Betrachtungen nach der Europawahl 2024
Mit entsprechendem Profit
wird Kapital kühn.
10 Prozent sicher, und man
kann es überall anwenden;
20 Prozent, es wird lebhaft;
50 Prozent, positiv
waghalsig;
für 100 Prozent stampft es
alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß;
300 Prozent und es existiert
kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.
Karl Marx
Bei der Europawahl am 9. Juni erzielte die AfD mit 15,9 % zwar ein Ergebnis, das, je nach eigener politischer Positionierung, unter den Erwartungen oder unter den Befürchtungen lag, immerhin weit entfernt von den 31,4 % des französischen Rassemblement National (RN) oder den 28,8 % der Fratelli d'Italia (FI), nichtsdestotrotz ist man alarmiert, denn
- die AfD wurde zweitstärkste Partei in Deutschland insgesamt,
- sie wurde stärkste Partei in den fünf ostdeutschen Ländern sowie bei den gleichzeitig abgehaltenen Kommunalwahlen in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt,
- die linke Mitte (SPD, Grüne) brach dramatisch ein,
- Sahra Wagenknechts „linke“ Renegatenpartei holte gerade einmal 160.000 Stimmen von der AfD, von SPD und Linker zusammen jedoch über eine Million.
Die AfD sowie die o. g. RN und FI werden gemeinhin, für meine
Begriffe verharmlosend, als rechtspopulistische Parteien bezeichnet – Habermas
nannte sie 2016 den „Saatboden für einen
neuen Faschismus“. Populistisch meint so viel wie volksnah, wobei die Parteien
stets selbst definieren, was Volk ist und wer dazu gehört. Dieser Aspekt ist
publizistisch hinreichend beleuchtet worden und braucht hier nicht thematisiert
zu werden. Im Folgenden soll stattdessen auf zwei Fragen eingegangen werden,
die m. E. von Bedeutung für den Umgang mit den Rechtspopulisten sind. Das ist zum einen die Frage danach, von wem und warum
sie gewählt werden, und zum anderen die, wessen Interessen sie objektiv
vertreten. Letztere wurde bereits 2019 im Blogpost Cui Bono? behandelt und soll nun
weiter vertieft werden.
Die alte und die neue Mittelklasse
In der 2019 erschienene Aufsatzsammlung „Das Ende der
Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ des Soziologen
Andreas Reckwitz[1]
widmet sich der zweite Aufsatz einer Klassentheorie. Unter der Überschrift „Von
der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft: Neue
Mittelklasse, alte Mittelklasse, prekäre Klasse“ analysiert Reckwitz die sich
seit den 1970er Jahren langsam aber stetig vollziehende Ausdifferenzierung der
westlichen Gesellschaften in drei sozioökonomisch und soziokulturell
unterschiedene Klassen. Dass dieser Unterscheidung keine marxistische
Klassendefinition zu Grunde liegt, ist dem Autor wohl bewusst, wie er in einer
Fußnote anmerkt. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, seien Reckwitz´ Überlegungen
hier kurz referiert.
Zunächst diagnostiziert Reckwitz drei maßgebliche Entwicklungen
der vergangenen Jahrzehnte:
- Den Wandel von der Industriegesellschaft der Nachkriegsperiode bis etwa 1973/74 hin zur postindustriellen Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch die Verlagerung industrieller Produktionskapazitäten in die Schwellen- und vormaligen Entwicklungsländer im Zuge der beschleunigten Globalisierung seit den 1990er Jahren, die einerseits zu einer Deindustrialisierung und dementsprechend zum Schrumpfen des klassischen Industrieproletariats und anderseits zur Ausweitung der Dienstleistungssektoren geführt hat.
- Die Bildungsexpansion, die, auch durch das Aufstiegsversprechen der Sozialdemokratie, dazu geführt hat, dass heute mehr Menschen einen akademischen Abschluss anstreben als eine klassische Berufsausbildung.
- Den Wertewandel in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem in dem durch die Bildungsexpansion angewachsenen akademischen Milieus, weg von einem kulturell relativ homogenen Kommunitarismus hin zu einem universalistischen und multikulturellen Kosmopolitismus.
