Warum verließ uns in den 1980er
Jahren der historische Optimismus?
Die
Menschen machen ihre eigene Geschichte,
aber sie
machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter
selbstgewählten, sondern unter unmittelbar
vorgefundenen,
gegebenen und überlieferten Umständen.
Karl Marx
Bald ist es 30
Jahre her, dass mit den ersten Leipziger Montagsdemonstrationen das Ende der
DDR und damit auch das Ende des sozialistischen Experiments auf deutschem Boden
eingeläutet wurde. Ein paar Jahre zuvor
hatte bereits die Solidarność mit dem Abriss des Sozialismus in Polen begonnen
und unseren „Bruderstaat“ in eine politische Krise gestürzt. In der Folge von
89 brach der „Ostblock“ auseinander, die UdSSR entließ ihre osteuropäischen
„Vasallenstaaten“ sowie ihre faktische Kolonie Mongolei in die „Freiheit“, um
kurze Zeit später selbst auseinander zu brechen. Der „real existierende
Sozialismus“ verschwand von der politischen Landkarte – lediglich Kuba und Nord-Korea
widersetzten sich dem Trend (Jugoslawien und China hatten eigentlich nie dazu
gehört), und es begann das Große
Rollback (so Hermann Kant in einem Interview der Jungen Welt 1990).
Das Große Rollback
vollzog sich bislang in drei Phasen: ökonomisches Rollback,
soziales Rollback, politisches Rollback. In Deutschland kann man jede dieser Phasen mit einem Jahrzehnt und einem exemplarischen Schlagwort verbinden: ökonomisches Rollback – Treuhandanstalt, soziales Rollback – Agenda 2010, politisches Rollback – AfD. Gerade mit letzterem Schlagwort, das andernorts (aus Gründen der Einfachheit) durch die Namen Trump, Erdogan, Orban, Le Pen ersetzt werden kann, sollte klar sein, dass das politische Rollback soweit fortgeschritten ist, dass seine Akteure auch den offenen Flirt mit dem Faschismus nicht mehr scheuen. Und unter Faschismus werden hier nicht nur völkischer Nationalismus, offener Rassismus, Aggressivität und sonstige offenkundige Abscheulichkeiten verstanden, sondern auch und gerade die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (G. Dimitroff, VII. Weltkongress der Komintern 1935).
soziales Rollback, politisches Rollback. In Deutschland kann man jede dieser Phasen mit einem Jahrzehnt und einem exemplarischen Schlagwort verbinden: ökonomisches Rollback – Treuhandanstalt, soziales Rollback – Agenda 2010, politisches Rollback – AfD. Gerade mit letzterem Schlagwort, das andernorts (aus Gründen der Einfachheit) durch die Namen Trump, Erdogan, Orban, Le Pen ersetzt werden kann, sollte klar sein, dass das politische Rollback soweit fortgeschritten ist, dass seine Akteure auch den offenen Flirt mit dem Faschismus nicht mehr scheuen. Und unter Faschismus werden hier nicht nur völkischer Nationalismus, offener Rassismus, Aggressivität und sonstige offenkundige Abscheulichkeiten verstanden, sondern auch und gerade die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (G. Dimitroff, VII. Weltkongress der Komintern 1935).
Das Große Rollback
ist (fast) abgeschlossen. Der Kapitalismus kann tun und lassen, was er will:
Ausbeutung verschärfen, Löhne drücken, Ressourcen aufbrauchen, Kriege führen,
Land rauben, Meere verschmutzen, Böden vergiften, Tiere ausrotten, Klima
aufheizen. Die Sozialdemokratie wie die gesamte politische Linke haben sich
derweil sehenden Auges selbst zerlegt, der Widerstand scheint gebrochen. Mühsam
nur versucht man wieder aufzustehen,
wohl auch, um in dem absehbar kommenden Aufstand überhaupt noch eine Rolle
spielen zu können. Es herrscht Depression.
Mir stellt sich derweil die Frage, was uns in den 1980er Jahren abhanden kam,
dass wir dies zulassen konnten. Genauer: Warum und wohin
verschwand unser historischer Optimismus, unsere Überzeugung, auf der richtigen
Seite der Geschichte zu stehen? Und: Wieso sind wir
mit wehenden Fahnen übergelaufen?
Eine schlüssige Antwort darauf habe ich nicht. Ich kann nur einige
Überlegungen anstellen, die sich natürlich zuvörderst aus meiner ganz
persönlichen Erfahrung jener Zeit speisen, und versuchen, mehr oder minder
plausible Erklärungen zu finden.
Um die Frage richtig einzukreisen, bedarf es zunächst eines Blickes auf
das Vorgängerjahrzehnt, die 1970er Jahre.
