Montag, 25. Februar 2019

Vom Scheitern

Warum verließ uns in den 1980er Jahren der historische Optimismus?

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte,
aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar
vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.                                                           
Karl Marx

Bald ist es 30 Jahre her, dass mit den ersten Leipziger Montagsdemonstrationen das Ende der DDR und damit auch das Ende des sozialistischen Experiments auf deutschem Boden eingeläutet wurde.  Ein paar Jahre zuvor hatte bereits die Solidarność mit dem Abriss des Sozialismus in Polen begonnen und unseren „Bruderstaat“ in eine politische Krise gestürzt. In der Folge von 89 brach der „Ostblock“ auseinander, die UdSSR entließ ihre osteuropäischen „Vasallenstaaten“ sowie ihre faktische Kolonie Mongolei in die „Freiheit“, um kurze Zeit später selbst auseinander zu brechen. Der „real existierende Sozialismus“ verschwand von der politischen Landkarte – lediglich Kuba und Nord-Korea widersetzten sich dem Trend (Jugoslawien und China hatten eigentlich nie dazu gehört), und es begann das Große Rollback (so Hermann Kant in einem Interview der Jungen Welt 1990). 
Das Große Rollback vollzog sich bislang in drei Phasen: ökonomisches Rollback,
soziales Rollback, politisches Rollback.  In Deutschland kann man jede dieser Phasen mit einem Jahrzehnt und einem exemplarischen Schlagwort verbinden: ökonomisches Rollback – Treuhandanstalt, soziales Rollback – Agenda 2010, politisches Rollback – AfD. Gerade mit letzterem Schlagwort, das andernorts (aus Gründen der Einfachheit) durch die Namen Trump, Erdogan, Orban, Le Pen ersetzt werden kann, sollte klar sein, dass das politische Rollback soweit fortgeschritten ist, dass seine Akteure auch den offenen Flirt mit dem Faschismus nicht mehr scheuen.  Und unter Faschismus werden hier nicht nur völkischer Nationalismus, offener Rassismus, Aggressivität und sonstige offenkundige Abscheulichkeiten verstanden, sondern auch und gerade die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (G. Dimitroff, VII. Weltkongress der Komintern 1935).
Das Große Rollback ist (fast) abgeschlossen. Der Kapitalismus kann tun und lassen, was er will: Ausbeutung verschärfen, Löhne drücken, Ressourcen aufbrauchen, Kriege führen, Land rauben, Meere verschmutzen, Böden vergiften, Tiere ausrotten, Klima aufheizen. Die Sozialdemokratie wie die gesamte politische Linke haben sich derweil sehenden Auges selbst zerlegt, der Widerstand scheint gebrochen. Mühsam nur versucht man wieder aufzustehen, wohl auch, um in dem absehbar kommenden Aufstand überhaupt noch eine Rolle spielen zu können. Es herrscht Depression.
Mir stellt sich derweil die Frage, was uns in den 1980er Jahren abhanden kam, dass wir dies zulassen konnten. Genauer: Warum und wohin verschwand unser historischer Optimismus, unsere Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen? Und: Wieso sind wir mit wehenden Fahnen übergelaufen?
Eine schlüssige Antwort darauf habe ich nicht. Ich kann nur einige Überlegungen anstellen, die sich natürlich zuvörderst aus meiner ganz persönlichen Erfahrung jener Zeit speisen, und versuchen, mehr oder minder plausible Erklärungen zu finden.