Diese,
natürlich eng miteinander verzahnten Entwicklungen haben nach Reckwitz die
sozioökonomisch unterhalb der Oberschicht der Superreichen angesiedelten 99 %
der Bevölkerung der westlichen Nationalstaaten in drei Klassen aufgespalten –
neue Mittelklasse, neue Unterklasse und, zwischen ihnen, alte Mittelklasse.
Die neue Mittelklasse, die
zugleich eine Akademikerklasse ist, befindet sich im Zentrum aller drei
genannten ökonomisch-kulturellen Wandlungsprozesse und stellt sich damit als
die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte dar.
Sie ist die Trägerin der Bildungsexpansion ebenso wie der
Postindustrialisierung, in deren Wissensökonomie sie in der Regel beschäftigt
ist. Zugleich ist sie die wichtigste Vertreterin des mit dem Wertewandel
verknüpften Liberalisierungsprozesses.
Die
neue Unterklasse wird gebildet von den Verlierern der
Deindustrialisierung und der Bildungsexpansion, von denen, die seit den 1980er
Jahren aus der alten Mittelschicht herausgefallen sind oder noch nie dazu
gehörten. Diese Gruppe findet sich vor allem in deindustrialisierten,
strukturschwachen Regionen, ob in Nordfrankreich, dem Mittleren Westen der USA
oder Teilen Ostdeutschlands. Ein anderer, wichtiger Teil der prekären Klasse
ist das sogenannte Dienstleistungsproletariat (bspw. Care-Arbeit, Logistik,
Lieferdienste). Diese ist konzentriert auf die Metropolregionen, die die
entsprechenden Arbeitsplätze in großer Zahl anbieten.
Die
alte Mittelklasse ist, was von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft
(Helmut Schelsky) der 1950er und 1960er Jahre übriggeblieben ist. Die alte Mittelklasse umfasst vor allem Personen in
mittleren beruflichen Positionen mit mittleren Bildungsabschlüssen:
Facharbeiter, Angestellte mit Berufsausbildung, die klassische Büro- und
Dienstleistungstätigkeiten ausüben, Beamte im mittleren Dienst, selbständige
Handwerker. Ökonomisch sind die Angehörigen dieser Gruppe, anders als die der neuen
Unterklasse, nicht abgehängt, wenn sie auch nicht zu den Gewinnern der
Wandlungsprozesse zu zählen sind, sondern sich selbst eher auf der
Verliererseite verorten. Allerdings, und das ist höchst relevant, empfinden sie
sich häufig als soziokulturell und politisch unterprivilegiert. Im Unterschied
zur auf die Metropolregionen konzentrierten neuen ballt sich die alte
Mittelklasse in den Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen Raum. Dazu Reckwitz:
Wichtiger noch als ihr
materieller Status ist aber die Tatsache, dass die alte Mittelklasse kulturell
in die Defensive geraten ist: Ihre Lebensprinzipien haben ihre vormalige
gesellschaftliche Dominanz verloren und ihre Lebenswelten verlagern sich vom gesellschaftlichen
Zentrum an die Peripherie. Hier wirken mehrere Dimensionen einer mehr oder
minder subtilen kulturellen Entwertung. Man leidet nicht unbedingt unter einer
objektiv schlechten Situation, sondern unter einer, die sich im Vergleich zur
Vergangenheit und zur neuen Mittelklasse gefühlt relativ verschlechtert hat…
Diese alte Mittelklasse ist das potenzielle Wählerreservoir
der AfD und anderer populistischer Parteien, ergänzt um jenen Teil der prekären
Klasse, der überhaupt noch politisch interessiert ist und an Wahlen teilnimmt. Ihre Sorgen (um sozioökonomischen Abstieg,
kulturelle Überfremdung, Fremdbestimmung durch abgehobene Eliten, Verfall der
Sitten etc.) und Ressentiments werden passgenau bedient, wenn nicht gar bewusst
geschürt. Es genügt ein Blick in das Grundsatz- und das EU-Wahlprogramm der AfD,
worauf zurückzukommen sein wird.
