Samstag, 9. November 2013

Wann ist tot?

Viele, die leben, verdienen den Tod.
Und manche, die sterben, verdienen das Leben.
Kannst du es ihnen geben?
                                          Gandalf der Graue, Zauberer

Vor einiger Zeit flatterte mir ein Brief meiner Krankenkasse ins Haus. Darin ein  Organ­spendeausweis und die Bitte der Kasse, diesen auszufüllen und künftig stets bei mir zu tra­gen.
Das Thema Organspende ist im öffentlichen Diskurs seit längerem präsent, wobei an zentraler Stelle die Frage nach dem möglichen Missbrauchspotenzial steht, das sich aus strukturellen Gründen im System der Transplantationsmedizin eröffnet. Debattiert wird nicht die Praxis der Organspende selbst, sondern ihre institutionellen Modalitäten, gewissermaßen die Ethik der Transplantationsbürokratie. Was hingegen in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht und wenn überhaupt, dann eher marginal zur Sprache kommt, ist die Frage, ob die Entnahme eines Organs vom toten Körper eines Menschen bzw. vom Körper eines toten Menschen zum Zwecke der Transplantation in den Körper eines anderen, lebenden Men­schen gerechtfertigt ist. Zu offensichtlich scheint auf den ersten Blick der hinter der Bereit­schaft zur Organspende stehende Altruismus, als dass unter modernen, zivilisierten Men­schen darüber ernsthaft diskutiert werden könnte. So suggeriert es auch die laufende Pla­katkampagne der Stiftung Organspende. Wer wollte bestreiten, dass es gut ist, mit der Spende der eigenen Organe anderen Menschen das Leben zu retten, zumal die Organent­nahme erst nach dem eigenen Tod geschieht. Man gibt damit ja nichts von sich, was man zum Leben noch bräuchte, da dieses dann nicht mehr ist und auch nicht mehr sein wird. Und schließlich könnte man selbst unversehens in die Situation geraten, zum eigenen Überleben auf ein Spenderorgan angewiesen zu sein. Die Organspende erscheint somit als solidarischer Akt und die Bereitschaft dazu als solidarische Geste. Der kategorische Impe­rativ Kants wie auch das Fairness-Gebot des Liberalismus lassen sich in geradezu beispiel­hafter Weise anwenden, so dass aus moralischer Sicht nichts dagegen, sondern eher alles dafür spricht, der Bitte meiner Kasse  umgehend nachzukommen, ganz gleich welche insti­tutionellen Ungereimtheiten sich bei der Vergabe von Spenderorganen im Hintergrund auch abspielen mögen.
Trotzdem liegt der besagte Organspendeausweis noch unausgefüllt in meinem Wohnzim­mer. Einerseits trage ich seit vielen Jahren schon einen ausgefüllten bei mir, weil es mir eben aus den genannten Gründen gerechtfertigt schien. Zum anderen aber tauchten, als ich mich mit der konkreten Materie näher zu beschäftigen begann, gewisse Zweifel an ei­nem medizinischen und juristischen Aspekt der Organspendepraxis auf, dem  Hirntod nämlich.
Für mich war es doch einigermaßen überraschend zu erfahren, dass der Hirntod als medi­zinische Todesindikation erst seit 1967 existiert. Bis dahin galten über Jahrhunderte und Jahrtausende allein organische und äußerliche Anzeichen als untrügliche Kriterien dafür, dass der Tod einer Person eingetreten ist: Atem- und Herzstillstand, Leichenstarre, Toten­flecken, einsetzende Verwesung usw. usf. Das Konzept, dass der Tod bereits mit dem irre­versiblen Koma, also mit dem  Ausfall bestimmter Hirnfunktionen eingetreten sei, wurde 1967 von einer Gutachterkommission der Harvard Medical School vorgestellt. Die Darm­städter Philosophin Petra Gehring schreibt dazu: „Der Bericht der Expertengruppe legt eine Anzahl medizinischer Testkriterien fest, die auf den Nachweis des Erlöschens wichti­ger Hirnfunktionen abzielen, so dass bei zügiger Durchführung der Tests der vollständige Tod eines bewusstlosen Menschen am Krankenbett oder auch auf dem Operationstisch na­hezu sofort – und zwar juristisch verbindlich – festgestellt werden kann.“[1] Das seinerzeit neuartige Konzept des Hirntods fand schnell internationale Anerkennung und liegt grund­sätzlich auch der Todesdefinition im deutschen Transplantationsgesetz zu Grunde. In §3 TPG heißt es:
(2) Die Entnahme von Organen oder Geweben ist unzulässig, wenn
1. die Person, deren Tod festgestellt ist, der Organ- oder Gewebeentnahme widerspro­chen hatte,
2.  nicht vor der Entnahme bei dem Organ- oder Gewebespender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirn­stamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist.