1979, zum Ende des Jahrzehnts, war ich zwar noch keine 20 Jahre alt,
hatte dafür aber wohl so viel 70er-Jahre-Geist inhaliert, dass es anscheinend für
ein ganzes Leben reichen sollte. Ähnlich dem nach Ansicht vieler Historiker
langen, von 1789 bis 1914 dauernden 19. Jahrhundert, war das achte Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts ein langes. Es begann bereits 1967/68 und dauerte wohl bis
zur Präsidentschaft Ronald Reagans 1981 bzw. bis zur „geistig-moralischen
Wende“ Helmut Kohls 1982. In dieser Zeitrechnung waren die 70er im Westen das
Jahrzehnt der Mondlandung, der amerikanischen Niederlage im Vietnamkrieg, des
Punk, des Mehr-Demokratie-Wagens, der iranischen Revolution, des Aufbruchs.
Davon blieb auch der Osten nicht gänzlich unberührt. Nach der bewaffneten
Niederschlagung des Prager Frühlings
1968 begann eine lange Periode der Konsolidierung und relativer politischer
Stabilität, die zwar immer wieder von einzelnen Störereignissen wie 1974 der Sacharow-Äffäre in der Sowjetunion oder der Biermann-Ausbürgerung 1976 unterbrochen wurde,
im Großen und Ganzen aber gekennzeichnet war durch Wirtschaftswachstum,
zunehmenden Wohlstand und eine relativ offene Kulturpolitik. Eine entscheidende
Rolle spielte sicher auch die KSZE-Schlussakte von Helsinki, in der der Westen den
politischen Status Quo faktisch anerkannte und der Osten die Achtung der
Menschenrechte zusagte. Im gleichen Jahr wurde die DDR (zusammen mit der BRD)
Mitglied der UNO. Die heiße Phase des Kalten Krieges schien beendet - das
Zauberwort hieß friedliche Koexistenz - Honecker hatte sein wichtigstes
politisches Ziel erreicht, und die Partei konnte sich nun – im Positiven wie im
Negativen - auf die eigene Bevölkerung konzentrieren.
Auch in meiner Erinnerung waren die 70er Jahre das Jahrzehnt des
Aufbruchs. Die Nachkriegszeit war vorbei. Es ging uns vergleichsweise gut. Der
Optimismus, zumindest auf unserer Seite, war riesig. Wir waren der Überzeugung,
dass gesellschaftlicher Fortschritt von oben plan- und steuerbar sei. Das war
zwar keine wirklich neue Idee; der ganze Leninismus/Stalinismus war schließlich
getragen von diesem Gedanken der planvollen gesellschaftlichen Entwicklung und der Schaffung des Neuen Menschen[1], nur boten sich inzwischen auch die wissenschaftlichen
Werkzeuge in Gestalt von Allgemeiner Steuerungstheorie, damals noch Kybernetik genannt, und Systemtheorie an. In der DDR war es vor
allem der Mathematiker und Philosoph Georg Klaus, der diese Linie vehement
vertrat. Bemerkenswerterweise sprangen auch die Soziologie und die Politikwissenschaften
im Westen auf diesen Zug auf. Erinnert sei nur an Talcott
Parsons, Niklas
Luhmann oder David
Easton, deren Konzepte vom
offiziellen Marxismus nicht nur negativ aufgenommen wurden. Anderseits ist auch das wiederum nicht verwunderlich, wenn
man bedenkt, dass der für Kybernetik und Systemtheorie so essenzielle Begriff
der Emergenz sich in wundersamer Weise in das Konzept des dialektischen
Materialismus´ vom Umschlagen der Quantität in Qualität einpasst.
Und doch wurde mit
dem Beginn der 1980er Jahre alles anders. Um das zu verstehen, scheint es mir
hilfreich, zu den Wurzeln der Idee des Sozialismus[2]
zurück zu gehen. Die Idee des
Sozialismus ist offensichtlich ein Kind der Aufklärung und des
Frühkapitalismus. Sie entstand dabei aber nicht als eine Idee der anderen
Staatlichkeit oder der gegenüber dem Kapitalismus grundsätzlich anderen
Ökonomie, sondern als eine Idee des, wie wir heute sagen würden, Kommunitarismus.
Dies lässt sich anhand der Theorien und Praktiken u.a. von Robert Owen und
Charles Fourier, den so genannten Frühsozialisten
nachweisen. Am Beginn der Idee des Sozialismus standen also elementare
Gerechtigkeitsfragen in der Nachfolge der Französischen Revolution und
angesichts der eklatanten Verhältnisse im Frühkapitalismus.