Um die Frage richtig einzukreisen, bedarf es zunächst eines Blickes auf das Vorgängerjahrzehnt, die 1970er Jahre.  1979, zum Ende des Jahrzehnts, war ich zwar noch keine 20 Jahre alt, hatte dafür aber wohl so viel 70er-Jahre-Geist inhaliert, dass es anscheinend für ein ganzes Leben reichen sollte. Ähnlich dem nach Ansicht vieler Historiker langen, von 1789 bis 1914 dauernden 19. Jahrhundert, war das achte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein langes. Es begann bereits 1967/68 und dauerte wohl bis zur Präsidentschaft Ronald Reagans 1981 bzw. bis zur „geistig-moralischen Wende“ Helmut Kohls 1982. In dieser Zeitrechnung waren die 70er im Westen das Jahrzehnt der Mondlandung, der amerikanischen Niederlage im Vietnamkrieg, des Punk, des Mehr-Demokratie-Wagens, der iranischen Revolution, des Aufbruchs. Davon blieb auch der Osten nicht gänzlich unberührt. Nach der bewaffneten Niederschlagung des  Prager Frühlings 1968 begann eine lange Periode der Konsolidierung und relativer politischer Stabilität, die zwar immer wieder von einzelnen Störereignissen wie 1974 der Sacharow-Äffäre in der Sowjetunion oder der Biermann-Ausbürgerung 1976 unterbrochen wurde, im Großen und Ganzen aber gekennzeichnet war durch Wirtschaftswachstum, zunehmenden Wohlstand und eine relativ offene Kulturpolitik. Eine entscheidende Rolle spielte sicher auch die KSZE-Schlussakte von Helsinki, in der der Westen den politischen Status Quo faktisch anerkannte und der Osten die Achtung der Menschenrechte zusagte. Im gleichen Jahr wurde die DDR (zusammen mit der BRD) Mitglied der UNO. Die heiße Phase des Kalten Krieges schien beendet - das Zauberwort hieß friedliche Koexistenz - Honecker hatte sein wichtigstes politisches Ziel erreicht, und die Partei konnte sich nun – im Positiven wie im Negativen - auf die eigene Bevölkerung konzentrieren.
Auch in meiner Erinnerung waren die 70er Jahre das Jahrzehnt des Aufbruchs. Die Nachkriegszeit war vorbei. Es ging uns vergleichsweise gut. Der Optimismus, zumindest auf unserer Seite, war riesig. Wir waren der Überzeugung, dass gesellschaftlicher Fortschritt von oben plan- und steuerbar sei. Das war zwar keine wirklich neue Idee; der ganze Leninismus/Stalinismus war schließlich getragen von diesem Gedanken der planvollen gesellschaftlichen Entwicklung  und der Schaffung des Neuen Menschen[1], nur boten sich inzwischen auch die wissenschaftlichen Werkzeuge in Gestalt von Allgemeiner Steuerungstheorie, damals noch Kybernetik genannt, und Systemtheorie an. In der DDR war es vor allem der Mathematiker und Philosoph Georg Klaus, der diese Linie vehement vertrat. Bemerkenswerterweise sprangen auch die Soziologie und die Politikwissenschaften im Westen auf diesen Zug auf. Erinnert sei nur an Talcott Parsons, Niklas Luhmann oder David Easton, deren Konzepte vom offiziellen Marxismus nicht nur negativ aufgenommen wurden. Anderseits ist auch das wiederum nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der für Kybernetik und Systemtheorie so essenzielle Begriff der Emergenz sich in wundersamer Weise in das Konzept des dialektischen Materialismus´ vom Umschlagen der Quantität in Qualität  einpasst.
Und doch wurde mit dem Beginn der 1980er Jahre alles anders. Um das zu verstehen, scheint es mir hilfreich, zu den Wurzeln der Idee des Sozialismus[2] zurück zu gehen. Die Idee des Sozialismus ist offensichtlich ein Kind der Aufklärung und des Frühkapitalismus. Sie entstand dabei aber nicht als eine Idee der anderen Staatlichkeit oder der gegenüber dem Kapitalismus grundsätzlich anderen Ökonomie, sondern als eine Idee des, wie wir heute sagen würden,  Kommunitarismus. Dies lässt sich anhand der Theorien und Praktiken u.a. von Robert Owen und Charles Fourier, den so genannten Frühsozialisten nachweisen. Am Beginn der Idee des Sozialismus standen also elementare Gerechtigkeitsfragen in der Nachfolge der Französischen Revolution und angesichts der eklatanten Verhältnisse im Frühkapitalismus.
Als Kind der Aufklärung, die von Beginn an ein Elitenprojekt (Carlo Strenger) gewesen ist, war auch die Idee des Sozialismus zunächst ein Projekt intellektueller Eliten, bis sie zur Sache der Arbeiterbewegung wurde, das dabei jedoch einer teilweise vehementen Reinheitskritik eben jener intellektuellen Eliten unterzogen wurde (Marx, Engels, Lenin, Luxemburg), um dann in den Wirren des ausgehenden I. Weltkriegs als institutionalisierter Sozialismus wieder zum Elitenprojekt zu werden. Als solches muss man den institutionalisierten Sozialismus auch in der DDR ansehen. Nur waren es hierzulande, anders als im nachrevolutionären Russland, nicht intellektuelle Eliten, die das Projekt vorantrieben, sondern Arbeitereliten, Menschen aus dem Urgrund der Arbeiterbewegung: in Konzentrationslagern, im antifaschistischen Untergrund und im Exil gestählte Kader der KPD im Verein mit Teilen der SPD. Es waren schlicht die Überlebenden.