So bestimmt es auch die Deutsche Stiftung Organspende (DSO):
Der Hirntod ist definiert als irreversibel erloschene Gesamtfunktion des Gehirns (Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm).
Und weiter legt sie bzw. die Bundesärztekammer die Kriterien für die Hirntodfeststellung und eben jene vom Gesetz geforderten Verfahrensregeln für deren Vollzug fest.
Was mir zu denken gibt und in gewisser Weise auch zu schaffen macht, ist mehrerlei. Da macht zunächst einmal der Sachverhalt stutzig, dass das Konzept des Hirntods in seiner praktizierten Fassung just in der Zeit entwickelt wurde, als die Apparatemedizin auf der einen und die medizinischen Transplantationstechniken auf der anderen Seite einen sol­chen Entwicklungsstand erreicht hatten, dass es möglich wurde, lebende Organe von ko­matösen Patienten zum Zwecke der Transplantation zu entnehmen. Diesen Zusammen­hang belegt die Harvard-Kommission selbst: Patienten mit einer irreversiblen Hirnschädigung könnten dank moderner Apparaturen zur Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen zwar sehr lange am Leben gehalten werden, dies sei jedoch weder den Angehörigen noch den Kliniken bzw. dem Gesundheitssystem insgesamt zuzumuten. Und weiter erleichtere das neue Todeskriterium die Beschaffung von transplantationsgeeigneten Organen. Da liegt der Verdacht nicht fern, dass es bei der Inauguration des Hirntods schlicht um ökono­mische Interessen gegangen sein könnte und diese möglicherweise auch weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Nicht, dass ökonomische Argumentationen verwerflich wä­ren, erst recht  nicht, wenn es um praktische Aspekte des Gesundheitswesens geht. Wir le­ben in einer durch und durch ökonomisierten Gesellschaft mit einem Gesundheitssystem, in dem, auch wenn man es als konkret Betroffener im Einzelfall anders sehen mag, nicht alles, was machbar wäre, auch wirklich wünschens- oder erstrebenswert ist. Ich glaube je­denfalls nicht, dass wir Säle oder Hallen mit irreversibel komatösen Patienten befüllen sollten, deren Kreislauf nur noch mittels aufwändiger Apparaturen am Zirkulieren gehal­ten wird, und die auf diese Weise z. T. über Jahre hinweg in einem Zustand zwischen Leben und Tod  dahin vegetieren, bis schließlich auch die Maschinen die Vitalfunktionen nicht mehr aufrecht erhalten können. Auch das hätte mit einem Tod in Würde, wie ihn sich wohl jeder wünscht,  nichts gemein.
Dann ist da das Kriterium selbst. Der Mensch, die Person, deren Hirntod festgestellt wird,  wird medizinisch gleichsam auf ein einziges, wenn auch höchst wichtiges und hoch komplexes Organ reduziert. An anderer Stelle hatte ich zwar vor einiger Zeit deklariert: „Mein Gehirn ist mein Ich.“, je­doch meinte dieser Satz in jenem Zusammenhang keineswegs, dass sich mein Personsein auf mein Gehirnhaben reduzieren ließe. Es ist doch schon so, dass wir einen Menschen zu­nächst einmal anhand seiner Körperlichkeit als Menschen wahrnehmen. Wir haben ein Sensorium dafür, einen vor uns liegenden, stehenden oder sich bewegenden Menschen eben genau als Menschen, als Artgenossen, als unsereins zu identifizieren, und dieses Sensorium funktioniert, auch ohne dass wir mit dem Betreffenden auch nur ein Wort oder einen Blick gewechselt hätten. Dass der andere Träger eines komplexen, hochentwickelten und zu Bewusstsein fähigen Nervensystems ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Auf einem sehr basalen Wahrnehmungsniveau erkennen Menschen einander als Menschen. 