Als Kind der Aufklärung, die von Beginn an ein Elitenprojekt (Carlo
Strenger) gewesen ist, war auch die Idee des Sozialismus zunächst ein Projekt
intellektueller Eliten, bis sie zur Sache der Arbeiterbewegung wurde, das dabei
jedoch einer teilweise vehementen Reinheitskritik eben jener intellektuellen
Eliten unterzogen wurde (Marx, Engels, Lenin, Luxemburg), um dann in den Wirren
des ausgehenden I. Weltkriegs als institutionalisierter Sozialismus wieder zum
Elitenprojekt zu werden. Als solches muss man den institutionalisierten
Sozialismus auch in der DDR ansehen. Nur waren es hierzulande, anders als im
nachrevolutionären Russland, nicht intellektuelle Eliten, die das Projekt
vorantrieben, sondern Arbeitereliten, Menschen aus dem Urgrund der
Arbeiterbewegung: in Konzentrationslagern, im antifaschistischen Untergrund und
im Exil gestählte Kader der KPD im Verein mit Teilen der SPD. Es waren schlicht
die Überlebenden.
Hier scheint mir doch ein wesentlicher Erklärungsansatz für das
letztendliche Scheitern des Projektes zu liegen: Das Auseinanderklaffen von
Theorie und Praxis. Die Theorie des Sozialismus war ausgearbeitet worden von
Intellektuellen des 19. Jahrhunderts (Marx, Lenin, Trotzki), und sie traf nun
auf die Realität des 20. Prognostisch reichte die Theorie nur bis fünf Minuten
nach der Revolution, bis zur Diktatur des Proletariats, die dann doch nur die
Diktatur einer Partei werden sollte. Wer Marx verstanden und Bill Clinton
zugehört hat, weiß: „It´s the economy, stupid.“ Weil keiner der intellektuellen
Theoretiker über einen stringenten Plan verfügte, stritt man sich in Russland
bspw. über die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und dekretierte später faktisch
den millionenfachen Hungertod infolge der Massenkollektivierung der
Landwirtschaft. Bezogen auf die DDR der 1970/80er Jahre verweist der Philosoph
Peter Ruben rückblickend darauf, dass auch hier die Partei keinen ökonomischen
Plan hatte. Man wusste schlichtweg nicht, was außer den Eigentumsverhältnissen
eine sozialistische Volkswirtschaft von einer kapitalistischen unterscheidet.
Die Idee des Sozialismus der Theoretiker war eine rein staatszentrierte, sie
war weder ökonomisch noch gesamtgesellschaftlich durchdacht. So klammerte man
sich, wie oben erwähnt, an kybernetische und systemtheoretische Ansätze, die ob
ihrer Objektivität und Gesetzmäßigkeit gewissermaßen aus sich heraus das
Richtige bewirken sollten.
Politökonomische Texte jener Zeit zeigen, dass man sich auf einer
theoretischen Ebene der Probleme, etwa im Umweltbereich oder in der
Innovationspolitik, sehr wohl bewusst war. So bereitete der Report „Die Grenzen
des Wachstums“ des Club of Rome von 1972 auch den Wirtschaftswissenschaftlern
der DDR gehöriges Kopfzerbrechen. In einem Text der Reihe „Zur Kritik der
bürgerlichen Ideologie“, die zwischen 1971 und 1986 vom Zentralinstitut für
Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegeben wurde, finden
sich u.a. folgende Überlegungen:
Langfristig gesehen wird ohne Zweifel
das Tempo des ökonomischen Wachstums immer stärker abhängen von dem Tempo der
Senkung des spezifischen Materialverbrauchs. Die Annäherung beider Größen wird
somit zu einer wichtigen Gleichgewichtsbedingung für das ökonomische Wachstum.
