Viele, die leben,
verdienen den Tod.
Und manche, die sterben,
verdienen das Leben.
Kannst du es ihnen geben?
Gandalf
der Graue, Zauberer
Vor
einiger Zeit flatterte mir ein Brief meiner Krankenkasse ins Haus.
Darin ein Organspendeausweis und die Bitte der Kasse,
diesen auszufüllen und künftig stets bei mir zu tragen.
Das
Thema Organspende ist im öffentlichen Diskurs seit längerem
präsent, wobei an zentraler Stelle die Frage nach dem möglichen
Missbrauchspotenzial steht, das sich aus strukturellen Gründen im
System der Transplantationsmedizin eröffnet. Debattiert wird nicht
die Praxis der Organspende selbst, sondern ihre institutionellen
Modalitäten, gewissermaßen die Ethik der
Transplantationsbürokratie. Was hingegen in der Öffentlichkeit so
gut wie gar nicht und wenn überhaupt, dann eher marginal zur Sprache
kommt, ist die Frage, ob die Entnahme eines Organs vom toten Körper
eines Menschen bzw. vom Körper eines toten Menschen zum Zwecke der
Transplantation in den Körper eines anderen, lebenden Menschen
gerechtfertigt ist. Zu offensichtlich scheint auf den ersten Blick
der hinter der Bereitschaft zur Organspende stehende Altruismus,
als dass unter modernen, zivilisierten Menschen darüber
ernsthaft diskutiert werden könnte. So suggeriert es auch die
laufende Plakatkampagne der Stiftung Organspende. Wer wollte
bestreiten, dass es gut ist, mit der Spende der eigenen Organe
anderen Menschen das Leben zu retten, zumal die Organentnahme
erst nach dem eigenen Tod geschieht. Man gibt damit ja nichts von
sich, was man zum Leben noch bräuchte, da dieses dann nicht mehr ist
und auch nicht mehr sein wird. Und schließlich könnte man selbst
unversehens in die Situation geraten, zum eigenen Überleben auf ein
Spenderorgan angewiesen zu sein. Die Organspende erscheint somit als
solidarischer Akt und die Bereitschaft dazu als solidarische Geste.
Der kategorische Imperativ Kants wie auch das Fairness-Gebot des
Liberalismus lassen sich in geradezu beispielhafter Weise
anwenden, so dass aus moralischer Sicht nichts dagegen, sondern eher
alles dafür spricht, der Bitte meiner Kasse umgehend
nachzukommen, ganz gleich welche institutionellen
Ungereimtheiten sich bei der Vergabe von Spenderorganen im
Hintergrund auch abspielen mögen.
Trotzdem liegt der besagte Organspendeausweis noch unausgefüllt in
meinem Wohnzimmer. Einerseits trage ich seit vielen Jahren schon einen
ausgefüllten bei mir, weil es mir eben aus den genannten Gründen gerechtfertigt
schien. Zum anderen aber tauchten, als ich mich mit der konkreten Materie näher
zu beschäftigen begann, gewisse Zweifel an einem medizinischen und
juristischen Aspekt der Organspendepraxis auf, dem Hirntod nämlich.
Für mich war es doch einigermaßen überraschend zu erfahren, dass
der Hirntod als medizinische Todesindikation erst seit 1967 existiert. Bis
dahin galten über Jahrhunderte und Jahrtausende allein organische und
äußerliche Anzeichen als untrügliche Kriterien dafür, dass der Tod einer Person
eingetreten ist: Atem- und Herzstillstand, Leichenstarre, Totenflecken,
einsetzende Verwesung usw. usf. Das Konzept, dass der Tod bereits mit dem irreversiblen
Koma, also mit dem Ausfall bestimmter Hirnfunktionen eingetreten
sei, wurde 1967 von einer Gutachterkommission der Harvard Medical School
vorgestellt. Die Darmstädter Philosophin Petra Gehring schreibt dazu: „Der
Bericht der Expertengruppe legt eine Anzahl medizinischer Testkriterien fest,
die auf den Nachweis des Erlöschens wichtiger Hirnfunktionen abzielen, so dass
bei zügiger Durchführung der Tests der vollständige Tod eines bewusstlosen
Menschen am Krankenbett oder auch auf dem Operationstisch nahezu sofort – und
zwar juristisch verbindlich – festgestellt werden kann.“[1]
Das seinerzeit neuartige Konzept des Hirntods fand schnell internationale
Anerkennung und liegt grundsätzlich auch der Todesdefinition im deutschen
Transplantationsgesetz zu Grunde. In §3 TPG heißt es:
(2) Die Entnahme von Organen oder
Geweben ist unzulässig, wenn
1. die Person, deren
Tod festgestellt ist, der Organ- oder Gewebeentnahme widersprochen hatte,
2. nicht vor der
Entnahme bei dem Organ- oder Gewebespender der endgültige, nicht behebbare Ausfall
der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach
Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft
entsprechen, festgestellt ist.