Nun
wird man einwenden, dass es im Osten jene breite Mittelschicht der alten
Bundesrepublik ja nie gegeben habe, und das stimmt auch. Was es allerdings
gegeben hat, war das Versprechen, mit der deutschen Einheit in diese
aufgenommen zu werden, just zu der Zeit, als sie bereits am Verschwinden war. Dieses
Versprechen traf auf eine, trotz sozialistischer Propaganda, in weiten Teilen
kleinbürgerlich sozialisierte Bevölkerung („das Land der kleinen Leute“, wie
Günther Gauß es nannte), in der die Werte der alten Mittelklasse - Fleiß, Selbstdisziplin,
Ordnung und, vor allem in den soziokulturell eher traditionellen Regionen
Sachsens und Thüringens (einschl. des Südens von Sachsen-Anhalt), Familienzusammenhalt
sowie räumliche und soziale Verwurzelung – mindestens genauso lebensbestimmend
waren wie im Westen. Es ist nur zu verständlich, dass in diesen Milieus nun weder
eine akademische und kosmopolitische Linke (Sahra Wagenknechts „Selbstgerechte“)
noch eine ihre einstmalige Stammwählerschaft - die hart arbeitende
Mittelschicht - zugunsten der neuen Unterklasse verraten habende
Sozialdemokratie mit Zustimmung in Form von Wählerstimmen rechnen können.
Wem nützt es?
Im Blogpost Cui Bono? wurde geltend gemacht, dass die AfD eine
bürgerliche Partei in zweierlei Hinsicht ist. Sie ist zum einen, wie wir
gesehen haben, eine Partei des Kleinbürgertums der alten Mittelklasse. In
dieser Rolle ist sie nicht die einzige Partei – auch und sogar mehr noch erheben
CDU und CSU diesen Anspruch als traditionelle Volksparteien der Mitte, was sich
auch in den z. T. erbittert geführten parteiinternen Auseinandersetzungen um
„Brandmauern nach rechts“ zeigt. Zum anderen wirkt die AfD, wie letztlich alle
bürgerlichen Parteien, systemstabilisierend, indem sie die latente und zuweilen
akute (siehe Corona) Protesthaltung des sich aus welchen Gründen auch immer
benachteiligt fühlenden Kleinbürgers aufnimmt und in eine aus Sicht des Kapitals
das Wirtschaftssystem nicht gefährdende Richtung lenkt, denn solange mit denen
da oben, den Eliten, nicht die Kapitaleigner und Manager gemeint sind,
besteht für diese keine Gefahr. Besonders deutlich wird dies in der energie-,
umwelt- und verkehrspolitischen Programmatik der Partei.
Das
Grundsatzprogramm
aus dem Jahr 2016 behandelt in 14 Kapiteln die Themen Demokratie und
Grundwerte, Europa und EURO, Innere Sicherheit und Justiz, Außen- und
Sicherheitspolitik, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Familien und Kinder,
Kultur, Sprache und Identität, Schule, Hochschule und Forschung, Einwanderung,
Integration und Asyl, Wirtschaft, digitale Welt und Verbraucherschutz, Finanzen
und Steuern, Energiepolitik, Natur- und
Umweltschutz, Land- und Forstwirtschaft, Infrastruktur, Wohnen und Verkehr. Die
grundlegend vertretenen und den parteilichen Zusammenhalt stiftenden Werte
werden bereits in der Präambel verdeutlicht.
Als freie Bürger treten wir
ein für direkte Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, soziale
Marktwirtschaft, Subsidiarität, Föderalismus, Familie und die gelebte Tradition
der deutschen Kultur.
Man
sieht sich in der Tradition der Revolutionen von 1848 (Nationalstaat von unten)
und 1989 (Wir sind das Volk.), gibt diesem Bezug aber die bekannte
völkische Note.
Wir sind offen gegenüber der
Welt, wollen aber Deutsche sein und bleiben. Wir wollen die Würde des Menschen,
die Familie mit Kindern, unsere abendländische christliche Kultur, unsere
Sprache und Tradition in einem friedlichen, demokratischen und souveränen
Nationalstaat des deutschen Volkes dauerhaft erhalten.
Bis
zum Kapitel 12 Energiepolitik findet sich im Grundsatzprogramm kaum eine
Position, die nicht in dieser oder jener Art auch von einer x-beliebigen national-
oder wertekonservativen Partei vertreten werden könnte (zum Konservatismus
siehe den Blogpost Cui Bono?), zumal einige der Forderungen zur Asyl-
und Einwanderungspolitik in Kapitel 9 inzwischen von den Parteien der Mitte
übernommen wurden. Bei der Energiepolitik allerdings wird es interessant.