Dies stellt hohe Anforderungen an Wissenschaft und Technik, an die intensive
Gestaltung des gesamten Reproduktionsprozesses, um durch Verbesserung der
Gebrauchswerteigenschaften eine wesentlich höhere Lebensdauer der Erzeugnisse
zu ermöglichen und somit pro Bedürfniseinheit weniger Rohstoffe zu verbrauchen,
sowie durch Erhöhung des "Veredlungsgrades" der Produkte den
Rohstoffanteil in allen Waren zu senken, eine kontinuierliche Rückgewinnung von
Rohstoffen aus Abfall und veralteten Gebrauchsgütern zu sichern, die
Substitution von knappen Rohstoffen durch verfügbare Rohstoffe und Materialien
zu ermöglichen, den verminderten Verbrauch von Rohstoffen durch Entwicklung
rohstoffarmer Technologien zu gewährleisten, durch die Förderung von
rationellen Konsumtionsformen eine wesentliche Senkung des Rohstoffverbrauchs
pro Bedürfniseinheit zu erreichen. Um ein solches Ziel erreichen zu können,
brauchen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten neue fundamentale
wissenschaftliche Lösungen, die eine noch höhere Verringerung des Energie-,
Rohstoff- und Materialverbrauchs ermöglichen… Der ökonomische Wettbewerb mit
dem Imperialismus, die notwendigen Aufwendungen für die Verteidigung der
sozialistischen Länder haben ohne Zweifel in den sozialistischen Ländern mit
dazu beigetragen, daß das auf diesem Gebiet Notwendige nicht in vollem Umfang
getan werden konnte. Mit der gewachsenen Leistungskraft unserer Wirtschaft
erhöhen sich jedoch unsere Möglichkeiten, auch auf diesem Gebiet das
gesellschaftlich Notwendige schrittweise zu realisieren. Hierbei müssen wir
auch bei der natürlichen Reproduktion zwischen zwei Typen der Reproduktion der
natürlichen Umwelt unterscheiden - dem extensiven und dem intensiven
Reproduktionstyp. Der extensive Typ der erweiterten Reproduktion der
natürlichen Umwelt ist dadurch gekennzeichnet, daß immer mehr Naturstoffe in
den ökonomischen Kreislauf ein bezogen werden, ohne daß sich der ökonomische
und technologische Nutzungsgrad der Umwelt wesentlich erhöht. Beim gegenwärtig
erreichten Entwicklungsstand der Umweltnutzung ist es völlig klar, daß der
Übergang zum intensiven Typ der Umweltreproduktion zu einer absoluten
Notwendigkeit geworden ist. Dies gilt besonders für ein solches Land wie die
DDR, das in Bezug auf Einwohner- und Besiedlungsdichte,
Industrialisierungsgrad, Elektrifizierung, Flächenleistung und
Verkehrserschließung - also in Bezug auf die Nutzung der natürlichen
Umwelt - ganz vorn in der Welt liegt. [3]
Was hier knapp skizziert wurde, ist ja nicht weniger als das Programm
einer „grünen Ökonomie“ möglichst geschlossener Stoffkreisläufe. Theoretisch
also war alles klar. Entscheidend aber sind zum einen die Verweise auf den
„ökonomischen Wettbewerb mit dem Imperialismus“ und die „notwendigen
Aufwendungen für die Verteidigung“, zum anderen die Betonung der Notwendigkeit
„wachsender Leistungskraft“, sprich von Wirtschaftswachstum.
Nach meiner Überzeugung war es falsch, sich auf den ökonomischen
Wettbewerb mit dem Kapitalismus zu fokussieren. Der Fehler bestand darin, sich
einseitig und nur auf die Wirtschaft zu konzentrieren, dem Westen auf diesem
Feld faktisch hinterherzulaufen. Angesichts von dessen Potenzen, die sich bspw.
in der Mondlandung, aber auch und vor allem in dem ungeheuren Innovationsschub
in der Informations- und Kommunikationstechnik (u.a. Kleinrechner von DEC, PC
von IBM, XEROX, ARPAnet) zum Ende der 1970er Jahre zeigten, war dieses Unterfangen von vornherein zum
Scheitern verurteilt. Dies einsehend, verlegte man sich aufs Raubkopieren. Im
Rahmen der „sozialistischen Arbeitsteilung“ bauten die Russen den IBM Mainframe
nach, die Bulgaren die VAX von DEC und
die DDR den PC. Dass Carl-Zeiss Jena Mitte der 80er Jahre von der Partei den
Auftrag erhielt, den 16-bit-Prozessor und den 1-Mbit-Speicher zu entwickeln,
war insofern folgerichtig, als allein dieser Betrieb traditionell über die
optischen und elektronischen Techniken verfügte, die Originalchips von Intel zu
analysieren und dann nachzubauen. Im Land erntete diese Technologiepolitik nur
Spott und Häme. „Wir haben jetzt den Ein-Milligramm-Chip aus einheimischen
Rohkartoffeln.“ schrieb die Satirezeitschrift „Eulenspiegel“.
Was bei dieser einseitigen Fixierung auf das Feld des ökonomischen und
technologischen Wettbewerbs verloren ging, war eindeutig die kulturelle
Hegemonie, die nach Antonio
Gramsci mit entscheidend ist für den Erfolg der Idee
des Sozialismus. Der Optimismus der 70er Jahre speiste sich ja keineswegs aus
dem Bewusstsein einer irgendwie gearteten wirtschaftlichen Überlegenheit
gegenüber dem Kapitalismus, im Gegenteil, wir waren die armen Verwandten,
sondern aus der Überzeugung, dass, gleichgültig, was die da drüben machen, wir
auf der richtigen Seite stehen, weil das, was wir machen, moralisch richtig und
vernünftig ist.