So bestimmt es auch die Deutsche Stiftung Organspende (DSO):
Der Hirntod ist definiert als
irreversibel erloschene Gesamtfunktion des Gehirns (Großhirn, Kleinhirn und
Hirnstamm).
Und weiter legt sie bzw. die Bundesärztekammer die Kriterien für
die Hirntodfeststellung und eben jene vom Gesetz geforderten Verfahrensregeln
für deren Vollzug fest.
Was
mir zu denken gibt und in gewisser Weise auch zu schaffen macht, ist
mehrerlei. Da macht zunächst einmal der Sachverhalt stutzig, dass
das Konzept des Hirntods in seiner praktizierten Fassung just in der
Zeit entwickelt wurde, als die Apparatemedizin auf der einen und die
medizinischen Transplantationstechniken auf der anderen Seite einen
solchen Entwicklungsstand erreicht hatten, dass es möglich
wurde, lebende Organe von komatösen Patienten zum Zwecke der
Transplantation zu entnehmen. Diesen Zusammenhang belegt die
Harvard-Kommission selbst: Patienten mit einer irreversiblen
Hirnschädigung könnten dank moderner Apparaturen zur
Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen zwar sehr lange am Leben
gehalten werden, dies sei jedoch weder den Angehörigen noch den
Kliniken bzw. dem Gesundheitssystem insgesamt zuzumuten. Und weiter
erleichtere das neue Todeskriterium die Beschaffung von
transplantationsgeeigneten Organen. Da liegt der Verdacht nicht fern,
dass es bei der Inauguration des Hirntods schlicht um ökonomische
Interessen gegangen sein könnte und diese möglicherweise auch
weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Nicht, dass ökonomische
Argumentationen verwerflich wären, erst recht nicht,
wenn es um praktische Aspekte des Gesundheitswesens geht. Wir leben
in einer durch und durch ökonomisierten Gesellschaft mit einem
Gesundheitssystem, in dem, auch wenn man es als konkret Betroffener
im Einzelfall anders sehen mag, nicht alles, was machbar wäre, auch
wirklich wünschens- oder erstrebenswert ist. Ich glaube jedenfalls
nicht, dass wir Säle oder Hallen mit irreversibel komatösen
Patienten befüllen sollten, deren Kreislauf nur noch mittels
aufwändiger Apparaturen am Zirkulieren gehalten wird, und die
auf diese Weise z. T. über Jahre hinweg in einem Zustand
zwischen Leben und Tod dahin vegetieren, bis schließlich
auch die Maschinen die Vitalfunktionen nicht mehr aufrecht erhalten
können. Auch das hätte mit einem Tod in Würde, wie ihn sich wohl
jeder wünscht, nichts gemein.
Dann ist da das Kriterium selbst. Der Mensch, die Person, deren
Hirntod festgestellt wird, wird medizinisch gleichsam auf ein
einziges, wenn auch höchst wichtiges und hoch komplexes Organ reduziert.
An anderer Stelle hatte ich zwar vor einiger Zeit deklariert: „Mein Gehirn ist mein Ich.“, jedoch meinte dieser
Satz in jenem Zusammenhang keineswegs, dass sich mein Personsein auf mein
Gehirnhaben reduzieren ließe. Es ist doch schon so, dass wir einen Menschen zunächst
einmal anhand seiner Körperlichkeit als Menschen wahrnehmen. Wir haben ein
Sensorium dafür, einen vor uns liegenden, stehenden oder sich bewegenden
Menschen eben genau als Menschen, als Artgenossen, als unsereins zu identifizieren,
und dieses Sensorium funktioniert, auch ohne dass wir mit dem Betreffenden auch
nur ein Wort oder einen Blick gewechselt hätten. Dass der andere Träger eines
komplexen, hochentwickelten und zu Bewusstsein fähigen Nervensystems ist,
spielt dabei überhaupt keine Rolle. Auf einem sehr basalen Wahrnehmungsniveau
erkennen Menschen einander als Menschen.
