Freitag, 27. Januar 2012

Offenbarung 1,9

„Ich Johannes, euer Bruder, bin auf die Insel Patmos verbannt worden, weil ich das Wort Gottes verkündete und für die Botschaft von Jesus eintrat. Ich bin also wie Ihr um Jesu willen in Bedrängnis, aber durch Jesus haben wir alle An­teil an Gottes Reich und sind dazu aufgerufen, unbeirrt durchzuhalten.“1

Ein alter Mann sitzt an einem Tisch und beginnt auf einem Bogen Pergament einen der beeindruckendsten und wirkungsmächtigsten Texte der Weltlitera­tur zu schreiben, die Offenbarung des Johannes, gemeinhin auch Apokalypse genannt. Er ist verbannt worden auf die der kleinasiatischen Küste vorgela­gerte, nur etwa 15 km lange Mittelmeerinsel Patmos. Er fühlt sich in Bedräng­nis, denn seine Predigten des Evangeliums von Jesus Christus unter den Be­wohnern Kleinasiens haben wohl den Unmut der römischen Obrigkeit hervor­gerufen. Es ist die Zeit der zweiten, wenn auch nicht systematischen Christen­verfolgung unter Kaiser Domitian. Wäre Johannes der ersten Verfolgungswelle unter Nero anheim gefallen, hätten wir möglicherweise weder die Offenba­rung noch das Johannes-Evangelium. So war er also „nur“ verbannt worden. Aber was ist das schon - Verbannung? Auch Ovid musste wegen unbotmäßi­gen Verhaltens dem Kaiser gegenüber in die Verbannung nach Tomis, dennoch verfasste er dort seine
Tristia. Johannes aber spricht von Bedrängnis. Nur Be­drängnis.
Freuen wir uns, dass es nur Bedrängnis war und kein Martyrium, so dass Jo­hannes in seiner ganz persönlichen Bedrängnis diesen poetisch aufgeladenen Text verfassen konnte. In dieser seiner Bedrängnis ist er mir näher als jeder der großen Märtyrer. Denn Bedrängnis ist ein Empfinden, das nachvoll­ziehbar ist, das viele aus eigener Erfahrung kennen und ganz persönlich ein­zuordnen wissen. Das Martyrium hingegen erscheint uns ungeheuer fremd – für seine Überzeugung, seinen Glauben zu sterben, wer von uns würde das ernst­haft in Betracht ziehen? Das Martyrium ist ein extrovertierter Akt, ist öffentli­ches Bekenntnis unter Aufgabe des Selbst. Der Tunesier Mohamed Bouazizi war in den Märtyrertod gegangen und hatte damit die Unruhen aus­gelöst, die in den arabischen Frühling münden sollten. Bedrängnis ist ein sehr subjektives Empfinden der eigenen Lebenssituation. Martyrium ist abso­lut und endgültig. Bedrängnis ist relativ und lässt Raum für Hoffnung. Und so hält auch Johannes sich fest an seiner Hoffnung auf das kommende Reich Got­tes, die ihm die Kraft zum Durchhalten gibt.
Das klingt erst mal völlig banal. Wenn man sich aber vergegenwärtigt, dass unsere ganze, neuerlich auch wieder gern gepriesene abendländische Kultur zu einem großen Teil auf den Ideen und Glaubensbekenntnissen einer kleinen Gruppe von bedrängten und durchhaltenden Sonderlingen, Außenseitern und Geächteten ruht, dann ist das alles andere als banal. Sie waren Sonderlinge, Außenseiter und Geächtete nicht zuletzt deshalb, weil sie Fragen stellten und Antworten fanden, die den gesellschaftlichen Status Quo ihrer Zeit mit einem grundlegenden Zweifel belegten. Sie stellten die entscheidende Frage, auf die Jahrhunderte später der Philosoph Adorno die grundsätzliche Antwort in ei­nem einzigen simplen Satz formulierte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Für solche Außenseiter ist Bedrängnis stets und zu allen Zeiten der Normal­fall. Auch, wenn sie gerade einmal nicht direkt verfolgt werden, werden sie doch missverstanden, belächelt, respektlos behandelt, verhöhnt, ausgegrenzt. Die Mehrheit - will heißen: der Mainstream - verfügt über genügend Mittel und Methoden, Minderheiten in Bedrängnis zu bringen und dort zu halten. Aber wissen wir überhaupt, wie sich Bedrängnis anfühlt, so lange wir nicht selbst in Bedrängnis geraten und die Hoffnung das Letzte ist, was bleibt?
Vielleicht genügt es, sich selbst einmal danach zu befragen, was einen be­drängt. Immer mehr Menschen leben ja in einem Zustand permanenten Unbe­hagens, nicht an der Kultur, wie Freud es seinerzeit ausdrückte, sondern am System, in dem wir leben, an dem, was der Fall ist. Bei mir z.B. drückt sich dieses Unbehagen u.a. darin aus, dass ich meinen Arbeitsalltag als zuneh­mend sinnentleert empfinde - das ist meine konkrete Bedrängnis. In „Die Kul­tur des neuen Kapitalismus“2 hat Richard Sennett die Beraterbranche, und gemeint sind die Unternehmensberater, einer eingehenden soziologischen Analyse unterzogen, die ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen kann. Hinzuzufü­gen wäre, dass die Branche der McKinseys, Bostons und Bergers zu denen mit dem größten Entfrem­dungspotenzial gehört. Das beginnt schon damit, dass kein normaler Mensch ver­steht, was Berater überhaupt machen, und wenn man es zu erklären versucht, fällt einem auf, dass man es selbst kaum versteht. Nach meiner Erfahrung werden Berater häufig von Verantwortungsträgern engagiert, die selbst nicht in der Lage oder nicht Willens sind, ihrer Verantwortung nach zu kommen. Angst vor den schwer absehbaren Folgen von Entscheidungen bei allgemein zunehmender Komplexität spielt dabei eine gewichtige Rolle. Hinzu kommt das Peter-Prinzip: „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“ Und dann holt er sich eben Berater, die ihm sagen, was zu tun ist, und für ihn die Entscheidungen treffen. Dass der Berater ständig für andere denken muss, führt über die Jahre unweigerlich zur Entfremdung. Faktisch wird nichts mehr von dem, was man tut, als Eigenes empfunden. Im Gegenteil, zum Zwecke der prophylaktischen Seelenhygiene muss man sich schnellstens von den Produkten seiner Arbeit trennen. Irgendwann wird alles - im adornoschen Sinne - falsch.
Ist es Bedrängnis, die Entfremdung und das Falsche als so nicht mehr lebbar zu empfinden? Ich glaube schon. Natürlich ist sie nicht direkt vergleichbar mit der Bedrängnis des Johannes auf Patmos, die Zeiten sind andere. Auch mit den Nöten der meisten Menschen hat sie wenig zu tun. Und doch ist es meine ganz eigene Bedrängnis bzw., um Peter Rühmkorf zu zitieren: „Wenn ich mal richtig ICH sag, wieviele da wohl noch mitreden können?!“ Und Hoffnung? Ja, die gibt es, die Hoffnung, irgendwann wieder das richtige Leben im richtigen zu finden.
1Neue Genfer Übersetzung. Romanel-sur-Lausanne, 2009

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