Suhrkamp 1992

[2]      Charles Taylor. Atomismus. In Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Hrsg. Bert van den Brink und Willem van Reijen, 73–106. Suhrkamp 1995

[3]      Michael Walzer. Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Campus 1992

[4]      Zygmunt Baumann. Retrotopia. Suhrkamp 2017, S. 59

[5]      Michael Walzer. a.a.O. S. 179

[6]      Siehe bspw. Michael Tomasello. Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral. Suhrkamp 2020

[7]      Im Kern handelt es sich wohl um die vier „großen“ Tabus: Tötungstabu, Nahrungstabu, Inzesttabu und Sprachtabu.

[8]      Siehe dazu den Radio-Essay von Stefan Kühl.

[9]      Zygmunt Baumann. Gemeinschaften. Suhrkamp 2009. S. 4

[11]    David Graeber, David Wengrow. Anfänge. Klett-Cotta, 2022

Sonntag, 12. März 2023

Der Krieg des Partisanen

Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung.
Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft
gibt ihm seinen Sinn und seine Gerechtigkeit.
Carl Schmitt


Der nun schon über ein Jahr andauernde Krieg in der Ukraine wird uns von politischer und sonstiger öffentlicher Seite als Krieg zwischen zwei souveränen Nationalstaaten unter Einsatz regulärer Streitkräfte, als zwischenstaatlicher Krieg präsentiert: Die ukrainische Armee kämpft gegen die russische. Aber ist das wirklich so einfach?

Diese Frage ist alles andere als irrelevant, denn von ihrer Beantwortung hängt ab, inwiefern auf diesen Krieg, auf die kämpfenden Seiten und auf die kämpfenden Personen das klassische Kriegsrecht in Gestalt der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention, vollumfänglich anwendbar ist.

Ich denke, weder für die ukrainische noch für die russische Seite kann diese Frage mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Dazu ist die Gemengelage von bewaffneten Einheiten, kämpfendem Personal sowie eingesetzten Waffen und nichtmilitärischen Mitteln zu unübersichtlich. Offensichtlich wird der Krieg auf beiden Seiten hybrid geführt, also unter Einsatz von regulären und irregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nichtmilitärischen Mitteln. Hinzu kommt, dass er nach meinem Dafürhalten eher den Charakter eines Bürgerkrieges hat. Nicht nur, weil Putin bereits vor dem Angriff die Ukraine und deren Bevölkerung zum historisch angestammten Teil Russlands erklärt hat, sondern auch, weil es sich faktisch um zweierlei Sezessionskrieg handelt. Zum einen wird mit Unterstützung Russlands in der Ostukraine seit 2014 ein mehr oder weniger offener Sezessionskrieg zur Ablösung des Donbas vom ukrainischen Staat geführt, zum anderen hatte der Angriff der russischen Armee am 24. Februar 2022 zum Ziel, eine seinerzeit friedlich verlaufene Sezession, die Herauslösung der Ukraine aus der Sowjetunion, mit militärischen Mitteln rückgängig zu machen. Aus Sicht der Ukraine ist der Krieg mithin ein um 30 Jahre „verspäteter“ Sezessionskrieg.

Der Charakter des Krieges als „versteckter“ Bürgerkrieg erklärt, jedenfalls in Teilen, die unglaubliche Brutalität der Kriegsführung, von der wir im Westen ja nur den russischen Anteil zu Gehör und zu Gesicht bekommen. Auf beiden Seiten agieren irreguläre Verbände, von denen die Wagner-Gruppe und das Asow-Regiment (im Stahlwerk Mariupol zerrieben) nur die bekanntesten sind. Auch die Separatistenverbände im Donbas sind irregulär, ebenso wie diverse, nur selten thematisierte ultranationalistische Freiwilligenkorps auf ukrainischer Seite. Irreguläre militärische Einheiten neigen, da meist leichter und schlechter bewaffnet als reguläre Truppen, zum Partisanentum. Auch wenn der Begriff des Partisanen etwas altmodisch erscheint - inzwischen wurde er vom Begriff des Terroristen abgelöst, scheint er mir doch der angemessene zu sein, um einerseits Erklärungen für die Art der Kriegsführung zu finden und andererseits Überlegungen über einen möglichen weiteren Verlauf des Krieges bis zu seiner möglichst baldigen Beendigung anzustellen.