Im
Kern läuft das Hirntodkriterium darauf hinaus, dass, trotzdem unsere
basale Wahrnehmung in einem irreversibel komatösen Patienten
noch einen Menschen zu sehen vermag, nach medizinischen Maßstäben
vor uns lediglich ein funktional menschenähnlicher, organischer
Körper liegt, dessen eigentliches Menschsein mit dem Erlöschen
seiner Hirnfunktionen beendet ist und der demzufolge, obzwar
biologisch noch lebendig, nicht mehr der Gattung Mensch und
gewissermaßen überhaupt keinem bekannten Typ von
Lebewesen angehört. Was aber ist dieser Körper dann?
Ein Zombie etwa? Dieses Wesen da ist ja weder im
eigentlichen Sinne lebendig, noch im eigentlichen Sinne tot, und doch
sträubt sich die Intuition dagegen, in ihm etwas anderes zu sehen
als einen Menschen. Ethiker, wie etwa der Bielefelder Philosoph Ralf
Stoecker, plädieren inzwischen dafür, diesen
„Aggregatzustand“ mit dem neuen Status
eines Sterbenden zu bezeichnen, dem zwar die
Menschenwürde nach Art. 1 GG zusteht, dem aber sehr wohl Organe
entnommen werden können und der anschließend in den
eigentlichen Tod versetzt werden darf. Mir erscheint dieser
Vorschlag als begriffliche Sophisterei, der es in erster Linie um die
Rechtfertigung der gängigen medizinischen Praxis geht.
Koma
nennt man die schwerste Form einer quantitativen Bewusstseinsstörung.
Irreversibles Koma bedeutet, dass das Bewusstsein mit
den bekannten medizinischen Mitteln nicht wieder hergestellt werden
kann. Liegt der Irreversibilität der komplette Funktionsausfall von
Großhirn, Kleinhirn und Stammhirn zu Grunde, wird der Hirntod
erklärt, weil ohne diese Hirnfunktionen kein autonomes menschliches
Leben möglich ist, und laut Transplantationsgesetz können
Organe entnommen werden. Die Entscheidung über den Zeitpunkt
der Hirntodfeststellung obliegt allein hochspezialisierten Ärzten
bzw. Ärzteteams, denen damit qua Gesetz die Definitionshoheit auch
über die Auslegung der Kriterien zugewiesen wird. Sie
entscheiden gleichsam kontraintuitiv und gänzlich gegen unsere oben
geschilderte basale Wahrnehmung, die ja auch sie selbst haben
müssen. Sie allein entscheiden, wann tot ist. Dieser Art
zu Sterben eignet m. E. etwas unangenehm Technisches, zumal
dem ganzen Prozess eine willkürliche, wenn auch
naturwissenschaftlich begründete Setzung zu Grunde liegt. In dem Fernsehfilm "Erlkönig" (2007) sagt die Großmutter des Jungen, der lange im künstlichen Koma lag, nach dessen Ableben: "Er ist nicht einmal gestorben. Sie haben nur die Geräte abgeschaltet."
Doch
was wissen die Naturwissenschaften wirklich über das Bewusstsein?
Auch wenn die Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten große und
z. T. spektakuläre Fortschritte gemacht hat, das Rätsel
des Bewusstseins – Wie kommt Bewusstsein zu Stande und was ist das
überhaupt? - ist weit von einer Lösung entfernt. Auch die
Zusammenhänge zwischen Körper und Bewusstsein – Wie wirkt eines
auf das andere? – sind noch völlig unklar. Es existieren
verschiedene z. T. plausible Theorien, keine aber ist bislang
mit naturwissenschaftlichen Methoden verifiziert worden. Wie
auch, wo noch nicht einmal die Funktionsweise des Gehirns
hinreichend verstanden worden ist. Ist das Bewusstsein wirklich ausschließlich
im Gehirn zu verorten? Kann man ihm überhaupt einen Ort zuweisen?[2]
Vor dem Hintergrund dieser noch weitgehend ungelösten Probleme
scheint die Frage gerechtfertigt, woher denn die den Hirntod erklärenden
Ärzten die Gewissheit nehmen, medizinisch korrekt zu handeln, und ob sie nicht
statt dessen ungefragt und ungebeten aktive Sterbehilfe leisten.