Natürlich waren wir ideologisch indoktriniert. Das zu bestreiten, wäre
mindestens Selbstbetrug. Wer jedoch heute behauptet, weil er ja in einer
„freien Gesellschaft“ lebt, nicht ideologisch indoktriniert zu sein, hat das
Wesen und die mannigfaltigen Formen von Ideologie nicht verstanden. Was ist
denn der Konsumismus anderes, der Warenfetischismus, wie Marx ihn nannte, als
die Ideologie des puren Weltverbrauchs im Interesse der Profitmaximierung. Und
ist es nicht reine Demagogie, wenn einerseits die Verbrechen des Stalinismus
und des Maoismus als gleichsam dem Sozialismus inhärent dargestellt werden und
somit dafür herhalten müssen, die gesamte Idee des Sozialismus zu diffamieren,
und andererseits so getan wird, als hätten der Faschismus und die Verbrechen
der Nazis so rein gar nichts mit dem Kapitalismus zu tun? Oder eine Nummer
kleiner: Wenn CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak kürzlich bei Maybrit Illner
behauptet, wir würden nicht im Kapitalismus leben, sondern in der sozialen
Marktwirtschaft, dann ist das doch wohl Ideologie und Demagogie zugleich.
Aber zurück zu den 70er Jahren und zur Wirtschaft. Es ist höchst
interessant zu beobachten, dass im Zuge der Analyse und Aufarbeitung der
Finanzkrise von 2008 inzwischen die Erkenntnis reift, dass deren Ursachen in
eben jenen 70er Jahren zu verorten sind. So hat dies der renommierte Soziologe
Wolfgang Streeck in seinem Buch „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des
demokratischen Kapitalismus“ von 2013 breit dargelegt, und jüngst hat der
Historiker Michael Bösch speziell das Jahr 1979 als das Jahr des
Umbruchs thematisiert, in dem nach seiner Darstellung die Keime der heutigen
Krisenphänomene gelegt wurden.
In einem Text von 1998[4]
hat der ehemalige DDR-Philosoph Peter Ruben die ökonomische Entwicklung der DDR
in Beziehung zu den kapitalistischen Entwicklungs-, Prosperitäts- und
Krisenzyklen gesetzt und dabei eine erstaunliche Parallelität insbesondere der Juglar-Zyklen
entdeckt. Juglar -Zyklen sind die kurzen, 9 bis 11 Jahre dauernden
Konjunkturzyklen der kapitalistischen Wirtschaft. (Wie die aktuellen
Börsentrends zeigen, befinden wir uns gerade am Ende des Juglar-Zyklus, der mit
der Finanzkrise 2008 begann.) Nach Peter Ruben standen die 70er Jahre im
Zeichen des 4. Juglar-Zyklus der DDR-Wirtschaft. Die von Honecker 1973
proklamierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wurde maßgeblich mit
Auslandsschulden finanziert, und dies gelang, trotz aller Systemgegensätze,
auch deshalb vergleichsweise leicht, weil die kapitalistische Weltwirtschaft
sich gerade in diesem Jahrzehnt bekanntermaßen in einer schweren
Wirtschaftskrise befand und die Banken händeringend nach Schuldnern suchten.
Sie fanden diese in den RGW-Staaten, die in den Jahren 1971 bis 1981 ihre
Kreditaufnahme um das 11fache erhöhten. Es ist schon eine Ironie der
Geschichte, dass zur gleichen Zeit, da im Westen unter den Deckmantel des
Neoliberalismus die staatsschuldenfinanzierte Rettung des Kapitalismus anlief,
die (trotz deutscher „Schwarzer Null“) bis heute anhält, der
institutionalisierte Sozialismus den gleichen fatalen Weg einschlug. Ruben schreibt dazu: „Es ist dies eine
Merkwürdigkeit der kommunistischen Ideologie, die zwar im eigenen Lande
‘sozialistische Millionäre’ und den Markt verabscheut, aber hemmungslos
angebotene Kredite aus ‘kapitalistischen Mehrwerten’ des Auslands in Empfang
nimmt und obendrein die im Ausland freundlich attestierte Bonität im Inland als
Seriosität der eigenen Führungskunst und staatsmännischen Klugheit zelebriert.“[5]
Von den ökonomischen Verwerfungen wussten wir natürlich nichts. Schon
gar nichts davon, dass die DDR, am Rohstofftropf der UdSSR hängend, zur Zahlung
immer höherer Preise für Erdöl, Gas und Eisenerz gezwungen war, um so die
Finanzierung der Roten Armee und damit des eigenen Überlebens sicherzustellen.