Der moderne Partisan“, schrieb Carl Schmitt 1963, „erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung steigert.“ Ausdrücklich macht Schmitt diese Aussage auch für den Bürgerkrieg geltend. Dass dies berechtigt ist, haben nicht zuletzt die Balkankriege der 1990er Jahre gezeigt. Die zitierte Aussage entstammt der Schrift „Theorie des Partisanen“1 (TP). In dieser stellt Schmitt Überlegungen zum Charakter des modernen, entgrenzten Krieges zwischen Kombattanten an, die das klassische Kriegsrecht nicht oder kaum noch einhalten, also nahezu aller Kriege nach dem 1. Weltkrieg, die mir angesichts des Kampfgeschehens in der Ukraine höchst, um nicht zu sagen erschreckend aktuell zu sein scheinen.

Schon vor dieser Schrift hatte Carl Schmitt die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts als Weltbürgerkrieg gedeutet, in dem es nicht um Ideologien, sondern nur noch um die Verteilung von Ressourcen geht. Nachdem mit dem Untergang der Sowjetunion der Weltbürgerkrieg offiziell für beendet erklärt und das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, erleben wir inzwischen sein offenes Wiederaufflammen, begleitet von vertrauten ideologischen Verbrämungen ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Wieder geht es um die Verteidigung des Westens, der freien Welt, der liberalen Demokratie gegen die Ansprüche autoritärer, totalitärer, diktatorischer Regime, nur dass diese, bis auf das chinesische und das nordkoreanische keine kommunistischen mehr sind. Und wieder verteidigt sich der Osten gegen die Weltherrschaftsansprüche der USA und die moralische Verkommenheit des Westens. Schmitts damalige, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gemachte Feststellung aber gilt heute noch mehr als damals: In letzter Konsequenz geht es um die Verfügung über endliche Ressourcen und die Verteilung endlicher Märkte im Rahmen eines global durchgesetzten Wirtschaftssystem, das auf unendliches Wachstum angelegt ist.

Doch zurück zum Partisanen. Nach Schmitt ist dieser ein Produkt bürgerlicher, später imperialistischer Eroberungskriege, beginnend mit dem spanischen Guerilla-Krieg gegen Napoleon 1808-1813. Im preußischen Landsturmedikt von 1813 wurde dem Partisanen vom König höchstselbst Legitimität zugesprochen: „Jeder Staatsbürger … ist verpflichtet, sich dem eindringenden Feind mit Waffen aller Art zu widersetzen.“ (TP, S. 47) Clausewitz übernahm diese Legitimation des Partisanen in sein posthum erschienenes Standardwerk „Vom Kriege“. Der legitime Verteidiger der Heimat gegen den Eroberer ist jedoch nur eine Gestalt des Partisanen. Im Weltbürgerkrieg (bis 1989) tritt er in einer weiteren Gestalt auf, der des „weltaggressiven, revolutionären Aktivisten“ (TP, S. 35). „Wo der Krieg auf beiden Seiten als ein nicht-diskriminierender Krieg von Staat zu Staat geführt wird, ist der Partisan eine Randfigur, die den Rahmen des Krieges nicht sprengt und die Gesamtstruktur des politischen Vorgangs nicht verändert.“, schreibt Schmitt. Und weiter: „Wird aber mit Kriminalisierungen des Kriegsgegners im ganzen gekämpft, wird der Krieg z.B. als Bürgerkrieg vom Klassenfeind gegen einen Klassenfeind geführt, ist sein Hauptziel die Beseitigung der Regierung des feindlichen Staates, dann wirkt sich die revolutionäre Sprengwirkung der Kriminalisierung des Feindes in der Weise aus, dass der Partisan zum wahren Helden des Krieges wird. Er vollstreckt das Todesurteil gegen den Verbrecher und riskiert seinerseits, als Verbrecher oder Schädling behandelt zu werden.“ (TP, S. 35f) Hier nun sind wir ganz nahe an dem, was das Kriegsgeschehen in der Ukraine ausmacht. Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, bedarf es noch einer Erläuterung hinsichtlich des Partisanen als „revolutionärem Aktivist“.

