Ein alter Mann sitzt an einem Tisch und beginnt auf einem Bogen Pergament einen der beeindruckendsten und wirkungsmächtigsten Texte der Weltliteratur zu schreiben, die Offenbarung des Johannes, gemeinhin auch Apokalypse genannt. Er ist verbannt worden auf die der kleinasiatischen Küste vorgelagerte, nur etwa 15 km lange Mittelmeerinsel Patmos. Er fühlt sich in Bedrängnis, denn seine Predigten des Evangeliums von Jesus Christus unter den Bewohnern Kleinasiens haben wohl den Unmut der römischen Obrigkeit hervorgerufen. Es ist die Zeit der zweiten, wenn auch nicht systematischen Christenverfolgung unter Kaiser Domitian. Wäre Johannes der ersten Verfolgungswelle unter Nero anheim gefallen, hätten wir möglicherweise weder die Offenbarung noch das Johannes-Evangelium. So war er also „nur“ verbannt worden. Aber was ist das schon - Verbannung? Auch Ovid musste wegen unbotmäßigen Verhaltens dem Kaiser gegenüber in die Verbannung nach Tomis, dennoch verfasste er dort seine Tristia. Johannes aber spricht von Bedrängnis. Nur Bedrängnis.
Freuen
wir uns, dass es nur Bedrängnis war und kein Martyrium, so dass
Johannes in seiner ganz persönlichen Bedrängnis diesen
poetisch aufgeladenen Text verfassen konnte. In dieser seiner
Bedrängnis ist er mir näher als jeder der großen Märtyrer. Denn
Bedrängnis ist ein Empfinden, das nachvollziehbar ist, das
viele aus eigener Erfahrung kennen und ganz persönlich einzuordnen
wissen. Das Martyrium hingegen erscheint uns ungeheuer fremd – für
seine Überzeugung, seinen Glauben zu sterben, wer von uns würde das
ernsthaft in Betracht ziehen? Das Martyrium ist ein
extrovertierter Akt, ist öffentliches Bekenntnis unter Aufgabe
des Selbst. Der Tunesier Mohamed
Bouazizi
war in
den Märtyrertod gegangen und hatte damit die Unruhen ausgelöst,
die in den arabischen Frühling münden sollten. Bedrängnis
ist ein sehr subjektives Empfinden der eigenen Lebenssituation.
Martyrium ist absolut und endgültig. Bedrängnis ist relativ
und lässt Raum für Hoffnung. Und so hält auch Johannes sich fest
an seiner Hoffnung auf das kommende Reich Gottes, die ihm die
Kraft zum Durchhalten gibt.
Das
klingt erst mal völlig banal. Wenn man sich aber vergegenwärtigt,
dass unsere ganze, neuerlich auch wieder gern gepriesene
abendländische Kultur zu einem großen Teil auf den Ideen und
Glaubensbekenntnissen einer kleinen Gruppe von bedrängten und
durchhaltenden Sonderlingen, Außenseitern und Geächteten ruht, dann
ist das alles andere als banal. Sie waren Sonderlinge, Außenseiter
und Geächtete nicht zuletzt deshalb, weil sie Fragen stellten und
Antworten fanden, die den gesellschaftlichen Status Quo ihrer Zeit
mit einem grundlegenden Zweifel belegten. Sie stellten die
entscheidende Frage,
auf die Jahrhunderte später der Philosoph Adorno die grundsätzliche
Antwort in einem einzigen simplen Satz formulierte: Es
gibt kein richtiges Leben im falschen.
Für
solche Außenseiter ist Bedrängnis stets und zu allen Zeiten der
Normalfall. Auch, wenn sie gerade einmal nicht direkt verfolgt
werden, werden sie doch missverstanden, belächelt, respektlos
behandelt, verhöhnt, ausgegrenzt. Die Mehrheit - will heißen: der Mainstream - verfügt über
genügend Mittel und Methoden, Minderheiten in Bedrängnis zu bringen
und dort zu halten. Aber wissen wir überhaupt, wie sich Bedrängnis
anfühlt, so lange wir nicht selbst in Bedrängnis geraten und die
Hoffnung das Letzte ist, was bleibt?
Vielleicht
genügt es, sich selbst einmal danach zu befragen, was einen
bedrängt. Immer mehr Menschen leben ja in einem Zustand
permanenten Unbehagens, nicht an der Kultur, wie Freud es
seinerzeit ausdrückte, sondern am System, in dem wir leben, an dem,
was der Fall ist. Bei mir z.B. drückt sich dieses Unbehagen u.a.
darin aus, dass ich meinen Arbeitsalltag als zunehmend
sinnentleert empfinde - das ist meine
konkrete Bedrängnis.
In „Die Kultur des neuen Kapitalismus“2
hat Richard Sennett die Beraterbranche, und gemeint sind die
Unternehmensberater, einer eingehenden soziologischen Analyse
unterzogen, die ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen kann.
Hinzuzufügen wäre, dass die Branche der McKinseys, Bostons und
Bergers zu denen mit dem größten Entfremdungspotenzial gehört.
Das beginnt schon damit, dass kein normaler Mensch versteht,
was Berater überhaupt machen, und wenn man es zu erklären versucht,
fällt einem auf, dass man es selbst kaum versteht. Nach meiner
Erfahrung werden Berater häufig von Verantwortungsträgern
engagiert, die selbst nicht in der Lage oder nicht Willens sind,
ihrer Verantwortung nach zu kommen. Angst vor den schwer absehbaren
Folgen von Entscheidungen bei allgemein zunehmender Komplexität
spielt dabei eine gewichtige Rolle. Hinzu kommt das Peter-Prinzip:
„In
einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe
der Unfähigkeit aufzusteigen.“
Und dann holt er sich eben Berater, die ihm sagen, was zu tun ist,
und für ihn die Entscheidungen treffen. Dass der Berater ständig
für andere denken muss, führt über die Jahre unweigerlich
zur Entfremdung. Faktisch wird nichts mehr von dem, was man tut, als
Eigenes empfunden. Im Gegenteil, zum Zwecke der prophylaktischen Seelenhygiene
muss man sich schnellstens von den Produkten seiner Arbeit trennen.
Irgendwann wird alles - im adornoschen Sinne - falsch.
Ist
es Bedrängnis, die Entfremdung und das Falsche als so nicht mehr
lebbar zu empfinden? Ich glaube schon. Natürlich ist sie nicht
direkt vergleichbar mit der Bedrängnis des Johannes auf Patmos, die
Zeiten sind andere. Auch mit den Nöten der meisten Menschen hat sie
wenig zu tun. Und doch ist es meine ganz eigene Bedrängnis bzw., um
Peter Rühmkorf zu zitieren: „Wenn
ich mal richtig ICH
sag,
wieviele da wohl noch mitreden können?!“
Und Hoffnung? Ja, die gibt es, die Hoffnung, irgendwann wieder das
richtige Leben im richtigen zu finden.
1Neue
Genfer Übersetzung. Romanel-sur-Lausanne, 2009
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