Im Kern läuft das Hirntodkriterium darauf hinaus, dass, trotzdem unsere basale Wahrneh­mung in einem irreversibel komatösen Patienten noch einen Menschen zu sehen vermag, nach medizinischen Maßstäben vor uns lediglich ein funktional menschenähnlicher, orga­nischer Körper liegt, dessen eigentliches Menschsein mit dem Erlöschen seiner Hirnfunktionen beendet ist und der demzufolge, obzwar biologisch noch lebendig, nicht mehr der Gattung Mensch und gewissermaßen überhaupt keinem bekannten Typ von Lebewesen  angehört. Was aber ist dieser Körper dann? Ein Zombie etwa? Dieses Wesen da ist ja we­der  im eigentlichen Sinne lebendig, noch im eigentlichen Sinne tot, und doch sträubt sich die Intuition dagegen, in ihm etwas anderes zu sehen als einen Menschen. Ethiker, wie etwa der Bielefelder Philosoph Ralf Stoecker, plädieren inzwischen dafür, diesen „Aggre­gatzustand“  mit dem neuen Status eines Sterbenden zu bezeichnen, dem zwar die Men­schenwürde nach Art. 1 GG zusteht, dem aber sehr wohl Organe entnommen werden kön­nen und der anschließend in den eigentlichen Tod versetzt werden darf. Mir erscheint die­ser Vorschlag als begriffliche Sophisterei, der es in erster Linie um die Rechtfertigung der gängigen medizinischen Praxis geht.
Koma nennt man die schwerste Form einer quantitativen Bewusstseinsstörung. Irreversi­bles Koma  bedeutet, dass das Bewusstsein mit den bekannten medizinischen Mitteln nicht wieder hergestellt werden kann. Liegt der Irreversibilität der komplette Funktionsausfall von Großhirn, Kleinhirn und Stammhirn zu Grunde, wird der Hirntod erklärt, weil ohne diese Hirnfunktionen kein autonomes menschliches Leben möglich ist,  und laut Transplantationsgesetz können Organe entnommen werden. Die Entscheidung über den Zeit­punkt der Hirntodfeststellung obliegt allein hochspezialisierten Ärzten bzw. Ärzteteams, denen damit qua Gesetz die Definitionshoheit auch über die Auslegung der Kriterien zuge­wiesen wird. Sie entscheiden gleichsam kontraintuitiv und gänzlich gegen unsere oben ge­schilderte basale Wahrnehmung, die ja auch sie selbst haben müssen. Sie allein entschei­den, wann tot ist. Dieser Art zu Sterben eignet m. E. etwas unangenehm Technisches, zu­mal dem ganzen Prozess eine willkürliche, wenn auch naturwissenschaftlich begründete Setzung zu Grunde liegt. In dem Fernsehfilm "Erlkönig" (2007) sagt die Großmutter des Jungen, der lange im künstlichen Koma lag,  nach dessen Ableben: "Er ist nicht einmal gestorben. Sie haben nur die Geräte abgeschaltet."
Doch was wissen die Naturwissenschaften wirklich über das Bewusstsein? Auch wenn die Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten große und z. T. spektakuläre Fortschritte ge­macht hat, das Rätsel des Bewusstseins – Wie kommt Bewusstsein zu Stande und was ist das überhaupt? - ist weit von einer Lösung entfernt. Auch die Zusammenhänge zwischen Körper und Bewusstsein – Wie wirkt eines auf das andere? – sind noch völlig unklar. Es existieren verschiedene z. T. plausible Theorien, keine aber ist bislang mit naturwissen­schaftlichen Methoden verifiziert worden. Wie auch, wo noch nicht einmal die Funktions­weise des Gehirns hinreichend verstanden worden ist. Ist das Bewusstsein wirklich aus­schließlich im Gehirn zu verorten? Kann man ihm überhaupt einen Ort zuweisen?[2]
Vor dem Hintergrund dieser noch weitgehend ungelösten Probleme scheint die Frage ge­rechtfertigt, woher denn die den Hirntod erklärenden Ärzten die Gewissheit nehmen, medizinisch korrekt zu handeln, und ob sie nicht statt dessen ungefragt und ungebeten aktive Sterbehilfe leisten.