Carl Schmitt hat sehr luzide beobachtet, dass bereits vor der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch in dem an diese anschließenden russischen Bürgerkrieg der Berufsrevolutionär, wie Lenin ihn nannte, als Partisan im nationalen und internationalen Bürgerkrieg agiert. „Nur der revolutionäre Krieg ist für Lenin wahrer Krieg, weil er aus absoluter Feindschaft entspringt. Alles andere ist konventionelles Spiel… Sein konkreter absoluter Feind war der Klassenfeind, der Bourgeois, der westliche Kapitalist und dessen Gesellschaftsordnung in jedem Lande, in dem sie herrschte.“ (TP, S. 56) Im Großen Vaterländischen Krieg war es Lenins Nachfolger Stalin gelungen, die beiden beschriebenen Typen des Partisanen, den Verteidiger der Heimat und den Weltrevolutionär, zu verbinden.

Dass die Ukrainer aufgrund ihrer quantitativen und bislang auch waffentechnischen Unterlegenheit z. T. gezwungen sind, einen Partisanenkrieg gegen die Russen zu führen bzw. für einen Partisanenkrieg typische Taktiken anzuwenden, ist nur allzu offensichtlich. Gleichwohl bewegt sich auch die russische Seite in diesem Narrativ, das sich aus der von Schmitt beschriebenen leninschen und stalinschen Traditionslinie speist und anscheinend auch in der russischen Bevölkerung noch tief verankert ist. Zwar ist von Revolution natürlich keine Rede mehr, doch Putins Propaganda beschwört das immer gleiche Feindbild: Der Westen, der Russland zu umklammern sucht, wird zum „absoluten Feind“ erklärt, die von ihm unterstützte ukrainische Regierung wird als nazistisch kriminalisiert, mithin auch jeder, der für die Ukraine kämpft. Deshalb ist es, folgt man Lenin, auch geradezu geboten, „sich ohne Dogmatismus oder vorgefaßte Prinzipien … anderer, legaler oder illegaler, friedlicher oder gewaltsamer, regulärer oder irregulärer Mittel und Methoden nach Lage der Sache“ zu bedienen (TP, S. 54). In der Traditionslinie des hybrid geführten Befreiungskriegs gegen Nazideutschland, in dem reguläre Truppen und Partisanenverbände, zumal auf ukrainischem und belorussischem Territorium, häufig koordiniert gegen den Feind vorgingen, kommen im aktuellen Krieg auf russischer Seite sowohl reguläre als auch irreguläre Verbände zum Einsatz, während das ukrainische Hinterland „nach Lage der Sache“ aus der Luft terrorisiert wird.

Welche Erkenntnisse lassen sich nun daraus über der weiteren Verlauf und ein mögliches Ende des Krieges gewinnen? Beide kriegführenden Seiten haben es auf der jeweils anderen mit Partisanen zu tun. Partisanen jedoch kann man nur mit Partisanenmethoden bekämpfen, so dass der Krieg, wenn er so weitergeht, zu einem Partisanenkrieg werden könnte. Hier ein mögliches Szenario: Schon jetzt ist ja von einem möglicherweise lang andauernden Abnutzungskrieg die Rede. Je länger die waffentechnische und die moralische Abnutzung auf russischer Seite andauert, desto stärker wird auch in deren Kampfhandlungen das partisanische Element. In den Straßen von Donezk und anderen Städten des Donbas werden sich zunehmend „nach Lage der Sache“ vermischte, aus regulären und irregulären Kämpfern bestehende Verbände gegenüber stehen. Ob die ukrainischen Verbände sich dauerhaft ihre „Zivilität“ bewahren werden, sei einmal dahin gestellt. In den zähen Kämpfen dieser Verbände werden alle, auch die grausamsten Mittel eingesetzt, denn es wird nicht mehr um Sieg oder Niederlage im Krieg gehen, sondern nur noch um das nackte Überleben der Kämpfenden. Angesichts der dabei auf beiden Seiten begangenen Verbrechen wird, so die Hoffnung, der internationale politische und moralische Druck auf die ursprünglichen Kriegsparteien so stark, dass diese sich genötigt sehen, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Ob es so kommt, ist ungewiss. Spekulation allenthalben.