Mir
scheint, dahinter verbirgt sich eine reduktionistische Sichtweise,
die seit der Renaissance unserer abendländischen
Naturwissenschaft als methodologische Grundlage
dient. Reduktionistische Naturwissenschaft versucht die
Welt in ihre Bestandteile, bis in die kleinsten quantenmechanischen
Phänomene zu zerlegen und hernach zu verstehen, wie sich das Ganze
der Welt aus diesen Bestandteilen wieder rekonstruieren
lässt. Aus einer solchen Perspektive erscheint auch der Mensch
als zusammengesetzt aus seinen Teilen – Knochen, Muskeln,
Blutgefäßen, Organen usf., was in der medizinischen Praxis auch
hervorragend funktioniert, so lange es eben nicht um mentale
Phänomene wie das Bewusstsein geht. Systemtheoretische Ansätze
gehen darüber hinaus und können z. T. erklären, wie und warum
das Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Teile, allerdings ist mir
eine Systemtheorie des Bewusstseins nicht bekannt.
Man kann die Problematik auch aus einer etwas anderen
Perspektive betrachten, wenn man sich fragt, ob nicht bei der
Hirntodfeststellung die Tatsache, die vorausgesetzt wird (Tod), erst geschaffen
wird. Der Philosoph John R. Searle hat die Unterscheidung zwischen rohen und
institutionellen Tatsachen eingeführt, um damit „die Beziehungen zwischen
denjenigen Eigenschaften der Welt, die Sache der rohen Physik und Biologie
sind, einerseits, und denjenigen Eigenschaften der Welt, die Sache der Kultur
und Gesellschaft sind,“[3] zu
untersuchen. „Rohe Tatsachen“, schreibt er, “existieren unabhängig von allen
menschlichen Institutionen; institutionelle Tatsachen können nur innerhalb von
menschlichen Institutionen existieren.“ In dieser Terminologie ist die
Konstatierung des Todes einer Person anhand der traditionellen Merkmale die
Feststellung einer rohen Tatsache. Die Person, deren Tod festzustellen ist,
weist die biologischen, chemischen und physikalischen Merkmale einer Leiche
auf. Die Ausstellung des Totenscheins hingegen ist die Schaffung einer
institutionellen Tatsache. Die Feststellung der rohen Tatsache des physischen
Todes bewirkt also traditionell erst die Konstituierung der institutionellen
Tatsache der juristischen Fürtoterklärung mit
allen bekannten gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen wie
Bestattung, Erbschaft usf. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass sich
menschliche Gefühle wie Trauer oder Zorn im Angesicht des Todes einer nahen
Person bei Feststellung der rohen und nicht der institutionellen Tatsache
einstellen. Man kennt die Szene aus Kriminalfilmen: Die
Hauptkommissare teilen der Familie des Mordopfers dessen Tod
mit. Und obwohl damit ja zunächst erst einmal eine institutionelle
Tatsache mitgeteilt wird, gehen die Betroffenen doch davon aus,
dass die rohe Tatsache des Todes ihres Angehörigen feststeht.
Im Fall des Todes hat die rohe Tatsache der
institutionellen Tatsache voraus zu gehen. Sogar im
Fall einer Hinrichtung ist das so, wenn auch der Hinrichtung selbst
die institutionelle Tatsache der Verurteilung voraus geht.
Bei
der Organentnahme zu Transplantationszwecken geschieht nun aber etwas
anderes: Man stellt den kompletten Funktionsausfall von Teilen eines
menschlichen Körpers fest (rohe Tatsache) und erklärt daraufhin den
Hirntod (institutionelle Tatsache). Anschließend werden der
institutionell für hirntot erklärten Person Organe entnommen,
während dessen die Atem- und Kreislauffunktionen dieser Person
künstlich aufrecht erhalten werden. Nach der Organentnahme werden
die Apparate abgeschaltet, es wird der endgültige Tod der Person
festgestellt (rohe Tatsache) und... Jetzt weiß ich leider nicht, wie
es weiter geht. Wird etwa der letztgültige Todeszeitpunkt
protokolliert und damit nochmals der Tod als institutionelle Tatsache
erklärt? Was in jedem Fall passiert und die Angelegenheit aus meiner
Sicht durchaus strittig macht, ist, dass eine einen Teil der Person
betreffende rohe Tatsache (Hirnausfall) zur Konstituierung einer die
ganze Person betreffenden institutionellen Tatsache (Hirntod)
führt, die wiederum qua Transplantationsgesetz die Herbeiführung
der gleichsam letztgültigen und auch außerhalb des Medizinbetriebs
verständlichen rohen Tatsache des schlichten Todes der Person
bewirkt.