Mir scheint, dahinter verbirgt sich eine reduktionistische Sichtweise, die seit der Re­naissance unserer abendländischen Naturwissenschaft als methodologische Grundlage dient.  Reduktionistische Naturwissenschaft versucht die Welt in ihre Bestandteile, bis in die kleinsten quantenmechanischen Phänomene zu zerlegen und hernach zu verstehen, wie sich das Ganze der Welt aus diesen Bestandteilen wieder  rekonstruieren lässt. Aus ei­ner solchen Perspektive erscheint auch der Mensch als zusammengesetzt aus seinen Teilen – Knochen, Muskeln, Blutgefäßen, Organen usf., was in der medizinischen Praxis auch her­vorragend funktioniert, so lange es eben nicht um mentale Phänomene wie das Bewusst­sein geht. Systemtheoretische Ansätze gehen darüber hinaus und können z. T. erklären, wie und warum das Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Teile, allerdings ist mir eine Sys­temtheorie des Bewusstseins nicht bekannt.
Man kann die Problematik auch aus einer etwas anderen Perspektive  betrachten, wenn man sich fragt, ob nicht bei der Hirntodfeststellung die Tatsache, die vorausgesetzt wird (Tod), erst geschaffen wird. Der Philosoph John R. Searle hat die Unterscheidung zwi­schen rohen und institutionellen Tatsachen eingeführt, um damit „die Beziehungen zwi­schen denjenigen Eigenschaften der Welt, die Sache der rohen Physik und Biologie sind, einerseits, und denjenigen Eigenschaften der Welt, die Sache der Kultur und Gesell­schaft sind,“[3] zu untersuchen. „Rohe Tatsachen“, schreibt er, “existieren unabhängig von allen menschli­chen Institutionen; institutionelle Tatsachen können nur innerhalb von menschli­chen In­stitutionen existieren.“ In dieser Terminologie ist die Konstatierung des Todes ei­ner Per­son anhand der traditionellen Merkmale die Feststellung einer rohen Tatsache. Die Per­son, deren Tod festzustellen ist, weist die biologischen, chemischen und physikalischen Merkmale einer Leiche auf. Die Ausstellung des Totenscheins hingegen ist die Schaffung einer institutionellen Tatsache. Die Feststellung der rohen Tatsache des physischen Todes bewirkt also traditionell erst die Konstituierung der institutionellen Tatsache der juristi­schen Fürtoterklärung mit allen bekannten gesellschaftlichen  und rechtlichen Folgen wie Bestattung, Erbschaft usf. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass sich menschliche Gefühle wie Trauer oder Zorn im Angesicht des Todes einer nahen Person bei Feststellung der rohen und nicht der institutionellen Tatsache einstellen. Man kennt die Szene aus Kriminalfilmen: Die Hauptkommissare teilen der Familie des Mordopfers des­sen Tod mit. Und obwohl damit ja zunächst erst einmal eine institutionelle Tatsache mit­geteilt wird, gehen die Betroffenen doch davon aus, dass die rohe Tatsache des Todes ihres Angehörigen feststeht. Im Fall des Todes hat die rohe Tatsache der institutio­nellen  Tatsache voraus zu gehen. Sogar im Fall einer Hinrichtung ist das so, wenn auch der Hinrichtung selbst die institutionelle Tatsache der Verurteilung voraus geht.
Bei der Organentnahme zu Transplantationszwecken geschieht nun aber etwas anderes: Man stellt den kompletten Funktionsausfall von Teilen eines menschlichen Körpers fest (rohe Tatsache) und erklärt daraufhin den Hirntod (institutionelle Tatsache). Anschlie­ßend werden der institutionell für hirntot erklärten Person Organe entnommen, während dessen die Atem- und Kreislauffunktionen dieser Person künstlich aufrecht erhalten werden. Nach der Organentnahme werden die Apparate abgeschaltet, es wird der endgültige Tod der Person festgestellt (rohe Tatsache) und... Jetzt weiß ich leider nicht, wie es weiter geht. Wird etwa der letztgültige Todeszeitpunkt protokolliert und damit nochmals der Tod als institutionelle Tatsache erklärt? Was in jedem Fall passiert und die Angelegenheit aus meiner Sicht durchaus strittig macht, ist, dass eine einen Teil der Person betreffende rohe Tatsache (Hirnausfall) zur Konstituierung einer die ganze Person betreffenden institutionellen Tat­sache (Hirntod) führt, die wiederum qua Transplantationsgesetz die Herbeiführung der gleichsam letztgültigen und auch außerhalb des Medizinbetriebs verständlichen rohen Tat­sache des schlichten Todes der Person bewirkt. 