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1 Carl Schmitt. Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 2002 (1963)


Freitag, 3. März 2023

Die kommende Gemeinschaft. Teil 3

 Subjektkonstitution bei G. H. Mead und A. N. Leontjew

Die Ausgangsfrage dieser Aufsatzreihe lautete: Wenn infolge des wahrscheinlich zu erwartenden Kollapses staatlicher Strukturen auch die Gesellschaft als solche nicht bestehen bleibt, wie kann dann menschliches Über- und Zusammenleben in Gemeinschaft(en) gestaltet werden?

Dass ich im Zuge der bisherigen Untersuchung marxistisches Gedankengut diskutiert habe, hat den einfachen Grund, dass es zwar die Gesellschaft, nämlich die kapitalistische Gesellschaft war, die zentraler Gegenstand der marxschen philosophischen, ökonomischen und politischen Analysen war, der institutionalisierte Sozialismus hingegen, der sich doch schon immer als praktizierter Marxismus verstand, mit dem Kommunismus das Ideal der allumfassenden Gemeinschaft, der communio, seiner (Staats)Bürger anstrebte, worauf ich bei der Erörterung gelebter Moral im institutionalisierten Sozialismus bereits kurz eingegangen war.1 Es lässt sich also im Marxismus ein Keim kommunistischen (was offensichtlich ist) oder, wenn man so will, auch kommunitaristischen Gedankengutes finden, der für meine Zwecke nutzbar gemacht werden soll. Als Kommunismus wurde die angestrebte Gemeinschaft von ihren geistigen Vätern zwar benannt, doch bis auf einige wenige Allgemeinaussagen nicht so recht thematisiert.

Um einen angestrebten Zustand bewusst herzustellen, muss man seine Konstitutionsbedingungen ermitteln. Wenn also die Gemeinschaft das Ziel ist, dann muss geklärt werden, wie Gemeinschaft zustande kommt, d. h. wie es dazu kommt, dass Individuen sich vergemeinschaften. Diese Frage muss aber so lange im Dunkeln bleiben, wie nicht geklärt ist, was eigentlich das menschliche Individuum ist und wie wiederum dieses sich konstituiert.

Im vorangegangenen Teil 2 dieser Aufsatzreihe hatte ich drei vom Marxismus unterbelichtete Theorieaspekte thematisiert – Individuum, Ethik und Demokratie. Der Grund dafür ist, dass meines Erachtens nach keine Sozialtheorie, die eine überzeugende Alternative zum aktuellen, in die Katastrophe steuernden Kapitalismus bieten will, diese Themen aussparen kann. Ganz im Gegenteil ist die ehedem versuchte Alternative des institutionalisierten Sozialismus auch und nicht zuletzt an der offiziellen Geringschätzung von Individuum, Ethik und Demokratie gescheitert. Wie erwähnt, hatte man noch versucht, zumindest zwei der Leerstellen – Individuum und Ethik - zu schließen, indem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einerseits ein Hochschul-Lehrbuch der Ethik erschien und andererseits an der Akademie der Wissenschaften der DDR ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Titel „Biopsychosoziale Einheit Mensch“ initiiert wurde.2 Beides kam zu spät.

G. H. Mead – Die soziale Konstitution des Individuums

Nach Marx (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Thesen über Feuerbach, Die Deutsche Ideologie) war der amerikanische Sozialwissenschaftler George Herbert Mead (1863 – 1931) wohl der erste, der – natürlich in Unkenntnis der marxschen Schriften - wieder einen Versuch unternahm, den spätestens seit René Descartes in der Philosophie vorherrschenden Dualismus von Geist und Materie zu überwinden, und an dessen Stelle ein monistisches Konzept der Subjektkonstitution aus der materiellen, praktischen Lebenswirklichkeit der Menschen zu setzen. Grundlegend für Meads Ansatz ist seine Auffassung vom Bewusstsein als „funktional, nicht substantiv“, das „in der objektiven Welt und nicht im Gehirn lokalisiert werden“ muss.3 Mit dieser Positionierung befindet sich Mead in unmittelbarer Nähe zur 8. Feuerbachthese und zur „Deutsche Ideologie“:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.4

Der wirkliche Lebensprozess, die menschliche Praxis, ist immer schon sinnbehaftet, ist bedeutungsgeladene Lebenswirklichkeit, in der Geist als reflexive, selbstreferentielle Intelligenz, als Selbstbewusstsein entsteht und tätig wird.