Hier scheint mir doch ein wesentlicher Erklärungsansatz für das letztendliche Scheitern des Projektes zu liegen: Das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis. Die Theorie des Sozialismus war ausgearbeitet worden von Intellektuellen des 19. Jahrhunderts (Marx, Lenin, Trotzki), und sie traf nun auf die Realität des 20. Prognostisch reichte die Theorie nur bis fünf Minuten nach der Revolution, bis zur Diktatur des Proletariats, die dann doch nur die Diktatur einer Partei werden sollte. Wer Marx verstanden und Bill Clinton zugehört hat, weiß: „It´s the economy, stupid.“ Weil keiner der intellektuellen Theoretiker über einen stringenten Plan verfügte, stritt man sich in Russland bspw. über die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und dekretierte später faktisch den millionenfachen Hungertod infolge der Massenkollektivierung der Landwirtschaft. Bezogen auf die DDR der 1970/80er Jahre verweist der Philosoph Peter Ruben rückblickend darauf, dass auch hier die Partei keinen ökonomischen Plan hatte. Man wusste schlichtweg nicht, was außer den Eigentumsverhältnissen eine sozialistische Volkswirtschaft von einer kapitalistischen unterscheidet. Die Idee des Sozialismus der Theoretiker war eine rein staatszentrierte, sie war weder ökonomisch noch gesamtgesellschaftlich durchdacht. So klammerte man sich, wie oben erwähnt, an kybernetische und systemtheoretische Ansätze, die ob ihrer Objektivität und Gesetzmäßigkeit gewissermaßen aus sich heraus das Richtige bewirken sollten.
Politökonomische Texte jener Zeit zeigen, dass man sich auf einer theoretischen Ebene der Probleme, etwa im Umweltbereich oder in der Innovationspolitik, sehr wohl bewusst war. So bereitete der Report „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1972 auch den Wirtschaftswissenschaftlern der DDR gehöriges Kopfzerbrechen. In einem Text der Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“, die zwischen 1971 und 1986 vom Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegeben wurde, finden sich u.a. folgende Überlegungen:
Langfristig gesehen wird ohne Zweifel das Tempo des ökonomischen Wachstums immer stärker abhängen von dem Tempo der Senkung des spezifischen Materialverbrauchs. Die Annäherung beider Größen wird somit zu einer wichtigen Gleichgewichtsbedingung für das ökonomische Wachstum. Dies stellt hohe Anforderungen an Wissenschaft und Technik, an die intensive Gestaltung des gesamten Reproduktionsprozesses, um durch Verbesserung der Gebrauchswerteigenschaften eine wesentlich höhere Lebensdauer der Erzeugnisse zu ermöglichen und somit pro Bedürfniseinheit weniger Rohstoffe zu verbrauchen, sowie durch Erhöhung des "Veredlungsgrades" der Produkte den Rohstoffanteil in allen Waren zu senken, eine kontinuierliche Rückgewinnung von Rohstoffen aus Abfall und veralteten Gebrauchsgütern zu sichern, die Substitution von knappen Rohstoffen durch verfügbare Rohstoffe und Materialien zu ermöglichen, den verminderten Verbrauch von Rohstoffen durch Entwicklung rohstoffarmer Technologien zu gewährleisten, durch die Förderung von rationellen Konsumtionsformen eine wesentliche Senkung des Rohstoffverbrauchs pro Bedürfniseinheit zu erreichen. Um ein solches Ziel erreichen zu können, brauchen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten neue fundamentale wissenschaftliche Lösungen, die eine noch höhere Verringerung des Energie-, Rohstoff- und Materialverbrauchs ermöglichen… Der ökonomische Wettbewerb mit dem Imperialismus, die notwendigen Aufwendungen für die Verteidigung der sozialistischen Länder haben ohne Zweifel in den