Ein letzter Punkt, den ich noch kurz ansprechen möchte, weil er eng mit unserer westli­chen Kulturgeschichte verbunden ist, ist der religiöse Aspekt. Damit komme ich auf die oben angesprochene Problematik der reduktionistischen Verortung des Bewusstseins zu­rück. Ich bin zwar Christ, glaube aber nicht an die Unterscheidung von Leib und Seele als zweier selbstständiger Akzidenzien, aus denen der Mensch gleichsam zusam­men gesetzt ist. Im Glauben der alttestamentarischen Hebräer kommt eine solche Vorstel­lung nicht vor. Das hebräische Wort, das gewöhnlich mit „Seele" übersetzt wird, ist nephesh; es steht sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament für Leben und Seele. Und auch in der biblischen Schöpfungsmythologie der Genesis symbolisiert das Einhauchen des göttlichen Geistes in den Leib Adams eher das Erwecken zum Leben als die Implantie­rung einer substanziellen Seele. Die Lehre von der scharfen Trennung von Leib und Seele ist wohl eher als griechisch-pla­tonisch-aristotelisches Erbe (u.a. Platons Ideenlehre) des frühen Christentums anzusehen und hat sich dann vor allem im europäischen Mittelalter in der kirchlichen Dogmatik ausgebreitet (Thomismus). Auch die Berufung auf den Heiligen Geist taugt m. E. wenig, denn  im Verständnis der Schrift ist der menschliche Geist gewiss nicht Teil des Heiligen Geists oder hat direkten Anteil an diesem, allenfalls kommt der Heilige Geist über den Menschen, kommt gleichsam zum menschlichen Geist hinzu, wie etwa bei Jesu Taufe im Jordan: Kaum war Jesus getauft und aus dem Wasser gestiegen, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen.“ (Mt. 3,17)  
Nach christlichem Verständnis bilden Körper und Seele zeitlebens eine untrennbare Einheit - das eine gibt es nicht ohne das andere. Dabei wird die Seele auch nicht irgendwo im Körper verortet, weder im Herzen (dort allenfalls metaphorisch) noch im Hirn. Der Schweizer Religionsphilosoph Philipp Stoellger schreibt dazu: Der Sinn von ›Seele‹ erschließt sich in phänomenologischer Perspektive aus der Sinnlichkeit des Leibes: offen zu sein, zu spüren, zu fühlen und zu begehren. Als ›Bewegungsprinzip‹ des Menschen ist sie nicht ein separierbares ›Vernunftvermögen‹, sondern basal die Lebendigkeit des Leibes, in der sich die Seele zeigt.“[4] und weiter. „Die ganze Frage nach einer ›Verortung‹ der Seele führt aber bereits in die Irre und ist abwegig, weil die Seele nicht ›etwas im Menschen‹ ist oder ein Teil dessen (wie die ›Zirbeldrüse‹), sondern sie ist der ganze Mensch in bestimmter Hinsicht.“[5]
Dies in Betracht ziehend, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass aus christlicher Sicht der Eintritt des Hirntods im geschilderten Kontext der Organspendepraxis   unter  Erhaltung der Vitalfunktionen keineswegs den Tod der betreffenden Person markieren kann, denn auch die Verortung der Seele im Hirn entspricht weder dem biblisch überlieferten noch dem zitierten modernen christlichen Seelenverständnis. Ein lebendiger Körper, durch welche Kräfte auch immer am Leben gehalten, kann nicht seelenlos sein; noch weniger ist eine körperlose Seele vorstellbar, denn worauf sollte sich deren Lebendigkeit wohl beziehen? Zugespitzt ließe sich sagen, dass Ärzte, die den Hirntod einer Person feststellen,  um ihr anschließend Organe zu entnehmen, diese Person entweder für eine seelenlose organische Masse halten oder aber bewusst eine Vivisektion vornehmen. Um noch einmal Philipp Stoellger zu zitieren: „Keiner würde dem Menschen an der Herz-Lungen-Maschine die Seele absprechen. Aber wenn ein verstorbener Organspender von Maschinen versorgt wird, wird das unheimlich. Nicht der unsichtbare Hirntod entscheidet im Umgang über die Seele, sondern der Mangel an eigener Lebendigkeit, der fehlende eigene Atem, der fehlende Herzschlag oder der gebrochene Blick. Die Seele im ›Hirn‹ zu verorten ist kontraintuitiv, da dem kein Rhythmus des Lebendigseins anzusehen oder zu fühlen ist.“[6]