Und so ist es denn nach Mead auch „absurd, Geist einfach aus der Sicht des einzelnen menschlichen Organismus zu sehen.“ Vielmehr muss „die subjektive Erfahrung des Einzelnen … mit der natürlichen, sozial-biologischen Tätigkeit des Gehirns verknüpft werden, wenn man Geist annehmbar erklären will; und das kann nur dann geschehen, wenn die gesellschaftliche Natur des Geistes anerkannt wird.“5

Wo Marx von „sozialer Tätigkeit“ spricht, ist bei Mead von „gesellschaftlicher Handlung“ die Rede – beides meint offenkundig ein und das selbe und kann nach Ansicht des Nürnberger Philosophen Horst Müller unter dem Begriff der Praxis subsumiert werden.6 In einem dialektisch zu verstehenden Wechselverhältnis zwischen Individuum und sozialer Wirklichkeit bewirkt diese Praxis die Entstehung sowohl von Bewusstsein im marxschen Verständnis als gesellschaftlichem Bewusstsein als auch von individuellem Bewusstsein, um das es Mead zu tun ist. Entscheidend ist, dass die Praxis bedeutungsgeladen ist, oder, wie Mead es ausdrückt, sinnhaftig. Sinn ist „in der Struktur der gesellschaftlichen Handlung impliziert“.7

Zu seiner Zeit konnte Marx die individualpsychologischen Aspekte der Subjektkonstituierung nicht thematisieren, und er wollte es wohl auch nicht. Er konzentrierte sich gleichsam auf die Umkehrung der Verhältnisse im Kopf als Bedingung der Umkehrung der Verhältnisse in der materiellen Realität. Diese Selbstbeschränkung sollte anscheinend davor bewahren, das monistische Geist-Materie-Konzept wieder dem Idealismus anheim fallen zu lassen. Gerechterweise muss allerdings festgehalten werden, dass eben zu jener Zeit (1844 – 1848) die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin noch gar nicht existent war. Erste Ansätze waren im 18. Jahrhundert bei Christian Wolff und im 19. bei Franz Brentano zu finden. So findet sich denn in der Deutschen Ideologie nur die vage Aussage: „Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen.“

Laut Mead ist die Entwicklung des Geistes eng mit der Entwicklung der Sprache verbunden, allerdings ist dieser dialektische Prozess eingebettet in die Strukturen gesellschaftlichen Handelns. Durch Sprache sind Individuen in der Lage, Symbole zu erstellen und zu verwenden, um Objekte, Ideen und Ereignisse darzustellen, und sich auf komplexe Formen der Kommunikation und des Denkens einzulassen. Jedoch:„Sprache ist nie in dem Sinn willkürlich, dass einfach ein reiner Bewusstseinsinhalt durch ein Wort benannt wird“8 Mit der Herausarbeitung der zentralen Stellung sprachlicher Interaktion für die Subjektkonstitution und damit auch für Gemeinschaften als Sprachgemeinschaften erweist sich Meads Theorie mithin als grundlegend auch für neuere konstitutionstheoretische Ansätze, wie bspw. jene von Jürgen Habermas oder John Searle9. Es wäre jedoch verfehlt, sie auf den so genannten Symbolischen Interaktionismus zu reduzieren, wie dies bspw. bei Hans Joas in seinen ansonsten sehr verdienstvollen Arbeiten zu Mead und zum Pragmatismus10, aber auch bei Habermas mit seiner gekünstelten und gänzlich realitätsfremden Unterscheidung zwischen kommunikativem und instrumentellem Handeln der Fall ist.