Zunächst geht es massiv gegen den Klimaschutz.
Unter dem Schlagwort
„Klimaneutrales Deutschland 2050“ durch „Dekarbonisierung“ missbraucht die
deutsche Regierung die steigende CO2-Konzentration zur „Großen
Transformation“ der Gesellschaft, mit der Folge, dass die persönliche und
wirtschaftliche Freiheit massiv eingeschränkt wird.
Anschließend
wird die Abschaffung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes gefordert,
wobei letzteres inzwischen wirklich außer Kraft gesetzt und durch das
Gebäudeenergiegesetz ersetzt wurde, und es werden Bioenergie negativ sowie Fracking
und Kernenergie positiv thematisiert. Wie sehr sich die AfD seither auch auf
dem Feld der Energie- und Klimapolitik radikalisiert hat, zeigt ihr Programm zur Europawahl 2024. Ebenfalls im Kapitel 12 Klima,
Energie und Digitalisierung findet man die folgenden Ausführungen.
Fossile
Energieträger waren und sind die Grundlage unseres Wohlstands. Die Behauptung
einer Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel basiert nicht auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie ist vielmehr eine politische Agenda zur
Besteuerung der Luft zum Atmen und damit der Durchsetzung gesellschaftlicher
Umgestaltungen (Große Transformation). Es ist ein ökosozialistisches Projekt,
welches zwangsläufig zur dramatischen Reduktion des Wohlstandes und zur
totalitären Freiheitseinschränkung führt. Der jetzt schon schwindende Wohlstand
und unsere mangelnde Zukunftsfähigkeit sind eine direkte Folge der aus rein
politischen Gründen betriebenen Dekarbonisierung. Befangen in der Ideologie der
großen Gesellschaftstransformation, begibt sich die EU immer stärker auf einen
internationalen Sonderweg. Der globale Haupttreiber dieser fatalen Ideologie
sind die nicht demokratisch legitimierten Brüsseler Bürokraten mit ihrem Green
Deal.
Das Maßnahmenpaket „Fit for 55“ der EU-Kommission, mit dem die
Reduktion des CO2-Ausstoßes um 55 % bis 2030 erreicht werden soll,
wird als ökosozialistische Umverteilung apostrophiert.
Mittels der
medial befeuerten Klimakatastrophen-Vorhersage will „Fit für 55“ nicht nur eine
Energiewende, sondern auch eine Konsumwende, eine Ressourcenwende, eine
Mobilitätswende, eine Ernährungswende und eine industrielle Wende umsetzen. Das
geplante Verbot von Öl- und Gasheizungen ist ein schwerer Eingriff in die
Eigentums- und Grundrechte der Bürger, den die AfD politisch bekämpft.
Es folgt eine Liste von Forderungen, die wohl jeden Ökoaktivisten
schaudern lassen.
- Abschaffung aller Klimaschutzgesetze auf nationaler und europäischer Ebene sowie Stopp der Programme „Green Deal“, „Fit für 55“ und anderer CO₂-Reduktionspläne der Brüsseler Bürokraten.
- Abschaffung des EU-Emissionshandels und kein „CO₂-Ausgleich“ an den EU-Außengrenzen.
- Renationalisierung der Energiepolitik.
- Jeder Staat muss seine Versorgung mit Strom selbst sicherstellen.
- Streichung der Subventionen für die volatile Solar- und Windenergie.
- Diversifizierung der Energielieferanten (Staaten und Techniken).
- Aufklärung der Nord-Stream-Anschläge und Reparatur der beschädigten Leitungen.
- Kernenergieforschung wieder aufnehmen. Deutschland und Europa müssen wieder zu den führenden Anbietern im Bereich der Kernenergie werden. Gerade mit Blick auf den politisch herbeigeführten Abbau von deutschen industriellen Fähigkeiten im Bereich der Kerntechnik sind hierfür europäische und internationale Forschungskooperationen anzustreben.
- Wiederaufnahme der Stromproduktion in den sechs seit dem Ende des Jahres 2021 außer Dienst gestellten deutschen Kernkraftwerken.