Insofern ist es verwunderlich, dass beide großen christlichen Konfessionen die gängige Organspendepraxis ausdrücklich und vorbehaltlos befürworten. Sie lassen sich auf der Website der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) www.organspende-info.de mit ihrer gemeinsamen Erklärung von 1990 zitieren: "Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.", führen also auch den eingangs erwähnten Altruismus als rechtfertigenden Beweggrund an. Im Katholischen Katechismus heißt es gar: „Die Feststellung des Hirntodes ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß der Zerfall des ganzmenschlichen Lebens nicht mehr umkehrbar ist. Es ist von diesem Zeitpunkt an vertretbar, Organe für eine Organverpflanzung zu entnehmen.“ Immerhin aber ist inzwischen auch auf Seiten der Kirchen eine Debatte angestoßen worden.
Ein Ausweg aus dem Dilemma, das ich versucht habe aufzuzeigen, könnte sein, die vom Transplantationsgesetz legalisierte Praxis als aktive Sterbehilfe anzusehen. Diese ist bislang in Deutschland wie in den allermeisten anderen Ländern verboten, und ich bin weit davon entfernt, ihre generelle Zulassung zu befürworten. Das widerspräche meinen Überzeugungen grundlegend. Gleichwohl könnte diese Option, eingeschränkt auf den konkreten Fall des Hirntods, einen Beitrag zur rechtlichen und kulturellen Einord­nung wie zur ethischen Bewertung des Sachverhalts leisten, ihm gleichsam seine Ambivalenz und sein Irritationspotenzial nehmen. Diese Lösung würde freilich implizieren, dass man sein individuelles Einverständnis zur Organspende im Organspendeausweis mit der Bitte um aktive Sterbehilfe im Falle des irreversiblen Komas verknüpfen müsste. Mag sein, dass dadurch das Spenderaufkommen nicht gerade befördert würde, denn die dann geforderte Auseinandersetzung mit der Frage nach aktiver Sterbehilfe wäre für den Einzelnen sicher erheblich konfliktbehafteter als das dürre Einverständnis zur Organspen­de, das man ja ohne großes Nachdenken immer schon aus altruistischen Beweggründen zu geben bereit sein kann.
Ich jedenfalls werde den neuen, leeren Organspendeausweis vorerst nicht ausfüllen, den alten aber auch (noch) nicht entsorgen.



[1] Petra Gehring. Theorien des Todes zur Einführung. Junius, 2010
[2] Wie weit her es mit den letztgültigen Erkenntnissen der Lebenswissenschaften ist, zeigt u.a. die Genetik. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass die im Genom kodierte Erbinformation unsere sämtlichen körperlichen Merkmale und Ausprägungen eindeutig und für das ganze Leben festlegt. Bis zur Entdeckung der so genannten epigenetischen Veränderungen bei der Zellteilung, die bewirken, dass Zellen mit dem gleichen Genom sich bei der Teilung zu funktional unterschiedlichen Zelltypen (Knochen, Haut, Nerven usf.) entwickeln und die auch mit darüber entscheiden, ob bspw. eine vererbte Krankheitsdisposition zum Ausbruch der Krankheit führt.
[3] John R. Searle. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Suhrkamp, 2005
[4] Philipp Stoellger. Die Seele als Leib und der Leib als Seele. Überlegungen zu einer Grundfigur theologischer Rede. In: Hermeneutische Blätter 1/2  2005, S. 20ff
[5] ebenda
[6] ebenda

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