sozialistischen Ländern mit dazu beigetragen, daß das auf diesem Gebiet Notwendige nicht in vollem Umfang getan werden konnte. Mit der gewachsenen Leistungskraft unserer Wirtschaft erhöhen sich jedoch unsere Möglichkeiten, auch auf diesem Gebiet das gesellschaftlich Notwendige schrittweise zu realisieren. Hierbei müssen wir auch bei der natürlichen Reproduktion zwischen zwei Typen der Reproduktion der natürlichen Umwelt unterscheiden - dem extensiven und dem intensiven Reproduktionstyp. Der extensive Typ der erweiterten Reproduktion der natürlichen Umwelt ist dadurch gekennzeichnet, daß immer mehr Naturstoffe in den ökonomischen Kreislauf ein bezogen werden, ohne daß sich der ökonomische und technologische Nutzungsgrad der Umwelt wesentlich erhöht. Beim gegenwärtig erreichten Entwicklungsstand der Umweltnutzung ist es völlig klar, daß der Übergang zum intensiven Typ der Umweltreproduktion zu einer absoluten Notwendigkeit geworden ist. Dies gilt besonders für ein solches Land wie die DDR, das in Bezug auf Einwohner- und Besiedlungsdichte, Industrialisierungsgrad, Elektrifizierung, Flächenleistung und Verkehrserschließung - also in Bezug auf die Nutzung der natürlichen Umwelt - ganz vorn in der Welt liegt. [3]
Was hier knapp skizziert wurde, ist ja nicht weniger als das Programm einer „grünen Ökonomie“ möglichst geschlossener Stoffkreisläufe. Theoretisch also war alles klar. Entscheidend aber sind zum einen die Verweise auf den „ökonomischen Wettbewerb mit dem Imperialismus“ und die „notwendigen Aufwendungen für die Verteidigung“, zum anderen die Betonung der Notwendigkeit „wachsender Leistungskraft“, sprich von Wirtschaftswachstum. 
Nach meiner Überzeugung war es falsch, sich auf den ökonomischen Wettbewerb mit dem Kapitalismus zu fokussieren. Der Fehler bestand darin, sich einseitig und nur auf die Wirtschaft zu konzentrieren, dem Westen auf diesem Feld faktisch hinterherzulaufen. Angesichts von dessen Potenzen, die sich bspw. in der Mondlandung, aber auch und vor allem in dem ungeheuren Innovationsschub in der Informations- und Kommunikationstechnik (u.a. Kleinrechner von DEC, PC von IBM, XEROX, ARPAnet) zum Ende der 1970er Jahre zeigten, war  dieses Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies einsehend, verlegte man sich aufs Raubkopieren. Im Rahmen der „sozialistischen Arbeitsteilung“ bauten die Russen den IBM Mainframe nach, die  Bulgaren die VAX von DEC und die DDR den PC. Dass Carl-Zeiss Jena Mitte der 80er Jahre von der Partei den Auftrag erhielt, den 16-bit-Prozessor und den 1-Mbit-Speicher zu entwickeln, war insofern folgerichtig, als allein dieser Betrieb traditionell über die optischen und elektronischen Techniken verfügte, die Originalchips von Intel zu analysieren und dann nachzubauen. Im Land erntete diese Technologiepolitik nur Spott und Häme. „Wir haben jetzt den Ein-Milligramm-Chip aus einheimischen Rohkartoffeln.“ schrieb die Satirezeitschrift „Eulenspiegel“.
Was bei dieser einseitigen Fixierung auf das Feld des ökonomischen und technologischen Wettbewerbs verloren ging, war eindeutig die kulturelle Hegemonie, die nach Antonio Gramsci  mit entscheidend ist für den Erfolg der Idee des Sozialismus. Der Optimismus der 70er Jahre speiste sich ja keineswegs aus dem Bewusstsein einer irgendwie gearteten wirtschaftlichen Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus, im Gegenteil, wir waren die armen Verwandten, sondern aus der Überzeugung, dass, gleichgültig, was die da drüben machen, wir auf der richtigen Seite stehen, weil das, was wir machen, moralisch richtig und vernünftig ist.