- Regulatorische Benachteiligung von Kernenergie aufheben (z. B. Taxonomie).
- Kohleverstromung (inkl. Braunkohle) erhalten, mindestens bis ausreichend Kernreaktoren am Netz sind.
Nicht
unerwartet wird ähnliches im Kapitel 9 des Wahlprogramms zur Verkehrspolitik
gefordert.
Die AfD unterstützt und
fördert den motorisierten Individualverkehr als beliebteste und modernste
Möglichkeit der Fortbewegung. Intelligente Technik und stauvermeidende
Verkehrsführung schützen dabei die Umwelt. Wissenschaftlich mangelhaft
begründete Maßnahmen, wie z. B. Dieselfahrverbote oder die Einrichtung von
Umweltspuren, erreichen dies nicht. Gleichzeitig fordert die AfD den Erhalt und
Ausbau von innerstädtischen Fahrspuren und Parkraum zur Vermeidung von
wachsendem Verkehrschaos sowie zum Schutz der Attraktivität des Einzelhandels.
Die AfD lehnt ein generelles Tempolimit auf Bundesautobahnen strikt ab.
Das
soll genügen, es geht hier auch nicht um jedes Detail. Die grundsätzliche
Tendenz der AfD-Positionen ist hinreichend erkennbar. Und es sollte auch
erkennbar sein, dass die Partei sich mit ihren Forderungen nur vordergründig als
Sachwalterin der kurzfristigen subjektiven Interessen ihrer potenziellen Wählerschaft
aus den Reihen der alten Mittelklasse und der prekären Klasse stilisiert. Sollte
sie auf EU-Ebene im Bunde mit anderen Parteien des rechtspopulistischen
Spektrums, womöglich aber auch zusammen mit linkspopulistischen Parteien wie
dem BSW an Einfluss gewinnen, würde sie objektiv zur parlamentarischen Stütze
nicht der alten Mittelklasse, sondern der alten fossilen Industrien, der
Energiekonzerne, der Gas- und Kohleverstromer und der von ihnen abhängigen
energieintensiven Produzenten von Stahl, Aluminium oder Zement.
Vielleicht
ist das von ihr gar nicht beabsichtigt, auch wenn es so aussieht, als hätten einige
ihrer Mandatsträger eine gewisse Nähe zu ausländischen Unternehmungen des
fossilen Sektors. Noch meidet die deutsche Wirtschaft die Nähe zur Partei. 2020 kamen lediglich
19% des Parteibudgets aus Spenden[2].
Das kann sich jedoch schnell ändern, wenn, siehe Eingangszitat, die entsprechende
Profirate zu erwarten ist. Auch die Nationalsozialisten wurden erst seit dem
Februar 1933, kurz vor der „Machtergreifung“, signifikant von der deutschen
Großindustrie unterstützt.
***
Die
Alternative für Deutschland ist eine große Mogelpackung. Außer einem
antiquierten Nationalismus á la Trumps MAGA, nur eben in schäbigem völkisch-deutschen
Gewand, hat sie keinen „Markenkern“. Den intelligenteren unter ihren
exponierten Vertretern wie Alice Weidel oder Mark Jongen nimmt man nicht einmal
ab, dass sie ernsthaft hinter ihren eigenen kruden Einlassungen stehen. In
ihren vorderen Reihen sieht man keine Überzeugungstäter, stattdessen einen
Haufen politischer Glücksritter, die auf dem Ticket eines regressiven
Zeitgeists[3]
zu Mandaten, Ämtern und Pöstchen kommen wollen. Die Folgen des so ermogelten
Erfolgs haben vorerst die armen Würstchen in der Kommunalpolitik zu tragen, wie
jener Robert Sesselmann, der nach den Höhen des Wahlkampfs als Landrat des
Kreises Sonneberg seit nunmehr einem Jahr die Mühen der realbürokratischen
Ebene erleben darf.
[1] Andreas Reckwitz. Das Ende der Illusionen. Politik,
Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp 2019
[2] Quelle:
Bundeszentrale für politische Bildung https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/zahlen-und-fakten/42237/einnahmen-und-ausgaben-der-parteien/
[3] Die große
Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit.
Hrsg. Heinrich Geiselberger. Suhrkamp 2017