A.N. Leontjew – Die Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit

Für Horst Müller ist Georg Herbert Mead das „missing link“ der von Marx inspirierten Praxisphilosophie, in dem dieser, wie eben kurz dargestellt, die theoretische Lücke befüllt, die Marx´Selbstbeschränkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein gelassen hatte. Diese Fixierung auf Mead erscheint mir jedoch etwas einseitig zu sein und die Rolle der kulturhistorischen Schule der Sowjetpsychologie zu vernachlässigen, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass diese sich dem Problemkreis der Subjektkonstitution nicht von originär philosophischer Seite näherte, sondern ihre Theorie offiziell unter dem Dach der Fachwissenschaft Psychologie entwickelte und daraus auch keine Gesellschaftstheorie abzuleiten versuchte. Dies kann auch nicht verwundern, lief doch in den Jahren des Stalinismus bekanntlich jedes offene Philosophieren Gefahr, mit dem Revisionismusvorwurf belegt zu werden, was wiederum geradewegs ins GuLAG oder den Lubjankakeller führen konnte. Die Vertreter der kulturhistorischen Schule der Psychologie - Wygotski, Luria, Leontjew - blieben davon zwar verschont, sahen sich gleichwohl schon früh Repressalien und Publikationsverboten ausgesetzt. Die grundlegenden Texte „Denken und Sprechen“ von Wygotski und „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ von Leontjew konnten erst weit nach Stalins Tod veröffentlicht werden. Ich werde mich im folgenden auf Leontjew konzentrieren, da, wie ich meine, dessen Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit als weiteres “missing link“ im o. g. Sinne angesehen werden kann.

Als Mitbegründer und exponierter Vertreter der Kulturhistorischen Schule konzentrierte sich der Psychologe Alexei Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) auf die Erforschung des Bewusstseins und seiner Beziehung zu Kultur und Gesellschaft. Er interessierte sich besonders für die Rolle von Sprache und Kommunikation bei der Gestaltung der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, und seine Arbeit trug wesentlich dazu bei, das Verständnis der kulturhistorischen Schule darüber zu erweitern, wie soziale und kulturelle Faktoren die kognitive Entwicklung beeinflussen. Leontjew bewegte sich ausdrücklich und offensiv auf dem Boden des historischen Materialismus. Zentraler Bestandteil seiner Entwicklungstheorie der Persönlichkeit ist die Tätigkeitstheorie, mit der er, wie Klaus Holzkamp es ausdrückt, das Konzept der "Dreigliedrigkeit", das heißt der Vermitteltheit der Außenwelteinwirkungen auf das Subjekt durch die gegenständliche Tätigkeit einführte und sich damit explizit vom klassischen „zweigliedrigen“ Subjekt-Objekt-Schema der bürgerlichen Philosophie und Psychologie abgrenzte. Anschließend an die 1. und die 8. Feuerbachthese entwickelte Leontjew seine zentralen Thesen in der Schrift „Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit“11, die 1974 erstmals publiziert wurde.

Darin beleuchtet Leontjew die drei, seiner Ansicht nach, wichtigsten Kategorien einer wissenschaftlichen, und das heißt für ihn marxistischen Psychologie: gegenständliche Tätigkeit, menschliches Bewusstsein und Persönlichkeit. Menschliche Tätigkeit ist stets gegenständliche Tätigkeit, denn, auch wenn sie sich als innere, als Denktätigkeit nicht an einem materiellen Objekt vollzieht, ist sie doch intentional, d. h. auf einen Gegenstand bezogen. Gegenständliche Tätigkeit ist eingebettet in soziale Kontexte und Strukturen. Bezugnehmend auf eine der Schlüsselpassagen der Deutschen Ideologie schreibt Leontjew:

Unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sich die Tätigkeit des Menschen jedoch auch immer vollzogen hat, welche Struktur sie auch immer annimmt, man kann sie niemals isoliert von den gesellschaftlichen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft betrachten. Bei all ihrer Vielfalt stellt die Tätigkeit; des menschlichen Individuums ein System dar, das in das System der gesellschaftlichen Beziehungen eingeschlossen ist. Außerhalb dieser Beziehungen existiert keine menschliche Tätigkeit. Wie sie existiert, das bestimmen jene Formen und Mittel des materiellen und geistigen Verkehrs, die durch die Entwicklung der Produktion erzeugt werden und die sich nur in der Tätigkeit der konkreten Menschen realisieren können.12