Natürlich waren wir ideologisch indoktriniert. Das zu bestreiten, wäre mindestens Selbstbetrug. Wer jedoch heute behauptet, weil er ja in einer „freien Gesellschaft“ lebt, nicht ideologisch indoktriniert zu sein, hat das Wesen und die mannigfaltigen Formen von Ideologie nicht verstanden. Was ist denn der Konsumismus anderes, der Warenfetischismus, wie Marx ihn nannte, als die Ideologie des puren Weltverbrauchs im Interesse der Profitmaximierung. Und ist es nicht reine Demagogie, wenn einerseits die Verbrechen des Stalinismus und des Maoismus als gleichsam dem Sozialismus inhärent dargestellt werden und somit dafür herhalten müssen, die gesamte Idee des Sozialismus zu diffamieren, und andererseits so getan wird, als hätten der Faschismus und die Verbrechen der Nazis so rein gar nichts mit dem Kapitalismus zu tun? Oder eine Nummer kleiner: Wenn CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak kürzlich bei Maybrit Illner behauptet, wir würden nicht im Kapitalismus leben, sondern in der sozialen Marktwirtschaft, dann ist das doch wohl Ideologie und Demagogie zugleich.
Aber zurück zu den 70er Jahren und zur Wirtschaft. Es ist höchst interessant zu beobachten, dass im Zuge der Analyse und Aufarbeitung der Finanzkrise von 2008 inzwischen die Erkenntnis reift, dass deren Ursachen in eben jenen 70er Jahren zu verorten sind. So hat dies der renommierte Soziologe Wolfgang Streeck in seinem Buch „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ von 2013 breit dargelegt, und jüngst hat der Historiker Michael Bösch speziell das Jahr 1979 als das Jahr des Umbruchs thematisiert, in dem nach seiner Darstellung die Keime der heutigen Krisenphänomene gelegt wurden.
In einem Text von 1998[4] hat der ehemalige DDR-Philosoph Peter Ruben die ökonomische Entwicklung der DDR in Beziehung zu den kapitalistischen Entwicklungs-, Prosperitäts- und Krisenzyklen gesetzt und dabei eine erstaunliche Parallelität insbesondere der Juglar-Zyklen entdeckt. Juglar -Zyklen sind die kurzen, 9 bis 11 Jahre dauernden Konjunkturzyklen der kapitalistischen Wirtschaft. (Wie die aktuellen Börsentrends zeigen, befinden wir uns gerade am Ende des Juglar-Zyklus, der mit der Finanzkrise 2008 begann.) Nach Peter Ruben standen die 70er Jahre im Zeichen des 4. Juglar-Zyklus der DDR-Wirtschaft. Die von Honecker 1973 proklamierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wurde maßgeblich mit Auslandsschulden finanziert, und dies gelang, trotz aller Systemgegensätze, auch deshalb vergleichsweise leicht, weil die kapitalistische Weltwirtschaft sich gerade in diesem Jahrzehnt bekanntermaßen in einer schweren Wirtschaftskrise befand und die Banken händeringend nach Schuldnern suchten. Sie fanden diese in den RGW-Staaten, die in den Jahren 1971 bis 1981 ihre Kreditaufnahme um das 11fache erhöhten. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass zur gleichen Zeit, da im Westen unter den Deckmantel des Neoliberalismus die staatsschuldenfinanzierte Rettung des Kapitalismus anlief, die (trotz deutscher „Schwarzer Null“) bis heute anhält, der institutionalisierte Sozialismus den gleichen fatalen Weg einschlug.  Ruben schreibt dazu: „Es ist dies eine Merkwürdigkeit der kommunistischen Ideologie, die zwar im eigenen Lande ‘sozialistische Millionäre’ und den Markt verabscheut, aber hemmungslos angebotene Kredite aus ‘kapitalistischen Mehrwerten’ des Auslands in Empfang nimmt und obendrein die im Ausland freundlich attestierte Bonität im Inland als Seriosität der eigenen Führungskunst und staatsmännischen Klugheit zelebriert.“[5]
Von den ökonomischen Verwerfungen wussten wir natürlich nichts. Schon gar nichts davon, dass die DDR, am Rohstofftropf der UdSSR hängend, zur Zahlung immer höherer Preise für Erdöl, Gas und Eisenerz gezwungen war, um so die Finanzierung der Roten Armee und damit des eigenen Überlebens sicherzustellen. Partei- und Staatsgeheimnis! Für uns ging es vorwärts in eine lichte Zukunft. Die 80er Jahre begannen mit dem Tod Breschnews in der Sowjetunion, dem nachfolgenden Kuddelmuddel in der KPdSU-Führung, wo schlussendlich Gorbatschow zwei todkranken Interimsgeneralsekretären folgen sollte. Heute wissen wir, Gorbatschow war der Totengräber des institutionalisierten Sozialismus. Seine Ideen, nicht unähnlich denen des noch in den 70er Jahren vehement als Revisionismus kritisierten Eurokommunismus italienischer und französischer Prägung wirkten gerade auf uns Junge überaus attraktiv und innovativ. Hinzu kam die Nachrüstungsdebatte anlässlich des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, die bekanntlich eine Systemgrenzen überwindende Friedensbewegung vor allem in den beiden deutschen Republiken auslöste. Da gerade die deutschen Lande als Zielgebiete für die SS-20 und Pershing 2 in Frage kamen, erkannten wir,  gleichsam in einem Schub des Erwachsenwerdens, gemeinsame Interessen, die über Systemgrenzen hinausgehen.  Der kollektive Optimismus der 70er Jahre wich nun der kollektiven Sorge angesichts der atomaren Bedrohung von beiden Seiten.