Ein letzter Punkt, den ich noch kurz ansprechen möchte, weil er
eng mit unserer westlichen Kulturgeschichte verbunden ist, ist der religiöse
Aspekt. Damit komme ich auf die oben angesprochene Problematik der
reduktionistischen Verortung des Bewusstseins zurück. Ich bin zwar Christ,
glaube aber nicht an die Unterscheidung von Leib und Seele als zweier
selbstständiger Akzidenzien, aus denen der Mensch gleichsam zusammen gesetzt
ist. Im Glauben der alttestamentarischen Hebräer kommt eine solche Vorstellung
nicht vor. Das hebräische Wort, das gewöhnlich mit „Seele" übersetzt wird,
ist nephesh; es steht sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament für Leben
und Seele. Und auch in der biblischen Schöpfungsmythologie der Genesis
symbolisiert das Einhauchen des göttlichen Geistes in den Leib Adams eher das
Erwecken zum Leben als die Implantierung einer substanziellen Seele. Die Lehre von der scharfen Trennung von Leib und Seele ist wohl eher als
griechisch-platonisch-aristotelisches Erbe (u.a. Platons
Ideenlehre) des frühen Christentums anzusehen und hat sich dann vor
allem im europäischen Mittelalter in der kirchlichen Dogmatik
ausgebreitet (Thomismus). Auch
die Berufung auf den Heiligen Geist taugt m. E. wenig, denn im Verständnis der Schrift ist der
menschliche Geist gewiss nicht Teil des Heiligen Geists oder hat direkten
Anteil an diesem, allenfalls kommt der Heilige Geist über den Menschen, kommt
gleichsam zum menschlichen Geist hinzu, wie etwa bei Jesu Taufe im Jordan: „Kaum war Jesus getauft und aus dem Wasser
gestiegen, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine
Taube auf sich herabkommen.“ (Mt. 3,17)
Nach christlichem Verständnis bilden Körper und Seele zeitlebens
eine untrennbare Einheit - das eine gibt es nicht ohne das andere. Dabei wird
die Seele auch nicht irgendwo im Körper verortet, weder im Herzen (dort
allenfalls metaphorisch) noch im Hirn. Der Schweizer Religionsphilosoph Philipp
Stoellger schreibt dazu: „Der Sinn von ›Seele‹
erschließt sich in phänomenologischer Perspektive aus der Sinnlichkeit des
Leibes: offen zu sein, zu spüren, zu fühlen und zu begehren. Als
›Bewegungsprinzip‹ des Menschen ist sie nicht ein separierbares
›Vernunftvermögen‹, sondern basal die Lebendigkeit des Leibes, in der sich die
Seele zeigt.“[4]
und weiter. „Die ganze Frage nach einer ›Verortung‹ der Seele führt aber
bereits in die Irre und ist abwegig, weil die Seele nicht ›etwas im
Menschen‹ ist oder ein Teil dessen (wie die ›Zirbeldrüse‹), sondern sie ist der
ganze Mensch in bestimmter Hinsicht.“[5]
Dies in Betracht
ziehend, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass aus christlicher Sicht der
Eintritt des Hirntods im geschilderten Kontext der Organspendepraxis unter
Erhaltung der Vitalfunktionen keineswegs den Tod der betreffenden Person
markieren kann, denn auch die Verortung der Seele im Hirn entspricht weder dem
biblisch überlieferten noch dem zitierten modernen christlichen Seelenverständnis.