Partei- und Staatsgeheimnis! Für uns ging es vorwärts in eine lichte Zukunft.
Die 80er Jahre begannen mit dem Tod Breschnews in der Sowjetunion, dem
nachfolgenden Kuddelmuddel in der KPdSU-Führung, wo schlussendlich Gorbatschow
zwei todkranken Interimsgeneralsekretären folgen sollte. Heute wissen wir,
Gorbatschow war der Totengräber des institutionalisierten Sozialismus. Seine
Ideen, nicht unähnlich denen des noch in den 70er Jahren vehement als
Revisionismus kritisierten Eurokommunismus italienischer und französischer
Prägung wirkten gerade auf uns Junge überaus attraktiv und innovativ. Hinzu kam
die Nachrüstungsdebatte anlässlich des NATO-Doppelbeschlusses von
1979, die bekanntlich eine Systemgrenzen überwindende Friedensbewegung vor
allem in den beiden deutschen Republiken auslöste. Da gerade die deutschen
Lande als Zielgebiete für die SS-20 und Pershing 2 in Frage kamen, erkannten
wir, gleichsam in einem Schub des
Erwachsenwerdens, gemeinsame Interessen, die über Systemgrenzen
hinausgehen. Der kollektive Optimismus
der 70er Jahre wich nun der kollektiven Sorge angesichts der atomaren Bedrohung
von beiden Seiten.
Als Erwachsener erlebte ich die DDR erst ab Mitte der 80er Jahre nach
der Rückkehr aus dem Mutterland des institutionalisierten Sozialismus. Es war
ernüchternd, das Land steckte wahrlich in der Depression, einer Depression, die
man in den 70ern zurecht noch dem Westen diagnostizierte. Von den Menschen,
denen ich privat und vor allem im beruflichen Umfeld begegnete, glaubte kaum
noch einer an die Zukunftsfähigkeit des Projektes. Angesichts der Politik
Gorbatschows war die SED in die Defensive geraten, sie führte offensichtlich
einen Abwehrkampf gegen das letztlich Unvermeidliche. Es rächte sich nun, dass
man über die eigene Dogmatik des Klassenkampfes hinaus keine Argumente für die
eigene Sache hatte. Der DDR fehlte von Anfang an ein gemeinsamer
Gründungsmythos, wie ihn die Sowjetunion in der Oktoberrevolution und selbst dem
nachfolgenden blutigen Bürgerkrieg besaß und der im Großen Vaterländischen
Krieg nochmals gehörig aufgefrischt wurde. Anstatt eines gemeinsamen
Gründungsmythos wurde in den Schulen die Tradition des Kampfes gegen einen
Gegner vermittelt, den man nie gesehen hatte und, wenn es nach der Partei
ginge, auch nie zu sehen bekommen sollte – den Kapitalismus, den Imperialismus,
den Faschismus. Abstrakta, von denen man ohne Westfernsehen rein gar nichts
erfahren hätte. Anders als die KPdSU konnte die SED nicht einmal den
materiellen und sozialen Fortschritt für sich verbuchen. Im Vergleich zur Zeit
der Zarenherrschaft ging es den allermeisten Bewohnern der Sowjetunion wirklich
erheblich besser; für die Bewohner der DDR hingegen fiel der Vergleich mit der
Zeit vor 1945 eher ambivalent und der mit dem Westen eindeutig negativ aus.
Es rächte sich aber auch, dass die SED-Führung offenbar der
Überzeugungskraft ihrer eigenen Ideen misstraute. Ich denke, es war falsch, den
institutionalisierten Sozialismus nach innen mit Gewalt zu verteidigen. Ich
gestehe den handelnden Personen ihre hehren Motive zu. Eine Begleiterscheinung
von Macht ist jedoch die Angst vor dem Verlust der Macht. Hat man absolute
Macht, kann die Angst existenziell werden. Gorbatschow hat diese Angst entweder
nicht verspürt oder aber durchbrochen. Honecker, Mielke & Co. waren dazu
offenbar nicht der Lage. Andererseits ist es angesichts der bekannten
Geschichte der Abwehrkämpfe gegen die Konterrevolution (Pariser Kommune,
Bürgerkrieg in Russland, Novemberrevolution, Spanischer Bürgerkrieg, Operation
Schweinebucht, Vietnamkrieg, Pinochet-Putsch in Chile) schon aus
psychologischer Sicht nur zu verständlich, dass die Parteioberen bei jeder
nicht von ihnen kontrollierten Menschenansammlung das Fracksausen bekamen.