Als Erwachsener erlebte ich die DDR erst ab Mitte der 80er Jahre nach der Rückkehr aus dem Mutterland des institutionalisierten Sozialismus. Es war ernüchternd, das Land steckte wahrlich in der Depression, einer Depression, die man in den 70ern zurecht noch dem Westen diagnostizierte. Von den Menschen, denen ich privat und vor allem im beruflichen Umfeld begegnete, glaubte kaum noch einer an die Zukunftsfähigkeit des Projektes. Angesichts der Politik Gorbatschows war die SED in die Defensive geraten, sie führte offensichtlich einen Abwehrkampf gegen das letztlich Unvermeidliche. Es rächte sich nun, dass man über die eigene Dogmatik des Klassenkampfes hinaus keine Argumente für die eigene Sache hatte. Der DDR fehlte von Anfang an ein gemeinsamer Gründungsmythos, wie ihn die Sowjetunion in der Oktoberrevolution und selbst dem nachfolgenden blutigen Bürgerkrieg besaß und der im Großen Vaterländischen Krieg nochmals gehörig aufgefrischt wurde. Anstatt eines gemeinsamen Gründungsmythos wurde in den Schulen die Tradition des Kampfes gegen einen Gegner vermittelt, den man nie gesehen hatte und, wenn es nach der Partei ginge, auch nie zu sehen bekommen sollte – den Kapitalismus, den Imperialismus, den Faschismus. Abstrakta, von denen man ohne Westfernsehen rein gar nichts erfahren hätte. Anders als die KPdSU konnte die SED nicht einmal den materiellen und sozialen Fortschritt für sich verbuchen. Im Vergleich zur Zeit der Zarenherrschaft ging es den allermeisten Bewohnern der Sowjetunion wirklich erheblich besser; für die Bewohner der DDR hingegen fiel der Vergleich mit der Zeit vor 1945 eher ambivalent und der mit dem Westen eindeutig negativ aus.
Es rächte sich aber auch, dass die SED-Führung offenbar der Überzeugungskraft ihrer eigenen Ideen misstraute. Ich denke, es war falsch, den institutionalisierten Sozialismus nach innen mit Gewalt zu verteidigen. Ich gestehe den handelnden Personen ihre hehren Motive zu. Eine Begleiterscheinung von Macht ist jedoch die Angst vor dem Verlust der Macht. Hat man absolute Macht, kann die Angst existenziell werden. Gorbatschow hat diese Angst entweder nicht verspürt oder aber durchbrochen. Honecker, Mielke & Co. waren dazu offenbar nicht der Lage. Andererseits ist es angesichts der bekannten Geschichte der Abwehrkämpfe gegen die Konterrevolution (Pariser Kommune, Bürgerkrieg in Russland, Novemberrevolution, Spanischer Bürgerkrieg, Operation Schweinebucht, Vietnamkrieg, Pinochet-Putsch in Chile) schon aus psychologischer Sicht nur zu verständlich, dass die Parteioberen bei jeder nicht von ihnen kontrollierten Menschenansammlung das Fracksausen bekamen. Schließlich hatten sie ein Verbrechen begangen gegen die herrschende Ordnung, den Kapitalismus. Es ging auch um ihr Leben.