Entscheidend für die Rolle der Tätigkeit bei der Entstehung und Entwicklung des Bewusstseins ist für Leontjew, dass sie Bedeutung hat, und: „Die Bedeutungen sind auch die wichtigsten ‚Konstituenten‘ des menschlichen Bewußtseins.“ Hier nun kommt die Sprache ins Spiel:

Wenn auch der Träger der Bedeutungen die Sprache ist, ist doch die Sprache nicht der Demiurg der Bedeutungen. Hinter den sprachlichen Bedeutungen verbergen sich die gesellschaftlich erarbeiteten Verfahren (Operationen) der Handlung, in deren Prozeß die Menschen die objektive Realität verändern und erkennen. Mit anderen Worten, in den Bedeutungen ist die in die Sprachmaterie umgestaltete und eingekleidete ideelle Existenzform der gegenständlichen Welt, ihrer Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen repräsentiert, die durch die gesamte gesellschaftliche Praxis entdeckt wurden.13

Geist, Bewusstsein ist also nicht etwas, das in irgendwelchen Hirnarealen oder neurophysiologischen Prozessen verortet werden kann. Auch auf individualpsychologischer Ebene entsteht und existiert Bewusstsein nur in gegenständlicher Tätigkeit. Bewusstes Handeln ist gegenständliches Handeln, und die Sprache ist die Existenzform des Bewusstseins, indem sie Träger der Bedeutung des bewussten Handelns ist. Das entscheidend Neue der Tätigkeitstheorie gegenüber den Einsichten von Marx und Engels ist die Erkenntnis der zentralen Rolle der Sprache für die Ausbildung und die Erklärung des Bewusstseins. Zusammen mit dem berühmten Satz von Wygotski (auf den Leontjew sich natürlich beruft): „Der Gedanke drückt sich im Wort nicht aus, sondern vollzieht sich im Wort.“, markiert dies quasi einen linguistic turn in der marxistischen Philosophie. Ganz nebenbei werden so die Mysterien der bürgerlichen Philosophie des Geistes (Leib-Seele-Problem u. a.) abgeräumt; zugleich wird der Behaviorismus überwunden, der das Bewusstsein als aktive Komponente menschlichen Verhaltens schlicht negiert.

Aus den bereits erwähnten Gründen wurde Leontjews Tätigkeitstheorie der Subjektkonstitution von der marxistischen Philosophie kaum wahrgenommen. Ihre Wirkung beschränkte sich auf den Bereich der Erziehungswissenschaften. In dieser Hinsicht teilt sie das Schicksal der meadschen Theorie.


1 So sieht es auch der Philosoph Peter Ruben, wenn er schreibt: „Gemeinschaft, so können wir sagen, wird durch die unmittelbare Kooperation in der Produktion realisierbarer (absetzbarer) Güter oder Dienste hervorgebracht. Sie ist wesentlich durch Produktion begründet. Gesellschaft dagegen wird durch den Austausch, durch den Handel fundiert.“ Peter Ruben, Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet.

2 Herbert Hörz. Der Mensch als biopsychosoziale Einheit – Wesen, Genese und Determinanten, 1988. http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/HoerzMensch.pdf

3 George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp 1973, S. 153

4 MEW, Bd. 3, S.

5 a. a. O., S. 174

6 Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert, Kap. 5

7 a. a. O., S. 121

8 a. a. O., S. 113

9 John R. Searle. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Suhrkamp 2011

10 Hans Joas. Praktische Intersubjektivität. Suhrkamp 1989, ders. Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Suhrkamp 1992

11 A. N. Leontjew. Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit. Abrufbar im Max-Stirner-Archiv: http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/Leontjew-TaetigkeitBewusstseinPersoenlichkeit.pdf

12 a. a. O., S. 40 (83)

13 a. a. O., S. 65 (135)

Cui Bono? Zum Zweiten

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