Schließlich hatten sie ein Verbrechen begangen gegen die herrschende Ordnung,
den Kapitalismus. Es ging auch um ihr Leben.
In ihrer, noch immer den Geist des Stalinismus atmenden Angst vor dem
Feind im Innern, wurde als solcher der Kleinbürger ausgemacht. Im Verlauf der
70er Jahre wurden auch noch die letzten selbstständigen Kleinbetriebe
verstaatlicht oder in Genossenschaften gezwungen. Am anderen Ende der
volkswirtschaftlichen Pyramide wurden die größeren Betriebe zu Kombinaten
zusammengeführt. Auch dies wieder eine Parallele zur Entwicklung in den
westlichen Industriestaaten, in denen bereits etwas früher die Fusionitis
eingesetzt hatte. Das Ergebnis war hier wie da das gleiche: Ob
Profitmaximierung oder Planerfüllung, beides führte zu immobilen, bürokratischen
und innovationsfeindlichen Monopolunternehmen, die mit dem Tempo der
technologischen Entwicklung schlichtweg überfordert waren.
Dem seiner tagtäglichen Arbeit nachgehenden Staatsvolk der DDR, mich
selbst inbegriffen, kam es dabei immer mehr so ähnlich vor, wie es Pierre-Joseph Proudhon bereits in der Frühzeit des
Sozialismus beschrieben hat, als er in einer Polemik gegen die zeitgenössischen
kommunistischen Ideen schrieb:
Die
Mitglieder einer Gemeinschaft, das ist wahr, besitzen nichts zu eigen; aber die
Gemeinschaft ist Eigentümer, und zwar nicht nur der Güter, sondern auch der
Personen und Willensbestrebungen. Eben nach diesem Prinzip des souveränen
Eigentums wird in jeder Gemeinschaft die Arbeit, die doch für den Menschen nur
eine von der Natur auferlegte Bedingung sein soll, zu einem menschlichen
Kommando und dadurch selbst verhaßt… Der Starke muß das Arbeitspensum des
Schwachen liefern, obwohl dies eine Pflicht der Wohltätigkeit, nicht des
Zwanges ist, der Fleißige die des Faulen, obwohl das ungerecht ist, der
Geschickte die des Blöden, obwohl das absurd ist; kurz, der Mensch ist seines Ichs
beraubt, seines eigenen Antriebs, seines Talents, seiner Neigungen, und muß
sich der Majestät und dem Dogmatismus des Kollektivs unterwerfen. - Die
Gemeinschaft ist ungleich, aber im entgegengesetzten Sinne wie das Eigentum.
Das Eigentum ist Ausbeutung des Schwachen durch den Starken; die Gemeinschaft
ist Ausbeutung des Starken durch den Schwachen… Die Gemeinschaft ist Unterdrückung
und Sklaverei.[6]
Der Staat der Partei als
Gesamtkapitalist, das also war die vorherrschende Wahrnehmung. Oder wie es jüngst
der Brite Paul Mason im Guardian im historischen Rückblick ausdrückte:
Der Sowjetkommunismus hatte
mehr mit dem Kapitalismus gemeinsam, als die Vertreter beider Systeme zugeben
würden. Beide Systeme sind (oder waren) besessen davon, Wirtschaftswachstum zu
generieren. Beide sind bereit, erstaunliches Leid zu verursachen, um dieses und
andere Ziele zu erreichen. Beide haben eine Zukunft versprochen, in der wir nur
ein paar Stunden die Woche arbeiten müssen, verlangen stattdessen aber endlose,
brutale Buckelei. Beide sind entmenschlichend. Beide sind absolutistisch und
beharren darauf, dass die ihre – und wirklich nur die ihre – die einzig wahre
Religion sei.
Dass die Parteioberen, allen
voran Honecker und Mielke, sich, in mir damals wie heute völlig
unverständlichem Habitus, auch so benahmen, als gehöre ihnen das Land,
verstärkte diese Wahrnehmung zusätzlich. Für den Einzelnen wurde die Frage
zunehmend unwichtiger, für wen er arbeitet (für sich), als die, was dabei (für
ihn) herauskam. Das postulierte eine Klasseninteresse
begann, sich in viele
Partikularinteressen aufzulösen. Die meisten behielten aber eine gewisse
kommunitaristische Grundhaltung zu ihrem Arbeitskollektiv, zu ihrem Wohnumfeld,
ja selbst zum nächsten Vertreter der Staatsmacht, dem
Abschnittsbevollmächtigten (ABV), die den Parteioberen schon immer suspekt war,
und die heute immer noch ein Grund für das mangelhafte gegenseitige Verständnis
zwischen West- und Ostdeutschen ist.