In ihrer, noch immer den Geist des Stalinismus atmenden Angst vor dem Feind im Innern, wurde als solcher der Kleinbürger ausgemacht. Im Verlauf der 70er Jahre wurden auch noch die letzten selbstständigen Kleinbetriebe verstaatlicht oder in Genossenschaften gezwungen. Am anderen Ende der volkswirtschaftlichen Pyramide wurden die größeren Betriebe zu Kombinaten zusammengeführt. Auch dies wieder eine Parallele zur Entwicklung in den westlichen Industriestaaten, in denen bereits etwas früher die Fusionitis eingesetzt hatte. Das Ergebnis war hier wie da das gleiche: Ob Profitmaximierung oder Planerfüllung, beides führte zu immobilen, bürokratischen und innovationsfeindlichen Monopolunternehmen, die mit dem Tempo der technologischen Entwicklung schlichtweg überfordert waren.
Dem seiner tagtäglichen Arbeit nachgehenden Staatsvolk der DDR, mich selbst inbegriffen, kam es dabei immer mehr so ähnlich vor, wie es Pierre-Joseph Proudhon bereits in der Frühzeit des Sozialismus beschrieben hat, als er in einer Polemik gegen die zeitgenössischen kommunistischen Ideen schrieb:
Die Mitglieder einer Gemeinschaft, das ist wahr, besitzen nichts zu eigen; aber die Gemeinschaft ist Eigentümer, und zwar nicht nur der Güter, sondern auch der Personen und Willensbestrebungen. Eben nach diesem Prinzip des souveränen Eigentums wird in jeder Gemeinschaft die Arbeit, die doch für den Menschen nur eine von der Natur auferlegte Bedingung sein soll, zu einem menschlichen Kommando und dadurch selbst verhaßt… Der Starke muß das Arbeitspensum des Schwachen liefern, obwohl dies eine Pflicht der Wohltätigkeit, nicht des Zwanges ist, der Fleißige die des Faulen, obwohl das ungerecht ist, der Geschickte die des Blöden, obwohl das absurd ist; kurz, der Mensch ist seines Ichs beraubt, seines eigenen Antriebs, seines Talents, seiner Neigungen, und muß sich der Majestät und dem Dogmatismus des Kollektivs unterwerfen. - Die Gemeinschaft ist ungleich, aber im entgegengesetzten Sinne wie das Eigentum. Das Eigentum ist Ausbeutung des Schwachen durch den Starken; die Gemeinschaft ist Ausbeutung des Starken durch den Schwachen… Die Gemeinschaft ist Unterdrückung und Sklaverei.[6]
Der Staat der Partei als Gesamtkapitalist, das also war die vorherrschende Wahrnehmung. Oder wie es jüngst der Brite Paul Mason im Guardian im historischen Rückblick ausdrückte:
Der Sowjetkommunismus hatte mehr mit dem Kapitalismus gemeinsam, als die Vertreter beider Systeme zugeben würden. Beide Systeme sind (oder waren) besessen davon, Wirtschaftswachstum zu generieren. Beide sind bereit, erstaunliches Leid zu verursachen, um dieses und andere Ziele zu erreichen. Beide haben eine Zukunft versprochen, in der wir nur ein paar Stunden die Woche arbeiten müssen, verlangen stattdessen aber endlose, brutale Buckelei. Beide sind entmenschlichend. Beide sind absolutistisch und beharren darauf, dass die ihre – und wirklich nur die ihre – die einzig wahre Religion sei.
Dass die Parteioberen, allen voran Honecker und Mielke, sich, in mir damals wie heute völlig unverständlichem Habitus, auch so benahmen, als gehöre ihnen das Land, verstärkte diese Wahrnehmung zusätzlich. Für den Einzelnen wurde die Frage zunehmend unwichtiger, für wen er arbeitet (für sich), als die, was dabei (für ihn) herauskam. Das postulierte eine Klasseninteresse begann, sich in viele Partikularinteressen aufzulösen. Die meisten behielten aber eine gewisse kommunitaristische Grundhaltung zu ihrem Arbeitskollektiv, zu ihrem Wohnumfeld, ja selbst zum nächsten Vertreter der Staatsmacht, dem Abschnittsbevollmächtigten (ABV), die den Parteioberen schon immer suspekt war, und die heute immer noch ein Grund für das mangelhafte gegenseitige Verständnis zwischen West- und Ostdeutschen ist.