Ein lebendiger Körper, durch welche Kräfte auch immer am Leben gehalten, kann
nicht seelenlos sein; noch weniger ist eine körperlose Seele vorstellbar, denn
worauf sollte sich deren Lebendigkeit wohl beziehen? Zugespitzt ließe sich
sagen, dass Ärzte, die den Hirntod einer Person feststellen, um ihr anschließend Organe zu entnehmen,
diese Person entweder für eine seelenlose organische Masse halten oder aber
bewusst eine Vivisektion vornehmen. Um noch einmal Philipp Stoellger zu
zitieren: „Keiner würde dem Menschen an der Herz-Lungen-Maschine die Seele
absprechen. Aber wenn ein verstorbener Organspender von Maschinen versorgt
wird, wird das unheimlich. Nicht der unsichtbare Hirntod entscheidet im Umgang
über die Seele, sondern der Mangel an eigener Lebendigkeit, der fehlende eigene
Atem, der fehlende Herzschlag oder der gebrochene Blick. Die Seele im ›Hirn‹ zu
verorten ist kontraintuitiv, da dem kein Rhythmus des Lebendigseins anzusehen
oder zu fühlen ist.“[6]
Insofern
ist es verwunderlich, dass beide großen christlichen Konfessionen die gängige
Organspendepraxis ausdrücklich und vorbehaltlos befürworten. Sie lassen sich
auf der Website der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) www.organspende-info.de mit
ihrer gemeinsamen Erklärung von 1990 zitieren: "Aus christlicher Sicht ist
die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und
Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.", führen also auch den
eingangs erwähnten Altruismus als rechtfertigenden Beweggrund an. Im Katholischen Katechismus heißt es gar: „Die Feststellung des Hirntodes ist ein
sicheres Anzeichen dafür, daß der Zerfall des ganzmenschlichen Lebens nicht
mehr umkehrbar ist. Es ist von diesem Zeitpunkt an vertretbar, Organe für eine
Organverpflanzung zu entnehmen.“ Immerhin aber ist inzwischen auch auf Seiten
der Kirchen eine Debatte angestoßen worden.
Ein
Ausweg aus dem Dilemma, das ich versucht habe aufzuzeigen, könnte
sein, die vom Transplantationsgesetz legalisierte Praxis als aktive
Sterbehilfe anzusehen. Diese ist bislang in Deutschland wie
in den allermeisten anderen Ländern verboten, und ich bin weit davon
entfernt, ihre generelle Zulassung zu befürworten. Das widerspräche
meinen Überzeugungen grundlegend. Gleichwohl könnte diese Option,
eingeschränkt auf den konkreten Fall des Hirntods, einen Beitrag zur
rechtlichen und kulturellen Einordnung wie zur ethischen
Bewertung des Sachverhalts leisten, ihm gleichsam seine Ambivalenz
und sein Irritationspotenzial nehmen. Diese Lösung würde freilich
implizieren, dass man sein individuelles Einverständnis zur
Organspende im Organspendeausweis mit der Bitte um aktive Sterbehilfe
im Falle des irreversiblen Komas verknüpfen müsste. Mag sein, dass
dadurch das Spenderaufkommen nicht gerade befördert würde, denn die
dann geforderte Auseinandersetzung mit der Frage nach aktiver
Sterbehilfe wäre für den Einzelnen sicher erheblich
konfliktbehafteter als das dürre Einverständnis zur Organspende,
das man ja ohne großes Nachdenken immer schon aus altruistischen
Beweggründen zu geben bereit sein kann.
Ich jedenfalls werde den neuen, leeren Organspendeausweis vorerst
nicht ausfüllen, den alten aber auch (noch) nicht entsorgen.
[1] Petra
Gehring. Theorien des Todes zur Einführung. Junius, 2010
[2] Wie weit her es mit den letztgültigen Erkenntnissen der Lebenswissenschaften
ist, zeigt u.a. die Genetik. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass die im
Genom kodierte Erbinformation unsere sämtlichen körperlichen Merkmale und
Ausprägungen eindeutig und für das ganze Leben festlegt. Bis zur Entdeckung der
so genannten epigenetischen Veränderungen bei der Zellteilung, die bewirken,
dass Zellen mit dem gleichen Genom sich bei der Teilung zu funktional
unterschiedlichen Zelltypen (Knochen, Haut, Nerven usf.) entwickeln und die
auch mit darüber entscheiden, ob bspw. eine vererbte Krankheitsdisposition zum
Ausbruch der Krankheit führt.
[3] John R.
Searle. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Suhrkamp, 2005
[4] Philipp Stoellger. Die Seele
als Leib und der Leib als Seele. Überlegungen zu einer Grundfigur theologischer
Rede. In: Hermeneutische Blätter 1/2
2005, S. 20ff
[5] ebenda
[6] ebenda
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