Spätestens 1989, nach den
Kommunalwahlen, war jedem halbwegs nüchtern denkenden DDR-Bürger klar, dass es
so nicht weitergehen konnte. Das staatliche und das wirtschaftliche System
waren in Selbstauflösung begriffen. Gleich ob in den Betrieben oder in der
Nationalen Volksarmee, ob in den Kulturinstitutionen oder in den Vereinen,
überall schien es, als würde jeder machen, was er will, als hätte die einstmals
allmächtige Partei die Kontrolle verloren. Die Korsettstangen begannen zu
brechen, und im Herbst 1989 war das Ende zumindest der bisherigen
Herrschaftsstrukturen absehbar, weil der Partei die Arbeiterklasse davonlief.
Der Rest ist hinlänglich
bekannt. An Runden Tischen, in Kirchen, Foren, Cafés und sonst wo wurde wie
wohl seit Kriegsende nicht mehr über die Zukunft debattiert, allerdings, wie
die Volkskammerwahlen im März 1990 zeigen sollten, frucht- und folgenlos. Damit
war das Debattieren faktisch beendet, der Weg zur Wiedervereinigung frei, und
wer noch auf eine andere sozialistische Alternative, etwa mit einer
starken Sozialdemokratie, gehofft hatte, konnte seine Hoffnungen, angesichts
des überwältigenden Erfolgs von Kohls CDU (Helmut, Helmut...), getrost begraben
und tat dies mehrheitlich auch. „Keine Experimente“ hieß es. Die Zeit für Den
Sozialismus war vorbei. Insofern war es kein Überlaufen mit wehenden
Fahnen, sondern eher ein Arrangieren mit den neuen Verhältnissen. So wie wir
uns in der nunmehr verblichenen DDR mit so manchen Verhältnissen arrangiert
hatten, so taten wir es in den neuen, den kapitalistischen Verhältnissen.
Die große Mehrheit derer, die
1989/90 „Wir sind ein Volk.“ riefen, wussten sicher nicht, was sie taten, dass
sie sich von einer kriselnden Gesellschaft schnurstracks in eine kriselnde
Wirtschaft begaben. Die friedliche Übernahme des osteuropäischen Marktes
bescherte dem Kapitalismus eine womöglich letzte Wachstumsphase, die 2007/2008
ihr vorläufiges Ende fand. In dem z.T. bereits zuvor, verschärft aber seit 2008
vorherrschenden Krisenreaktionsmodus von Politik und Wirtschaft[7],
ist das historisch handelnde Subjekt nicht mehr erkennbar. Seit dem Amtsantritt
Donald Trumps wird nicht mehr gehandelt, sondern verhandelt. So gewinnt rückblickend Francis Fukuyamas seinerzeitiges Diktum vom
„Ende der Geschichte“ auch dadurch eine gewisse Plausibilität, dass mit dem
Verschwinden des „real existierenden Sozialismus“ der Geschichte das handelnde
Subjekt abhandenkam. Damit kam die äußere Dialektik zum Erliegen, wohingegen,
wie wir heute wieder klar erkennen können, die innere Dialektik, also die
systemimmanente Widersprüchlichkeit, der nunmehr total globalisierten
kapitalistischen Gesellschaft immer deutlicher zu Tage tritt.
[1] Wer
verstehen will, was die Schaffung des Neuen Menschen in der Sowjetunion
der 1920er und 1930er Jahre in praxi bedeutete, sollte „Die Baugrube“
und „Tschewengur“ von Andreij Platonow lesen.
[2] „Die
Idee des Sozialismus“ ist der Titel eines Buches des Soziologen Axel Honneth. Ich habe dieses Buch nicht
gelesen.
[3]
Harry Meier, Gibt es Grenzen des ökonomischen Wachstums? Zur Kritik der
bürgerlichen Ideologie, Bd. 78. Berlin, 1977
[6] P.-J.
Proudhon, Qu´est-ce que la propriété, Paris, 1841. Zitiert nach: Karl Marx,
Philosophisch-ökonomische Manuskripte vom Jahre 1844, Leipzig, 1988, Anmerkung
147 des Herausgebers. Aus heutiger Sicht entbehrt es nicht einer gewissen
Ironie, dass Joachim Höppner, einer der profundesten Kenner der Geschichte des
Sozialismus, gerade diese Textpassage zur Illustration einer marxschen
Einlassung heranzieht.
[7] Siehe auch: Wolfgang Streeck. Gekaufte Zeit: Die
vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp
2015
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