Spätestens 1989, nach den Kommunalwahlen, war jedem halbwegs nüchtern denkenden DDR-Bürger klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Das staatliche und das wirtschaftliche System waren in Selbstauflösung begriffen. Gleich ob in den Betrieben oder in der Nationalen Volksarmee, ob in den Kulturinstitutionen oder in den Vereinen, überall schien es, als würde jeder machen, was er will, als hätte die einstmals allmächtige Partei die Kontrolle verloren. Die Korsettstangen begannen zu brechen, und im Herbst 1989 war das Ende zumindest der bisherigen Herrschaftsstrukturen absehbar, weil der Partei die Arbeiterklasse davonlief.
Der Rest ist hinlänglich bekannt. An Runden Tischen, in Kirchen, Foren, Cafés und sonst wo wurde wie wohl seit Kriegsende nicht mehr über die Zukunft debattiert, allerdings, wie die Volkskammerwahlen im März 1990 zeigen sollten, frucht- und folgenlos. Damit war das Debattieren faktisch beendet, der Weg zur Wiedervereinigung frei, und wer noch auf eine andere sozialistische Alternative, etwa mit einer starken Sozialdemokratie, gehofft hatte, konnte seine Hoffnungen, angesichts des überwältigenden Erfolgs von Kohls CDU (Helmut, Helmut...), getrost begraben und tat dies mehrheitlich auch. „Keine Experimente“ hieß es. Die Zeit für Den Sozialismus war vorbei. Insofern war es kein Überlaufen mit wehenden Fahnen, sondern eher ein Arrangieren mit den neuen Verhältnissen. So wie wir uns in der nunmehr verblichenen DDR mit so manchen Verhältnissen arrangiert hatten, so taten wir es in den neuen, den kapitalistischen Verhältnissen.
Die große Mehrheit derer, die 1989/90 „Wir sind ein Volk.“ riefen, wussten sicher nicht, was sie taten, dass sie sich von einer kriselnden Gesellschaft schnurstracks in eine kriselnde Wirtschaft begaben. Die friedliche Übernahme des osteuropäischen Marktes bescherte dem Kapitalismus eine womöglich letzte Wachstumsphase, die 2007/2008 ihr vorläufiges Ende fand. In dem z.T. bereits zuvor, verschärft aber seit 2008 vorherrschenden Krisenreaktionsmodus von Politik und Wirtschaft[7], ist das historisch handelnde Subjekt nicht mehr erkennbar. Seit dem Amtsantritt Donald Trumps wird nicht mehr gehandelt, sondern verhandelt.  So gewinnt rückblickend Francis Fukuyamas seinerzeitiges Diktum vom „Ende der Geschichte“ auch dadurch eine gewisse Plausibilität, dass mit dem Verschwinden des „real existierenden Sozialismus“ der Geschichte das handelnde Subjekt abhandenkam. Damit kam die äußere Dialektik zum Erliegen, wohingegen, wie wir heute wieder klar erkennen können, die innere Dialektik, also die systemimmanente Widersprüchlichkeit, der nunmehr total globalisierten kapitalistischen Gesellschaft immer deutlicher zu Tage tritt.




[1] Wer verstehen will, was die Schaffung des Neuen Menschen in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre in praxi bedeutete, sollte „Die Baugrube“ und „Tschewengur“ von Andreij Platonow lesen.
[2] „Die Idee des Sozialismus“ ist der Titel eines Buches des Soziologen  Axel Honneth. Ich habe dieses Buch nicht gelesen.
[3] Harry Meier, Gibt es Grenzen des ökonomischen Wachstums? Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, Bd. 78. Berlin, 1977
[5] Ebenda, S. 22
[6] P.-J. Proudhon, Qu´est-ce que la propriété, Paris, 1841. Zitiert nach: Karl Marx, Philosophisch-ökonomische Manuskripte vom Jahre 1844, Leipzig, 1988, Anmerkung 147 des Herausgebers. Aus heutiger Sicht entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Joachim Höppner, einer der profundesten Kenner der Geschichte des Sozialismus, gerade diese Textpassage zur Illustration einer marxschen Einlassung heranzieht.
[7] Siehe auch: Wolfgang Streeck. Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp 2015

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